
Sie haben sich Patrioten genannt, und uns Liberale. Und wir haben uns damit einverstanden erklärt, sind resigniert, haben diese Aufteilung gefressen, diese Gegenüberstellung, als ob das alles auch so sei, als ob es nur das eine oder das andere gäbe, als ob Liberaler zu sein bedeute, kein Patriot seines Landes zu sein…
Für mich bedeutet Russland zu lieben ihm das gleiche ökonomische Wunder zu wünschen, wie es ein deutsches, japanisches oder chinesisches Wunder war. Russland zu wünschen, zurück in der Liga der Weltmächte zu sein und von den Bananenrepubliken wegzukommen. Ein Patriot zu sein bedeutet alles zu tun, damit jeder Bürger meines Landes sich beschützt fühle- in erster Linie vor dem Staat, erst dann- vor den anderen; damit er sich am morgigen Tag sicher ist, gebildet und gesund. Mein Traum ist ein starkes einheitliches Russland, in dem nicht die Korruption sondern das Gesetz regiert. Dessen große Kultur und starke Wirtschaft seine Nachbarn und die Länder der Dritten Welt anzieht. Und als Basis dafür: die Freiheit jedes Einzelnen und die Freiheit des ganzen Volkes. Ich bin für die Freiheit, darum bin ich ein Liberaler. Aber warum bin ich denn deswegen kein Patriot?
Patrioten sind diejenigen, die den Anschluss der Krim unterstützen? Aber dieser Schritt hat uns die Beziehungen zu der ganzen zivilisierten Welt gekostet. Es hat uns einen neuen Eisernen Vorhang, eine zerstörerische wirtschaftliche Isolation und die Verwandlung in einen Paria-Staat beschert, der anstatt UNO bald in einem Club der Kannibalen wie Syrien, Venezuela oder Nordkorea sein wird. Freuen kann man sich hier nur über eins: Im Kannibalenclub werden wir nicht die Vorsitzenden sein. Ihr seid keine Patrioten, ihr seid Troglodyten, die ihr Leben keinen Schritt durchrechnen wollen und können.
Patrioten sind diejenigen, die für die Erschaffung von “Neurussland” und für den Zerfall der Ukraine sind? Weil Ihr angeblich die UdSSR wiederherstellt? Nein, mit dem Krieg gegen die Ukraine beerdigt Ihr die Hoffnung, Russland eines Tages in seine alten Imperiumsgrenzen zu bringen. Ihr bringt unser engstes Brudervolk für Jahrhunderte gegen uns auf und verschreckt alle anderen Völker, die uns umgeben. Ihr schubst die Ukrainer selber in die Arme der NATO – Ihr, Ihr selbst. Ihr verdammt uns zur lebenslangen Haft in der größten Einzelzelle der Weltgeschichte. Ihr zerstört all unsere Hoffnungen auf ein großes, modernes Russland in seinen alten Grenzen. Ihr seid keine Patrioten, ihr seid nur nostalgische Tattergreise.
Patrioten sind diejenigen, die einen Vorgeschmack auf den Zweiten Kalten Krieg bekommen, die danach lechzen, mit dem Westen für die Niederlage im Ersten abzurechnen? Alle, die sich permanent an den verdammten USA messen, mit allem: mit der nationalen Würde, mit der Länge der Raketen, mit dem Ausmaß an Kriegsverbrechen? Alle, die immer fragen: wenn Amerika das darf, warum dürfen wir es nicht? Na, weil Amerika wirtschaftlich einfach achtmal so stark ist, weil Amerika die stärkste Armee der Welt hat, weil Amerika, trotz aller ihrer ungerechten Kriege die Unterstützung ihres großen Verbündetenblocks hat? Und wir treiben unser Land in eine wirtschaftliche Sackgasse, lassen uns von unseren Handelspartnern scheiden, terrorisieren unsere Nachbarn, bauen ein neues Imperium auf Meeressand. China hatte darauf gewartet, dass seine Wirtschaft um das Fünfzehnfache wächst, bevor es angefangen hat, die Rückkehr der Imperiumsambitionen auch nur anzudeuten. Und wir fangen den Imperiumsaufbau mit einem nackten Arsch an, und unsere einzigen Aktiva ist nur eine Euphorie von den TV-Antidepressiva. Und dieser hosenlose, sandige Imperialismus wird so enden, wie es üblicherweise endet. Mit einem Kollaps. Ihr wollt die Kräfte unseres Vaterlandes mit einem neuen Rüstungswettkampf zermürben, wie es vor nur einem Viertel Jahrhundert gewesen ist, Ihr wollt wieder die Planwirtschaft, die zwei Tage langen Schlangen für Fleisch, die Volksaufstände und den Regierungssturz. Ihr seid keine Patrioten, ihr seid im Wald verlorene Partisanen, die ein halbes Jahrhundert später noch immer Züge zum Entgleisen bringen.
Sind Patrioten diejenigen, die jedes Wort und jede Handlung des heutigen Regimes rechtfertigen, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, um am Futternäpfchen zu bleiben, denn in unserem Land ist das beste, wenn nicht das einzige Geschäft nur zu machen, wenn man sich an die Blutadern der staatichen Gelder anschmiegt? Euch ist es doch scheiß egal, wer im Kreml sitzt, euch ist es egal, ob man sich am Ostern kreuzigt oder eine Ramadanfastenzeit einhält, egal, ob wir Demokratie oder Monarchie haben. Das Wichtigste ist, dass die Blutadern möglichst nah sind und nicht schlaff werden, damit das bläuliche Venenblut der Staatsbudgetinfusionen näher an euren Saugknopf kommt. Ihr seid keine Patrioten. Ihr seid Blutegel.
Wer ist noch ein Patriot? Diejenigen, die ein Putin-T-shirt anziehen? Ihr seid Opfer des Fernsehens. Diejenigen, die ihre Bereitschaft, anstatt Parmesans lieber Kartoffel zu fressen und nie nach Frankreich zu reisen, herausschreien? Ihr seid debil.
Es gibt effektive Staatsmodelle. Trotz der Unterschiede stützen sich alle auf eins: auf die Freiheit eines Menschen. Auf seine gesellschaftliche, politische, geschäftliche, persönliche Freiheit. Länder, die jedem Menschen die Freiheit und die Verantwortung für sein Leben übergeben, sehen ein Aufblühen der Wirtschaft und der Kultur. Beispiele: Europa, USA, Japan und sogar China, dessen Sprung nicht mit der Obskurität von Mao zusammenhängt, sondern mit der wirtschaftlichen Liberalisierung von Deng Xiaoping.
Und dann gibt es ineffektive Modelle. Die auf einer Unterdrückung der persönlichen Initiative gegründet wurden, auf Volksverblödung, auf allgemeiner Korruption, auf einer parasitierenden Wirtschaft, auf Klüngelei und Sippenhaftigkeit der Regierenden, auf Ersatz der Freigeistigkeit durch ideologische Stempel. Die Länder, die das Individuum unterdrücken, die Freiheit durch Ordnung ersetzen, stagnieren und verfallen. Und wenn sie in der Vergangenheit Jahrhunderte lang existieren konnten, so kann es in unserer sich schnell entwickelnden Welt jede Entwicklungsverzögerung zu einem reißenden Verfall des Landes führen. Beispiele: Iran, Venezuela, Nordkorea.
Es gibt keinen besonderen Weg Russlands. Einen besonderen Weg – die Chuch’e Ideologie – gibt es in Nordkorea. Und wir sehen (oder sind noch fähig, es zu sehen), wo sie das hingeführt hat. Wir aber müssen zwischen der Freiheit und der Gefangenschaft wählen. Zwischen der Zukunft und der Vergangenheit. Und ein echter Patriot muss die Zukunft wählen.
Man versucht, uns zu überzeugen, dass die Liberalen Russland auseinanderfallen lassen. Nein, das Imperium wurde durch den Raubkapitalismus zerstört, der nicht auf Freiheit oder ehrlicher Konkurrenz basierte, sondern auf feudal-kriminellen Prinzipien.
Es wird uns gesagt, dass der liberale Westen Russland ausrauben will. Aber erst nach der Einführung der Sanktionen werden wir erfahren, dass unsere größten Firmen, und sogar unser ganzer Staat nur auf Pump lebt, vom Geld des verdammten Europa.
Nichts besonderes: Wir werden nur mal wieder angelogen.
Wir werden „Liberasten“ und „Russophobe“ genannt, auch wenn wir unserem Vaterland Prosperität, Befreiung von der Korruption, ein Leben nach Gesetz, Recht und Freiheit für jeden Menschen, nicht nur für den „Systemmenschen“, wünschen, wenn wir uns eine Integration in die zivilisierte Welt wünschen, in der Russland eine große, freie, demokratische Macht wäre. Ja, ich möchte, dass mein Land wie die USA ist und mit Amerika auf gleichberechtigter Basis im Wettbewerb steht – und was ist bitte daran russophob?
Ich liebe Russland, und darum wünsche ich ihm alles Beste. Und darum beschimpfe ich auch die, die es heute anführen: den einen Hinterlistigen und alle seine arglosen Klassenkameraden. Eine Gruppe von im Grunde zufälligen Menschen, mit denen ich meine Heimat nicht gleichsetzen will und nicht werde.
Sollen doch alle, die sich heute “Patrioten” nennen, mal zur Seite rücken. Sie haben einen Haufen viel genauerer Bezeichnungen: Nazis, Chauvinisten, Obskuranten, Populisten, Reaktionäre. Nur die Definition “Patrioten” ist von uns besetzt.
Quelle: Dmitri Gluchowski, eine Kolumne in snob.ru; übersetzt von Irina Schlegel