Sich 12 Jahre lang auf eine Invasion vorbereiten und dann an einzelnen Personen zerbrechen, die zur Verteidigung der Ukraine das Volk hinter sich versammelt haben.
von Serg Marco für petrimazepa.com
Wenn wir mit Freunden über den Krieg diskutieren, versuchen wir oft, unsere Gedanken bezüglich der Ziele Russischer Föderation in diesem Krieg auszutauschen. Schon klar, zuerst die „Volksrepubliken“, dann die „Zerteilung entlang des Dnipro“ usw.
Und oft kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass der Hauptgrund für das Scheitern vieler russischer Ziele in der Ukraine an einer Reihe von Personen liegt, die sich an richtigen Stellen befanden. Ihre Standhaftigkeit und Patriotismus ließen sich nicht berechnen, voraussagen oder in einer Kriegsanalytik einplanen, die im Kreml gelesen wird. Sie brechen jeden Algorithmus der Spieltheorie allein schon durch ihre Anwesenheit zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.
Weil die Ukraine unter geleisteten Angriffen fallen musste. Einknicken. Verstehen, dass der Wiederstand zwecklos ist.
Aber einige Menschen gründeten eine Freiwilligenbewegung und viele Patrioten ihres Landes folgten ihnen. Zu der Zeit als die Territorialverteidigung praktisch nicht vorhanden war, fingen viele Zivilgemeinschaften damit an, sich zum Krieg in der eigenen Stadt vorzubereiten. Wenige wissen, dass in Kiew und Dnipro Anfang März 2014 Menschen mit militärischer Vergangenheit in Gruppen mit Zivilisten an Brücken auf und ab gingen und analysierten, wie man die Stützen am besten zerstört und die Brücken zum Absturz bringt, an welchen Stellen und wieviel Sprengstoff man dafür benötigen würde.
Diese Menschen blieben für die Gesellschaft unbemerkt. Genauso wie die früheren Jäger, die Munitionsvorräte der Jagdgeschäfte auskauften und ohne die Hoffnung auf den Staat ihre Viertel in Sektoren aufteilten, die ihre Gruppen unter Feuerkontrolle halten würden.
Die anderen stürzten sich in die Armee. Ja, sie waren bereit zu kämpfen und verstanden, was um sie herum geschah. Viele von ihnen kämpfen bis heute.
Einige wurden zu Volontären. Sie bettelten alle Freunde und Bekannte ums Geld ab, starteten Spendensammlungen bei Facebook, verschenkten unter missbilligenden Blicken ihrer Ehefrauen Sachen aus ihren Häusern, die man an der Front brauchte, verbrachten schlaflose Nächte am Steuer eines Volontär-Vans bis sie schließlich die Reparatur der Kriegsgeräts und den Ankauf von Fahrzeugen und Hightech-Geräten übernahmen.
Sie taten das, weil sie es tun konnten. Weil sie wussten, dass ohne ihre Hilfe ein Bataillon, eine Kompanie, ein Zug stark an Kampffähigkeit verlieren würde. Weil wenn es sie nicht gäbe, gäbe es niemanden, der diese Versorgungsarbeit für die Kämpfer leisten würde.
Viele sind einfach bei ihrer Arbeit geblieben und haben ihren Fahneneid nicht gebrochen. Mit der neuformierten, schwach ausgebildeten und unerfahrenen Armee im Hintergrund wurden sie zu wahren Wellenbrechern, gegen die die feindlichen Angriffswellen brandeten. Sie haben Menschen angeführt und ihnen am eigenen Beispiel demonstriert, dass der Feind nicht so furchterregend ist, dass er geschlagen werden kann und muss. Die Wenigsten kennen die Namen jener, die sich selber mit Handgranaten in die Luft sprengten und ihre Stellungen der Vernunft zum Trotz nicht verließen, während sie jeden Zentimeter ihres Landes verbissen verteidigten.
„Warum ich geblieben bin?“ – sagte mir eines Tages ein Fallschirmjäger, der mit einem Dutzend Männer gegen den deutlich überlegenen Feind Auge in Auge gekämpft hatte. „Weil man uns den Rückzug nicht beigebracht hatte. Vor uns waren Menschen aus Fleisch und Blut, wie wir. Sie greifen an, wir sind in der Defensive. Es kann doch nicht sein, dass ich in der Verteidigung mit einem Menschen aus Fleisch und Blut, wie mir, nicht fertig werden würde. Ja, sie sind in der Überzahl, aber sie müssen zuerst durch unsere Verteidigung hindurch. Nie im Leben hätten sie das geschafft. Im Grunde genommen, haben sie es auch nicht…“
Menschen, die auf ihren Stellungen geblieben sind, um überlegenen feindlichen Kräften die Stirn zu bieten, Panzersoldaten, die allein den Kampf gegen 2-3 feindliche Panzer aufnahmen, Aufklärer, die tief im feindlichen Rücken tappten, obwohl sie verstanden, wie verschwindend gering ihre Chancen sind, heil wieder herauszukommen. Wieviele solche Menschen gab es, die das wertvollste – ihr Leben – auf die Waage gelegt haben, in der Hoffnung, die feindlichen Kräfte damit zu überwiegen? Und ja, sie sind für die Mehrheit unbekannt.
Ein anderer ist in der Politik geblieben, gab unter dem russischen Druck nicht nach und focht die Position der souveränen unabhängigen Ukraine durch.
Ich kann nicht behaupten, dass das ganze Land die Aggression pariert hat. Allein schon deswegen, weil es gelogen wäre. Ein Großteil des Landes hat nicht einmal mitbekommen, was die Menschen leisteten, die wir oben erwähnt haben. 2014 haben sie sich mehr für den Wechselkurs von Dollar interessiert, als für die Tatsache, dass die Ukraine eine Invasion durchlebte und auf der Front nur zerrissene und meistens kampfunfähige Einheiten geblieben sind, die die Invasoren auf sich gezogen haben und dadurch die Invasion zwar geschwächt, aber nicht endgültig zum Stillstand gebracht haben. Die Mehrheit der Bewohner von Mariupol wissen nicht, dass während der Invasion aus der Richtung von Nowoasowsk eine Artilleriebatterie von „Uragan“-Mehrfachraketenwerfern sich in einem Kreisverkehr in Wolnowacha positioniert hat und eineinhalb Stunden in Richtung Nowoasowsk schlug, um die vorrückenden Einheiten der Russen und Separatisten aufzuhalten. Weil es bei Mariupol damals nur eine Militäreinheit gab – eine Kompanie der 79. Brigade, die in den selbstmörderischen Streifzug aufgebrochen ist. Der Asphalt ist immer noch verbrannt an diesem Kreisverkehr in Wolnowacha. Aber Mariupol kennt keine Namen jener Helden, die nach Nowoasowsk aufgebrochen sind, und jener „Kriegsgötter“, die mit ihrem Himmelsfeuer den Vormarsch der Russen aufgehalten haben.
Keiner wird auch die Führung des Generalstabs und der Armee loben, die trotz der Gewissheit über die Echtheit der Invasion nicht in irgendwelche Inselstaaten abgeflogen sind, um dort den Rest des Lebens zu genießen, und ihre Ämter nicht niedergelegt haben (wie der vorherige Generalstab während der Invasion in die Krim). Sie schlugen mit allem, was sie hatten, nutzten schonungslos die geringen Reserven von „Uragan“-, „Smertsch“- und „Totschka U“-Raketenwerfern im klaren Verständnis dessen, dass eine Niederlage in diesem Krieg ihnen von den neuen Herren des Lebens nicht verziehen wird.
Die Leute wissen nicht, wie im September eilends neue Brigaden komplettiert und neue Artilleriebatterien formiert wurden. Sie wissen nicht, wie russische Bataillons durch einzelne Kompanien aufgehalten wurden, wie ein einziger Soldat bei dem Rückzug aus Ilowajsk zwei Panzerfahrzeuge und ein Dutzend russischer Soldaten vernichtet hat. Sie wissen nicht, wie die Offiziere von Spezialeinsatztruppen am Donezker Flughafen den Vorschlag von Chodakowski aufzugeben mit den folgenden Worten erwiderten: „Im Gegensatz zu dir, haben wir nicht vor, den Fahneneid zu brechen“, was zu erbitterten blutigen Kämpfen und der Geburt einer neuen ukrainischen Legende geführt hat.
Der Kader ist entscheidend. Und es mangelt sehr am Personal, um das System zu ändern, das wir 23 Jahre lang aufbauten, um die Korruption, die inneren und äußeren Feinde zu bekämpfen. Aber sie waren genug, damit die Ukraine übersteht und Russland ein Fiasko erleidet und aktiv mit den Versuchen anfängt, sich den Sieg in der Politik und nicht auf dem Schlachtfeld zu holen.
Nach einer Lageanalyse kann man vieles voraussagen: die Anzahl der Fahrzeuge, die aus den Kasernen herausfahren würden, die Anzahl der Geschosse, die in einem bestimmten Zeitabschnitt abgefeuert werden können, die Geldbeträge, die für bestimmte Ereignisse benötigt werden… Aber man kann den Einfluss einer einzelnen Person auf die Lage nicht vorhersehen. Diese Personen sind nicht ideal, manche sind durchaus umstritten, aber an der richtigen Stelle übten sie ihren Einfluss auf Geschehnisse aus, über die die Mehrheit der Ukrainer nicht einmal wissen.
Meine Überzeugung in unserem Sieg wird noch dadurch zusätzlich gestärkt, dass wir es konnten, die nötige Anzahl von Menschen zu finden, um Russlands Pläne zu vereiteln. Und Russland konnte nicht die nötigen Personalkräfte aufbringen, die diese Pläne trotz der erstaunlichen Überlegenheit und langjährigen Vorbereitung zur Besetzung der Ukraine verwirklichen würden.
Sich 12 Jahre auf die Invasion vorbereiten und dann an einzelnen Personen zerbrechen, die zur Verteidigung der Ukraine das Volk hinter sich vereint haben!
Ja, man kann lange darüber diskutieren, welche Chancen die Ukraine in einem „vollwertigen“ Krieg gegen die Russische Föderation hätte, aber nach meiner subjektiven Meinung ist Russland bis heute zu einem allumfassenden Krieg nicht bereit. Wie die russische Erfahrung in Syrien zeigt, ist es keine triviale Aufgabe, mithilfe von Alliierten, Luftwaffe, Haubitzen- und Raketenartillerie selbst eine einzige Stadt zu besetzen. Und ihre Gegner besitzen keine Luftabwehrwaffen, keine schwere Bewaffnung oder reguläre Armee. Wenn man eine Katze in die Ecke treibt, bekommt man einen Drachen (c).
Und einen 40-Millionen-köpfigen Drachen wird es sehr schwer zu verdauen: Der schlimmste Gegner ist der, der nichts zu verlieren hat.
Und so kämpfen wir weiter, dank einzelnen Menschen. Dank wenigen Prozenten der Menschenmasse. Dieser Bruchteil der Gesellschaft zieht die Armee nach vorn, beschäftigt sich ehrenamtlich, wird zum Katalysator der Reformen und Grundpfeiler der proukrainischen Position. Und gewisse Bevölkerungskreise helfen ihnen, unterstützen und spornen sie an.
Und die ganze heutige Auseinandersetzung lastet im Grunde auf ihren Schultern. In den Feldern bei Donezk und im Verteidigungsministerium. In einem kaputten Geländewagen mit Allradantrieb und lettischen Kennzeichen, vollgepackt mit Kisten mit Freiwilligen-Gütern, und in teuren Büros im Parlament. Bei einem Unternehmer, der sich entschlossen hat, alle Steuer zu zahlen, und es für seine Pflicht hält, alle Regeln eines Bürgers seines Landes zu befolgen, und bei einem Polizei-Neuling, der den Dienst mit einer naiven Idee, das System doch noch zu ändern, antritt.
Wünschen wir viel Glück diesen Atlanten. Denn auf ihren Schultern lastet im Moment alles.
Autor: Serg Marco; veröffentlicht am 3.11.2016 bei Pjotr&Mazepa; übersetzt von Volodymyr Cernenko; editiert von Irina Schlegel.
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