ein Artikel von Andrei Piontkowski
„Was für Pappnasen!“- sagte Hitler in München im Kreis der engsten Parteigenossen, als Chamberlain und Daladier die Residenz „Führerbau“ verlassen hatten. Deutschlands Reichskanzler hatte zugleich Recht und Unrecht. Das taktische Rechthaben hatte ihn zu einer Serie von grossen Militärerfolgen geführt, sein strategischer Fehler – zur finalen Katastrophe.
Ja, der demokratische Westen war nie, weder im XX. noch im XXI. Jahrhundert, ein Musterbeispiel für Tapferkeit, Prinzipientreue, er ging oft Kompromisse ein und schloss Abmachungen mit Diktatoren, verriet, und nicht bloß einmal, seine Verbündeten. Nicht unwichtig ist dabei aber die Tatsache, dass der Wert eines Menschenlebens im Westen viel höher als in anderen Populationen ist, was die westlichen Anführer ausgesprochen konservativ beim Verbrauch des menschlichen Materials macht.
So oder so besitzen die Diktatoren aller Schattierungen einen gehörigen psychologischen Vorteil in der ersten Etappe ihrer politischen Konfrontation mit dem Westen. Die Kunst eines kalkulierten Diktators besteht darin, aus diesem Vorteil maximale Dividenden herauszuschlagen, ohne diesen Vorteil als eine ewige Rückgratlosigkeit des dekadenten geduldigen Westen zu verstehen. Die rote Linie nicht zu überschreiten. Schließlich hatte Hitler nicht der ungestüme Churchill den Krieg erklärt, sondern der blasse „jämmerliche“ Neville Chamberlain.
„Was für Pappnasen, Dima!“- sagte wohl am 12. August 2008 Putin seinem treuen Präsidenten nach dem Besuch des französischen Staatsoberhaupts Nicolas Sarkozy. Wunderbar wurde es in der „hochgestellten Quelle“ Kommersant dargestellt: „Jede zahnlose Resolution am 1. September wird unser Sieg sein. Es existiert die Meinung, dass wenn wir den Westen durchdrücken, das Spiel dann nach unseren Regeln laufen wird“. Genau so, faktisch wortwörtlich, räsonierte man in der deutschen Reichskanzlei 70 Jahre zuvor. Und welcher „russischer Patriot“ sprach an jenen Tagen 2008 nicht von Sevastopol, Krim und Nordkasachstan?
Die Komposition, die Rhetorik, die Argumentation der triumphalen Krim-Rede des Führers am 18. März 2014 war unverblümt von den hitlerischen Sudeten-Reden abgeschrieben. In derselben Rede testete der nationale Führer auch erstmals den Geschmack des hitlerischen Ausdrucks „Nationalverräter“. Seitdem hört man diesen oft. Der heuchlerische und zynische Westen, den unser Arier-Stamm seit Jahrhunderten mit Hass und Liebe schlitzäugig beobachtet, schlug im April 2014 dem Führer vor: Lassen wir die Krim beiseite, die restliche Ukraine wird ein unabhängiger blockfreier Staat in Russlands Einflusszone, wie einst Finnland bei der Sowjetunion. „Was für Pappnasen!“- rief wohl wieder Putin aus. Er holte schon für was viel Grösseres aus, setzte sich ein neues geisteshebendes Ziel: „Neurussland“, 10-12 russische Gebiete, die angeblich rechtswidrig an die Ukraine durch Schidobanderowzy (Anm.d.Red.: ein nationalistischer Jargon-Ausdruck in Russland, aus zwei Worten „Schid“(„Jude“) und „Banderowzy“- angeblich würden sie in der Ukraine alles entscheiden) oder Schidobolschewiken übergeben worden waren.
Man darf das Grab solcher Toten aber nicht öffnen. Die Schlinge der Sudeten-Rede zog sich am Hals des Hitlerismus 7 Jahre nach dem Tag ihrer Abhaltung zu. Mit der Krim-Schlinge und dem Putinismus ging alles viel schneller. Die Chimären der „Russischen Welt“ und „Neurusslands“ verdampften in erster Linie, weil sie durch die Mehrheit der russischen Menschen sowohl in der Ukraine als auch in Russland selbst abgelehnt wurden. Das syrische Abenteuer war dazu berufen, die Aufmerksamkeit von der ukrainischen Niederlage abzulenken, und hier war die Rolle der „sakralen Pappnase“ dem US-Staatssekretär John Kerry zugeschrieben worden.
Ich weiß nicht, welcher Strohhalm den Rückgrat des Kamels der westlichen Geduld durchgebrochen hat. War es die Vernichtung des humanitären Konvois in der Nacht auf den 20. September, eine weitere postmodernistische variative Lüge Moskaus oder die im amerikanischen Establishment anschwellende Empörung über die willenlose Politik von Barak Obama. Wenn man von westlicher gesellschaftlicher Meinung im Ganzen spricht, so ist zum point-of-no-return die faktische Hinrichtung der Aleppo-Einwohner durch Putins und Assads Soldaten geworden. Es gibt Sachen, die ein Durchschnittsbürger nicht gleichgültig mitansehen kann – und darauf müssen die westlichen Politiker Rücksicht nehmen. Jelzin und Putin ist es zweimal gelungen, die Bevölkerung von Grosny zu vernichten, weil sie nicht auf den TV-Bildschirmen zu sehen war. Und somit gab es sie gar nicht.
Das Verdikt fürs putinsche Regime wurde am 25. September auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrats durch die Vertreter der USA, Großbritannien und Frankreich ausgesprochen. Dieses Regime wurde für außer Recht und Gesetz erklärt. „Das ist kein Kampf gegen den Terrorismus – das ist Barbarei“, „absoluter Terror, der von Syrien und Russland ausgeführt wird“, „Kriegsverbrechen“, „Russland erhält den Status eines Pariastaates“- solche Formulierungen waren für offizielle Amtspersonen solchen Gewichts noch vor wenigen Tagen undenkbar. Die konsolidierte Entscheidung zu Putin war wohl noch auf dem Arbeitstreffen der US- und EU-Minister am 24. September getroffen worden, auf der sie eine eilige Einberufung der Sicherheitsratssitzung gefordert hatten.
Der hybride Krieg, den die „Russische Welt“ dem Westen erklärte, ist mit einer niederschmetternden Niederlage der ersten beendet worden. Die Sieger haben Putins Atomkräfte ins Visier genommen, sowie die wahren „geistigen Krampen“ seines Regimes – die „Goldkessel“ der kremlischen Kleptokratie im Westen. Die seit 17 Jahren mit dem putinschen Regime überaus nachsichtige New York Times fixierte eine tektonische Verschiebung im Bewusstsein des kollektiven Westens in ihrem vernichtenden Redaktionsartikel unter dem Titel „Vladimir Putin’s Outlaw State“.
Im Bunker wird wohl gerade die nachfolgende Tendenz berechnet, nach einer Formel für schleichende ehrenvolle Kapitulation gesucht: Umstände einer höheren Gewalt. Diese Formel wird gerade ins gesellschaftliche Bewusstsein folgerichtig eingeworfen. Irgendsoein russischer Himmler hat wohl schon irgendsoeinen russischen Göring besucht und seine Laune mit einem Zitat aus der Lieblingsserie ihrer Jugend abgefühlt: „Hermann, der Führer kann seine Pflichten eines Garanten für unsere Assets nicht mehr erfüllen“.
Autor: Andrei Piontkowski in svoboda.org; übersetzt von Irina Schlegel.
No Responses to “Andrei Piontkowski: Reichskanzlers Fehler”