
Johnny Smith war ein Hellseher. Eines Tages traf er zufällig den Politiker Greg Stilson, der Präsident werden wollte: Er führte seine Wahlkampagne durch, ließ sich nicht vom Ziel abbringen und traf dazu persönlich seine Wähler. Johnny drückte ihm die Hand und hat plötzlich gesehen, wie Stilson, wenn er Präsident wird, einen Atomkrieg vom Zaun bricht.
Ich gebe gerade den Inhalt von Steven Kings Roman “Dead Zone” (1979) und des gleichnamigen Films von David Kronenberg (1983) wieder.
Um die Menschheit zu retten beschließt Johnny Stilson zu töten. Er versteckt sich mit einem Gewehr im Saal, in dem Stilson das Treffen mit den Wählern abhält. Im entscheidenden Moment bemerkt man Johnny Smith. Die Bodyguards eröffnen das Feuer auf ihn, aber er versucht trotzdem zu schießen, und zielt auf Gregor Stilson – und da schnappt sich Stilson ein zufällig in der Nähe stehendes einjähriges Kind und bedeckt sich mit ihm. Johnny schafft es nicht zu schießen. Aber irgendein Fotograph schafft es, das verhängnisvolle Foto zu machen: Der Präsidentschaftskandidat mit einem angstverzerrten Gesicht bedeckt sich mit einem Kind, um sich vor einer möglichen Kugel zu schützen. Das Foto kommt auf das Cover von Newsweek mit der Überschrift “Stilson – No Chance”! Danach bleibt Greg Stilson nichts anderes als sich zu erschießen.
Was er selbstverständlich auch macht. Denn nach so einem Zwischenfall hat er nicht nur keine Chance im Präsidentschaftrennen, sondern auch im Supermarket, an der Tankstelle, auf der Straße in der eigenen Stadt und sogar keine in seiner eigenen Familie. Also, nun die Frage. Noch Anfang der 1980er bedeutete so eine Tat, wie sich mit einem Kind gegen einen Schuss zu bedecken, für einen Politiker und eigentlich auch für jeden Menschen den moralischen Tod. Aussortierung aus dem Menschenkreis, mit dem es nicht schändlich ist, ein Bier an der Bar zu trinken. Und nur eine Generation später bedeutet dasselbe eine ausgezeichnete Gewandtheit und listige Geschicklichkeit. Zum Beispiel, Raketenanlagen auf Schul- oder Kinderkrankenhausdächern zu installieren, um von da aus auf den Nachbarstaat zu schießen, ihn der Möglichkeit zu berauben, militärisch adäquat zu antworten. Und im Falle einer Antwort zu schreien: “Sie schießen auf Kinder!” Ich habe ein Foto eines palästinensischen Söldners in voller Ausrüstung gesehen: Gewehr, Helm, Funkgerät, Granaten am Gürtel. Und an der Brust, in einem speziellen Rucksack, saß ein ganz kleines Kind. Mit dem Gesicht nach vorne, was besonders schrecklich ist. Dafür aber effektiv! Zum Wort “effektiv” komme ich noch zurück. Wartet mal kurz. Der verschreckte Kinderblick auf den Gegner gerichtet ist besser als jede Schutzweste, falls der Gegner noch kein Tier ist. Oder sagen wir so: Wenn der Gegner selbst kein Kind an der Brust hat. Aber was kann schrecklicher sein, als ein fremdes Kind zu töten, im Namen der Rettung des eigenen? Das ist keine rhetorische Frage. Hier ist die Antwort: Noch schrecklicher ist es, sein eigenes Kind töten zu lassen, im Namen der Rettung eines fremden…
Oder so: genauso schrecklich. Der tödliche Zugzwang. Gleich wird mir gesagt, dass das Söldnerfoto mit dem Kind an der Brust eine Fälschung sei, oder wie man heutzutage oft sagt – ein “Fake”. Gut möglich. Aber da die Terroristen selbst kein Geheimnis daraus machen, Raketenanlagen in Schulhöfen und auf Kinderkrankenhausdächern zu installieren, verändert es prinzipiell nichts. Schließlich ist Hitler vom Kukryniksybild – mit den Fängen, von denen das Blut der Völker der Sowjetunion und Europas heruntertropft – auch eine Art Fake. Der reale Hitler hatte keine Fänge, und hat auch keine Russen oder Holländer eigenhändig gequält. Aber der hitlerische Nationalsozialismus – das ist Realität.
Also, heutzutage bedecken sich die Terroristen mit Kindern und nutzen das als eine effektive militärisch-politische Technologie. Vor dreißig Jahren hat sich Greg Stilson mit einem Kind bedeckt und war danach verschwunden. Man möchte fast schon “Der Arme!” sagen. Der arme Greg war seiner Zeit voraus, just wie Leonardo Da Vinci mit seiner Handzeichnung eines Hubschraubers. Was ist denn mit der Moral passiert? Wohin sind, Entschuldigung, die Begriffe von Gut und Böse verschwunden, von “darf man” und “verboten”, von “muss man”, das wichtiger als “will man” ist? Denn diese Begriffe sind tatsächlich irgendwohin verschwunden. Man sieht es nicht nur an den Handlungen – man merkt es an der Sprache. Statt der wertmäßigen (und noch mehr: statt der qualitativen) Charakteristiken entstehen ganz andere, wohl verständlich und überzeugend, aber inhaltlos. Ich würde sie “parametrisch” nennen. Sie sind wie die mathematischen Parameter, die wie absichtlich Inhalt und Wertung ignorieren. Als mein guter Freund Gleb Pawlowski Ende 90er den Fonds Effektive Politik gründete – das war ein Art Sinnrevolution. Früher konnte die Politik demokratisch, liberal oder konservativ sein. Es gab Fonds, und analytische Zentren gab es auch. Aber statt des Inhalts ist ein Parameter entstanden.
Welche Politik brauchen wir? Eine effekitive. Keine gute oder schlechte, demokratische, liberale, konservative, christliche oder kommunistische – keine davon. Lügenhafte oder ehrliche? Nützliche oder schädliche, wenigstens? Ah, unwichtig. Effektive, und das war’s. Es gibt eine augenblickliche Aufgabe – es muss eine schnelle Lösung geben. Punkt. Weiter – mehr. Die Entwicklung muss dynamisch sein. Nicht die Entwicklung des Kapitalismus oder Sozialismus, nicht die der Bauernhöfe oder Kolchosen, nicht die der Firmen oder Eintagsfliegen-Unternehmen, sondern einfach nur eine dynamische Entwicklung wovon auch immer. Der Anführer – energisch, stark, hart (und da ist es unwichtig, womit genau er beschäftigt ist). Das Programm – langfristig, perspektiv (und keiner fragt nach, wie lange diese Zeit wird).
Aber der größte Fetisch der Moderne: das Wort “modern” (verzeihen Sie mir das unbeabsichtigte Wortspiel). Wer wird abstreiten, dass Auschwitz weitaus moderner war, als ein Gefängnis des 19. Jahrhunderts? Nichtsdestotrotz ist das Wort “modern” mit einer grandiosen Poesie der Verbrauchersinnlosigkeit beseelt. Warum “Verbraucher”? Weil die Werbung den Menschen suggeriert, dass ein Auto, ein Handy, ein Computer, eine Wohnung, die Hosen, die Wimperntusche und der BH-Typ push-up unbedingt nagelneu und am modischsten sein sollen. Jetzt ist es Ende August? Man sollte seine Garderobe mit der Kleidung aus der neuesten Herbstkollektion 2014 erneuern. Warum “Sinnlosigkeit”? Weil die Herbstkollektion keinerlei Unterschiede zu der Frühlingskollektion hat, außer der Zwirnfadenfarbe des schlampigen Hemdes.
Und das bezieht sich nicht nur auf Schneiderwerkstücke. Notgedrungen wird man zum Marxisten und beobachtet traurig, wie die Wirtschaft die Moral verstümmelt. Das Streben nach Wirtschaftswachstum um jeden Preis – das ist im Randfall ein Streben nach Herstellung und Verkauf ohne jeglichen Gedanken an die Brauchbarkeit des Erschafften und an dessen Kaufsinn. Niemand lehrt Menschen absichtlich etwas schlechtes. Nirgendwo, auf keinem Werbeschild findet man den Aufruf, Kinder als Geisel zu nehmen. Um Gottes Willen! Alptraum! Da sind nur solch‘ zarte Babys auf den Armen von strahlenden Müttern und Vätern! Aber es existiert eine unspezifische Einwirkung auf den Verstand und das Verhalten der Menschen. Der Verhaltensstoff wird aus vielen Fäden gewoben. Man muss dem Menschen nicht sagen: “Sei ein Schwein!”. Es kann ja sein, dass er aus reinem Protest ein ehrenhafter Ritter wird, und dann hat man ja Probleme ohne Ende. Man muss sagen: “Steuere Deinen Traum!” – das neue Auto also. Man muss wiederholen: “Die neue Wimperntusche macht die Wimpern um 45% flaumiger, und Sie – um 33% attraktiver!”. “Nimm‘ einen Kredit für eine Reise auf!” Wie kann man sich denn auf Rechnung vergnügen? Das ist doch “Festfressen der Zukunft”, wie Tschechow die Vorschüsse bezeichnete. Muss ein 20-jähriger Mann von einem neuen Auto träumen, statt einem guten Job? Wozu soll eine 30-jährige Frau (also Ehefrau und Mutter) um 33% attraktiver sein? Damit sie anstatt zwei Liebhabern drei hat? Oder damit ihr Ehemann sie um 33% stärker liebt? Aber was ist denn das für ein Ehemann, den man ins Bett locken oder zum Einkaufen schicken muss – mit der Flaumigkeit der Wimpern? Sonst wird er keine Familienpflichten erfüllen – weder die häuslichen noch die Ehepflichten? Und die Apotheose des Verbrauchermarasmus: “Denn ich bin es wert!”
Und dabei fallen alle Güter nicht vom Himmel herunter, sondern werden gegen gewissenhafte Arbeit eingetauscht. Würdig ist derjenige, der es verdient hat. Und wenn nicht – entschuldigen Sie. Die Vorstellung der Verbraucher von den Menschenrechten ergreift hier aber die Oberhand. Die Menschen fangen an zu denken, dass die Gesellschaft und der Staat nicht nur dazu verpflichtet sind, ihr Eigentum zu beschützen, sondern sie auch mit dem vollen Paket an Gütern zu versorgen. Warum? “Denn ich bin es wert!” Genauso sind die Einwohner einer terroristischen Enklave aufrichtig davon überzeugt, dass der Staat, den sie bekriegen, verpflichtet ist, sie mit Wasser, Strom, Medikamenten und sogar Baumaterialien zu versorgen. Und sie bekommen das Erwartete. Warum? Wie – sie sind doch Menschen, also haben sie ein Recht auf ein würdiges Leben, trotz der ununterbrochenen Schießerei auf den Verteiler all dieser Güter. Wenn man dem Menschen jahrelang eintrichtert, dass er um seines Vergnügens willen leben muss und dass alle um ihn herum ihm etwas schulden, dann wird er todsicher ein Schurke werden.
Der am Ende schießen wird, sich mit den Kindern bedeckend.
Autor Denis Dragunskij; übersetzt von Irina Schlegel