
von Wladimir Pastuchow
Die Behauptung, Russland entferne sich von Europa ist falsch. Russland nähert sich Europa an…
Die Rede von Wladimir Putin in Sotschi beim Treffen des Waldai-Clubs wurde mehrfach kommentiert, auch auf den Seiten von „Novaya Gazeta“. Dennoch, es wurde keine ernsthafte kritische Analyse gemacht und, zweifelsohne, Die Rede verdient eine. Putins Fans sind überzeugt, dass es nichts zu kritisieren gibt, während seine Gegner sicher sind, dass es nichts zu analysieren gibt.
Die Wahrheit, wie es oft geschieht, ist eine zerbrechliche Blume, die in einer neutralen Zone wächst: Sowohl Russland als auch die Welt haben etwas, über was sie nachdenken sollten, und was sie in einer Rede des russischen Staatschefs kritisieren können.
Nur wenigen ist bewusst, dass in Sotschi in der Tat das Manifest eines alternativen Europas verkündet worden ist, an dessen Bau Russland beabsichtigt aktiv und direkt teilzunehmen.
Irren diejenigen, die denken, dass Russland vor hat, sich aus Europa zurückzuziehen? Im Gegenteil, wie es in Sotschi offensichtlich wurde, bewegt sich Russland sprunghaft in Richtung Europa, um den „Russischen Frühling“ zu verwirklichen.
Der Raub von Europa
Eine gemeinsamer Punkt im Diskurs über das politische Regime, das sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Russland etabliert hat, war die Behauptung, dass, obwohl das Regime autoritär ist, es nicht einmal mittelfristig stabil sein kann, da es anders als das kommunistische Regime nicht auf einer Ideologie basiert ist. Und zum Teil – zumindest bis vor kurzem – war es so. Selbst die rasende Propagandakampagne, deren Anfang durch den Konflikt mit der Ukraine eingeleitet wurde, ist nicht zum Beweis des Gegenteils geworden, da ein primitiver tribalistischer Chauvinismus, welcher selbst sehr expressiv ausgedrückt wird, keine Meta-Ideologie sein kann, die dazu fähig wäre, eine langfristige Stabilität der Landesführung zu gewähren. In der Regel verflüchtigen sich die Emotionen sehr schnell, lange bestehen nur Ideen. In dem breit umworbenen „Russischen Frühling“ gab es so gut wie keine Idee.
Diejenigen, die nicht glaubten, dass das Regime dazu fähig ist, eine Ideologie zu schaffen, hatten recht, dass Ideologien nicht wie Socken gestrickt werden können. Für ihre Entstehung werden kulturelle Gründe, historische Tradition, die Bemühungen von mehreren Generationen und viele andere Dinge benötigt. Das alles existierte im postkommunistischen Russland nicht.
Genau deshalb endeten die unzähligen Versuche der Kreml-Administrationen eine Ideologie zu kreieren immer in einem großen Fiasko. Aber das, was man nicht schaffen kann, das kann man ausleihen.
Mit dem Lieferverbot von Käse und Wurstwaren aus Europa verzichtete Russland nicht auf den Hauptimportartikel – auf den Erwerb von Ideen. Nun kommen nach Russland andere Ideen, nicht wie früher. Früher waren liberale Ideen in Mode, nun sind es reaktionäre.
Der Ideologieimport ist eine traditionelle Art der Lösung von Problemen mittels eines „geistigen Korsetts“ in Russland. Das Russische nimmt zuerst etwas Fremdes und weitgehend nicht Gefragtes aus Europa auf und verändert es bis zur Unkenntlichkeit, um es schließlich als sein eigenes neues Produkt zu verkaufen.
So wurde der europäische Marxismus von einer Handvoll Enthusiasten nach Russland gebracht, aber nachdem er mit der „Volkstümlerbewegung“ gekreuzt wurde, ist er zum „russischem Kommunismus“ (Bolschewismus) geworden, der lange Zeit demselben Europa einen Schrecken einjagte. Heute gibt Russland seine europäische Identität nicht auf, sondern ändert einfach ihr Profil, indem es neue „spirituelle Munition“ importiert.
Die Spaltung Europas
Die meisten Beobachter, die aus einem oder anderen Grund das Geschehen auf dem Forum in Sotschi verfolgten, beschränkten sich auf die Anhören von Putins Rede (viele nahmen überhaupt nur seine Thesen in der Auslegung führender Nachrichtenagenturen wahr). Putin war jedoch weder der interessanteste noch der eifrigste von allen Referenten. Er hat, übrigens, nicht ein bisschen gelogen als er sagte, er sei eine „Taube“, denn der „Falke“ in Sotschi war Václav Klaus, dessen Rede weit weniger Menschen gelesen haben, als sie es verdient.
Václav Klaus ist ein Europäer schlecht hin. Darüber hinaus ist er einer der Co-Autoren der „samtenen Revolution“. Es sieht nicht aus wie ein „politischer Geschäftsreisender“, wie Schröder oder Berlusconi. Es ist schwierig ihn des Merkantilismus zu bezichtigen. Und wenn er schon in Sotschi erschienen war, dann muss es dafür gewichtige ideologische und politische Gründe gegeben haben. Seine Ankunft an sich, geschweige denn seine Rede, spiegelt die tiefe Spaltung von Europa wider und es wird zunehmend schwieriger diese zu ignorieren, selbst für die hartnäckigsten Verfechter des „europäischen Weges“ und der „europäischen Wahl“.
Ein vereintes Europa, ebenso wie eine gemeinsame europäische Politik oder einen einheitlichen europäischen Blick auf die Welt gibt es nicht mehr. Deshalb ist es heute nicht genug, wenn man dem russischen Volk sagt: – Geht nach Europa. Man muss präzisieren, um welches „Europa“ es geht…
Europa ist in der Frage über das Verhältnis zu den Auswirkungen der Globalisierung gespalten, die es selbst so schätzt. Denn die „Globalisierung“ zeigte, dass es neben den süßen „Blüten“ auch noch bittere „Wurzeln“ gibt (Flüchtlinge, lokale Kriege, dauerhafte wirtschaftliche Instabilität und so weiter). Europäer haben sich in solche aufgeteilt, die glauben, noch mehr Gas geben zu müssen, und solche, die stark auf die Bremse treten wollen.
Das Liebesboot des europäischen Liberalismus zerschellte am Flüchtlingsstrom. Die Folge der Spaltung der europäischen Liberalen ist die Bildung von zwei politischen Polen in Europa geworden: Von linken „Euro-Optimisten“ mit ihrer dogmatischen Polit-Korrektheit und scheinheiliger Multikulturalität und von Rechten „Euroskeptikern“ mit ihrem klassischen Nationalismus und zynischem Pragmatismus. In einer für den Kreml schweren Zeit streckten die „Euroskeptiker“ ihm die helfende Hand entgegen und wurden zu neuen geistigen Freunden von Russland.
Der letzte Lehrer
Im Laufe seiner Geschichte hat Russland verschiedene Lehrer aus Europa gesehen, aber solche gab es wahrscheinlich noch nie. Die europäischen Globalisierungsgegner, die in Europa in Unterzahl sind, blicken nach Russland mit Hoffnung, deshalb fährt Klaus nach Russland und überwindet damit alle Hindernisse und Sanktionen. Lassen Sie uns das anhören, was er über das heutige Europa sagt:
„Die aktuellen Probleme… kommen eher aus dem Westen als aus dem Osten… Ausgerechnet in Europa ist das Versagen in dieser Entwicklung stärker als in anderen Teilen der Welt… Die größte Bedrohung für unseren Frieden, Freiheit und Demokratie kommt nicht von dem „Islamischen Staat“, „Al Kaida“ oder irgendwelchen arabischen Mördern aller Couleur, die wir in allen Ländern der Welt sehen… Das Problem liegt vor allem in der Tatsache, dass wir selbst zögerlich und nicht bereit sind, uns an‘s Leben anzupassen… Wir sind zum Opfer von neuen irrtümlichen modischen Begriffen geworden: Das ist entsprechend die Bewegung für Menschenrechte, Multikulturalität, Environmentalismus, Homosexualität, Kosmopolitismus und Transnationalismus… Wir sind nicht bereit… unser bequemes Leben zu opfern und unsere Vorurteile loszuwerden. Wir haben keine starken Meinungen. Es ist eine gewisse öffentliche Apathie zu verzeichnen, Bildung wird ausgehöhlt, wir sprechen schon gar nicht über die ideologische Indoktrination, das Aufzwingen bestimmter Ansichten, das erinnert mich an die kommunistische Ära. Wir ersetzen Bildung durch die Politkorrektheit und Aufzwingen einer bestimmten Ideologie“.
Hier sahen sogar Dugin mit Milonow blass aus. Ideologisch war Putin in Sotschi zweitrangig und Klaus war primär. Zur Überraschung vieler wurde die ideologische Matrix der „Macht der Krim-Periode“ nicht der einheimische Eurasianismus mit seiner zweifelhaften geistigen Füllung, sondern etwas anderes. Der Kreml beschloss über Russland die Flagge „der europäischen Reaktion“ wehen zu lassen.
Nun wird er lange und schmerzhaft an einer Legierung aus „Europäismus“ und „Eurasianismus“ schmieden, bis ein Explosionsgemisch wie der „russische Kommunismus“ entsteht. Das kann nur ein historischer Zeitmangel verhindern.
Die Internationale der Globalisierungsgegner
Es ist geschehen, was aus meiner Sicht schon lange hätte geschehen müssen – Russland ist weltweit zum Anführer des Anti-Globalisierung zu werden. Wer sonst könnte sich der Mission verpflichten außer Russland mit seinem starken antikapitalistischen sozialen Codex? Politisch ist Putin primär und Klaus sekundär. Während Klaus spricht, handelt Putin: Er baut eine Brücke, die Globalisierungsgegner innerhalb und außerhalb Europas verbinden soll. Er schafft seine eigene Anti-Globalisierungs-Internationale, die Russland helfen soll, aus einer weiteren „feindlichen kapitalistischen Umzingelung“ auszubrechen.
Aber manch einer in Europa wird sich natürlich freuen. Der Kreml hat seine „Fünfte Kolonne“ im Westen. Und ihre Zahlenstärke nimmt stetig zu. Mit Anti-Globalisierung als einer beinahe offiziellen Ideologie des postkommunistischen Russlands hat der russische Staatschef eine Goldader gefunden, aus der es im Prinzip möglich ist, politische Dividenden über Jahrzehnte hinweg zu ziehen.
Russland verwandelt sich schnell in ein Zentrum des europäischen Reaktionismus (der Begriff wird nicht von allen mit negativer Konnotation wahrgenommen). Vom Isolationismus kann hier kaum ernsthaft die Rede sein.
Die russische Außenpolitik wird scheinbar nicht nach Schnittmuster des XX., sondern des XIX. Jahrhunderts geschnitten. Russland bereitet sich aktiv für die Freigabe der zweiten Ausgabe der Heiligen Allianz vor, die jedoch in den gleichen alten „Buchumschlag“ eingewickelt, auf dem ein russischer Ritter dargestellt wird, der der Hydra der Revolution den Kopf abschlägt. Nur das Ausmaß des derzeitigen Phänomens passt nicht mehr in den Rahmen Europas, sondern ist global. Bei diesem neuen „Spaziergang nach Europa“ könnte der Kreml sicherlich auch scheitern. Aber vorher wird Russland in den reaktionären europäischen Blasebalg frischen skythischen Wein eingießen und es gibt keine Garantie, dass dabei keine Geistesverwirrung in der alten Welt eintritt.
Das, was gerade geschieht, passt sehr genau in das zyklische Modell des „Verschlingens von Europa“, das von dem genialen russischen Philosoph namens Wadim Tsymburskij vorgeschlagen wurde. Seine Annahme war, dass in der Beziehung mit Europa für Russland eine Wechselspiel von „Flut“ (wenn Russland nach Europa marschiert) und „Ebbe“ (wenn Russland aus Europa geht) charakteristisch ist. Entgegen der landläufigen Meinung ist derzeit für Russland die Zeit für eine „Flut“ und nicht für eine „Ebbe“ gekommen.
Heute mischt sich Russland wieder aktiv in die europäischen (nicht seine) Angelegenheiten ein und versucht, an der Seite einer der europäischen Parteien gegen die andere (n) Partei(en) zu spielen und verpulvert in diesem Kampf für Russland so notwendige Ressourcen. Bis jetzt endeten alle solche „Fluten“ mit einer weltweiten Erschöpfung der Kräfte, gefolgt von einer starken „Ebbe“, während der Russland seine Wunden leckte. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dieses Mal alles anders laufen wird.
Der große Präsidentor
Wenn man genau darüber nachdenkt, liegt Putin im historischen Trend. Für russische Zaren war das Ausland schon immer interessanter als ihr eigenes Land. Dort gelang ihnen vieles, im Gegensatz zu inneren Angelegenheiten. Putin ist natürlich noch kein russischer Kaiser, aber definitiv nicht mehr nur Präsident von Russland. So wie die meisten seiner Vorgänger ist er tief in die Geopolitik eingetaucht und sieht sich als Europas Befreier (was ist schon Europa – als Befreier der ganzen Welt) von der Revolutionsseuche. Ich denke, dass ironische Kommentare zu seinen „napoleonischen“ Plänen nicht ganz angemessen sind. Der russische „Präsidentor“ ist durchaus in der Lage für eine Weile die politische Landschaft auf dem Kontinent zu ändern.
Die innere Spaltung der europäischen Gesellschaft wird der EU kaum erlauben Russland über eine längere Zeit frontal zu widerstehen. Gerade jetzt (Achtung: der Text erschien VOR den Terroranschlägen in Paris am 13.11.2015, Anm. d. Übers.) durchbricht Russland die europäische Verteidigungslinie auf dem französischen Abschnitt. Italien, Ungarn, Österreich, Spanien und viele andere warten nur darauf, dass eines der Hardliner-Länder (USA, UK, Deutschland und – zum Teil – Frankreich) eine Schwäche zeigen, um selbst mit der Sabotage der „harten Linie“ in Bezug auf Russland zu beginnen. Europa ist offensichtlich müde von seiner eigenen „Güte“ und „Großzügigkeit“ gegenüber der Ukraine geworden und möchte seine Unterstützung in Zukunft auf den Ausdruck des allgemeinen Mitleids begrenzen. Somit kann man Putin für Gewinner dieser Runde halten.
Aber während Putin durch Europa auf einem „silbernen Pferd“ reitet, ist in seinem Land, das sich in der Obhut des kollektiven Araktschejew (Anm. d. Übers.: Aleksej Araktschejew war ein einflussreicher russischer Kriegsminister im 18. Jahrhundert) befindet, immer noch nicht alles in Ordnung. Und die Ursache liegt nicht in der Furcht vor einer Revolution, die man lange und erfolgreich vermeiden kann, wenn man sich im Zustand eines „permanenten Krieges“ mit unendlichen virtuellen Feinden von Russland befindet, (es sei denn alles endet in einem großen Krieg).
Der Präsident kann alles: In den sibirischen Flüssen Brustschwimmen gehen, sich mit den Staatschefs der Welt mit tiefer Stimme streiten, Terroristen in Syrien bombardieren und mit Depardieu kuscheln, aber viel schwieriger ist es, wenn es darum geht, die Dinge in einer bestimmten kommunalen Wohnungsverwaltung, bei der Polizei oder in einem Krankenhaus in Ordnung zu bringen. Der Kreml baut an der neuen Weltordnung und dabei ist er nicht in der Lage im eigenen Land die alltägliche Ordnung zu gewährleisten. Diebstahl, Chaos und Gier ruinieren seine Pläne in Russland. Manchmal denke ich, dass der Präsident ebenfalls ein Flüchtling ist: Er ist mit dem Kopf in die Geopolitik eingetaucht…
Für Putin gibt es derzeit keine sichtbaren äußeren Bedrohungen. Er befindet sich auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere, er ist der alleinige Herrscher von Russland und der Anführer der neuen Heiligen Allianz, er stellt für sich selbst eine Gefahr wegen der wachsenden Einsamkeit und Frustration dar. Etwas Ähnliches geschah vor zweihundert Jahren mit seinem großen Vorgänger, dem Sieger über Europa, der Schöpfer der ersten der Heiligen Allianz, dem glanzvollen Zar Alexander I. Bis heute gibt es Gerüchte, dass er nicht in Taganrog gestorben war, sondern untertauchte und den Rest seines Lebens in Sibirien als Einsiedler verbrachte. So sieht es auch mit Putin aus: Man wird ihn nie absetzen und er wird einfach verschwinden und sein Geheimnis mit ins Grab nehmen…
Autor: Wladimir Pastuchow, Doktor der Politikwissenschaften, St. Antony College, Oxford; Quelle: Novaya Gazeta; übersetzt von Andrij Topchan; editiert von Viktor Duke.
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