
Françoise Tome ist französische Historikerin, Professorin der Universität Sorbonne und Russlandexpertin. Sie nahm an der Konferenz „Ukraine-Russland: Frei von Mythen“ im Pariser Haus Europas teil. Daraufhin schrieb sie einen Artikel für die russische unabhängige Zeitung graniru.org.
Zu wenig Aufmerksamkeit schenkte der Westen bis dato der Hauptlektion des Kremls aus dem Konflikt in der Ukraine. Die Integration des postsowjetischen Raumes in eine putinsche Eurasische Union, die Annäherung Westeuropas an diese Eurasische Union auf Moskaus Bedingungen beinhalten zwangsläufig einen Verzicht der Europäer auf das Projekt, eine Alternative zur putinschen Vertikale der Macht bieten zu können. Damit entsteht der Eindruck, Russland versinke von Anbeginn der Konfrontation mit der Ukraine an in der Dunkelheit des Isolationismus. In der Innenpolitik ist das bereits die Realität. Außenpolitisch jedoch hat es seine Kräfte quasi verzehnfacht, um die Grenzen Europas nach eigenem Gusto zuzuschneiden. Im Kreml ist man heute der Meinung, ein ’souveränes Russland‘ sei ohne der Einflusssphäre von Lissabon bis Wladiwostok einfach undenkbar. Der Kreml strebt ja nun die Neuformatierung des europäischen Bewusstseins an, will die Europäer dazu zwingen, ihre eigenen Institute aufzugeben, sich von der eigenen politischen Klasse abzuwenden und sie ‚Putin-like‘, d.h. mit dem putinschen Kurs kompatibel zu machen. Zu diesem Zweck basiert die Medienstrategie des Kremls auf drei Hauptrichtungen:
Der erste Teil dieser Strategie besteht in der Diskreditierung des Westens als Ganzes:
– die politische Klasse (’sie alle sind käufliche Impotente‘),
– die Moral (‚perverse Sodomiten‘) ,
– die Demokratie (Scheinheiligkeit nach der US-Pfeife‘),
– die Menschenrechte (‚Menschenanbetung dem Patriarchen Kyril zufolge‘) ,
– das internationale Recht (‚Eine Fiktion, die Amerikaner zum Verschleiern ihrer Herrschaft nutzen‘),
– Europa selbst (‚Verfall‘),
– die USA (’stecken im Schlamm‘)
Der zweite Teil setzt auf die nachhaltige Verbreitung der Ängste:
– Angst vor Terrorismus (als Folge der Toleranzpolitik),
– Angst vor Masseneinwanderung (angeblich dieselbe Ursachen wie oben).
Der dritte Teil ist die Annäherung der Europäer auf der Basis des gemeinsamen Hasses und der gemeinsamen Phobien. Vor allem des Hasses gegenüber den USA. Hinter all diesen negativen Erscheinungen der letzten Zeit, dem islamischen Terrorismus, dem Krieg in der Ukraine und der Wirtschaftskrise stehe derselbe Verursacher: die USA und ihre europäischen Vasalen. Amerika sei immer schuld, egal ob es handelt (Intervention in Irak) oder auch nichts tut (Abzug der Truppen aus Irak, Entstehung des ‚Islamischen Staates‘).
Moskau biete eine bequeme schwarz-weiße Auslegung der Geschehnisse: auf einer Seite die Schurken des Weltuntergrunds, auf der anderen die Macht des Guten unter Putins Führung, die den USA entgegenwirke, gleich Asterix gegen Rom. Dieses Comixbild hat viele Anhänger, nicht zuletzt dank der sozialen Netzwerke.
Frankreich ist auf diesem Wege weit vorangegangen. So sаgte z.B. der Assistent des letzten Regierungschefs unter Präsident Sarkozy Francois Fillon: „Chodorkovsky ist ein Bandit, der die Staatskasse der RF geplündert hat“. Die Hauptsache jedoch ist eine verblüffend rapide Übernahme des Hasses gegenüber der Ukraine von den russischen Massenmedien durch die französischen Rechten. Hier reichte es der russischen Propaganda, allein den Maidan als ein quasi US-Projekt abzustempeln, um einen signifikant hohen Anteil der französischen Rechten im Nu in Ukrainephoben zu verwandeln.
Es gibt die sogenannte ‚respektable‘ Ukrainophobie, die wir regelmäßig in Le Figaro lesen: „Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr. Es stellt nicht mehr eine Bedrohung für die US-Hegemonie dar, – sagt Adrian Desuin: Prowestliche Orientierung hat die Ukraine langfristig von ihren östlichen Partnern abgeschnitten, ohne ihre Integration in die westlichen Strukturen vorher gesichert zu haben. Die Maidanpartei gleicht dem Schiff, das auf eine Sandbank gelaufen ist und nun untergeht. Zwei Jahre nach dem Abgang von Viktor Janukowitsch ist es eine regelrechte Zerschlagung. Der Berg hat eine Maus geboren. Der Ukrainische Staat sinkt langsam aber unentwegt weiter ab. Die Krediten des IWF und der EU sind stibitzt worden. Der Bankrott des Ukrainischen Staates ist de facto unvermeidlich“. Man erinnert uns daran, dass „der Enthusiasmus vieler europäischer Staaten bezüglich der neuen ukrainischen Revolution nach dem Zeigefinger der US-Falken demonstriert wurde“. Und Xavier Moureau, der so beliebte Fallschirmjäger, der große Freund von Putin und nun in Russland lebende Geschäftsmann, bezeichnet die Ukraine als eine ‚Bananenrepublik‘ und behauptet permanent: ‚Ukraine ist tot‘.
Nebst dieser halbwegs anständigen Ukrainephobie erleben wir eine zotige Ukrainophobie, eingepumpt in die sozialen Netzwerke, deren Ton die vom Kreml gesteuerten Trolle angeben. Über Victoria Nuland z. B. lesen wir in einer „zivilen Medienquelle“ Agora Vox Folgendes: „Für alle Europäer, die dies begreifen können: diese Frau mit den stahlfarbenden Augen, an sich ja eine durchschnittliche Angestellte des Staatsdepartments, die so gutmütig und nett das Gebäck aus einer Plastktüte (Anspielung auf den Santa Klaus Geschenkesack) an die Teilnehmer des Kiewer Maidans verteilt, vögelt euch alle tatsächlich bewusst und brutal in den A..sch (natürlich dank der vorher sorgfältig vorbereiteten Vaseline, erhalten direkt von Ban Ki Moon und anderen UN-Beamten), euch und all eure Präsidenten und Monarchen, Kanzler und Abgeordnete“.
Und das ist das Niveau des französischen Publizisten Eric Zemmour: „Noch lebt die Chimäre der vereinten Ukraine, eines zerstörten Staaten, den Europa aus letzter Kraft hochzieht. Seine Leiche zuckt noch, jedoch nicht lange mehr“. Dafür wecken die prorussischen Einwohner von Donbass beim Zemmour pures Mitleid: „Sie wollen gar nicht mit Westeuropa flirten, das ihnen gleich einer Zone des Verfalls vorkommt, zersetzt vom Multikultiralismus, vom unerhörten Glaubensverlust und von der grassierenden Homosexualität“.
Es geht hier nicht nur um die Ukraine. Auch die Türkei nahmen sich die Medien nach ihrem Streit mit Russland vor. Zunächst der Ökonom Jacque Sapir: ‚Betreffend der Flüchtlingskrise bietet sich seit Sommer 2015 an, dass diese in bedeutendem Maße auf den Wunsch der türkischen Regierung zurückzuführen ist, die Europäische Union unter Druck zu setzen… Die Französische Regierung soll sich mehr als je zuvor nicht nur von der Türkei distanzieren, sondern auch von der Militärallianz NATO, die heutzutage, wie wir sehen, von der verantwortungslosen Regierung als eine Art Deckung eingesetzt wird‘.
Auch die Hetzerei gegen Angela Merkel, einem anderen Schreckengespenst des Kremls, ist voll im Gange. Hier geht es um die Untergrabung der Deutsch-Französischen Achse – der Basis der Europäischen Union .
Wie wir sehen, können die importierten Hassarten genauso gefährlich wirken, wie die hausgebackenen. Der Anschluss an die ‚Russische Partei‘ erinnert an den Beitritt zu einer Sekte: ihre Adepten sind bereit jedem Schwachsinn bedingungslos zu glauben und dies auch noch zu verbreiten. Hass ist eine starke Waffe in den Händen von denjenigen, die fest entschlossen sind, sie einzusetzen. Der Einfluss der sowjetischen Propaganda war ernsthaft beschränkt wegen des Bestrebens, die UdSSR in einem profitablen Licht darstellen zu wollen. Die putinsche Propaganda ist komplett auf dem Negativen gebaut und gerade deswegen wirkt sie wesentlich effektiver.
Diese hartnäckige und kostspielige Kampagne abgezielt auf die Demoralisierung, Verdummung und tiefste Desorientierung, welche die Russische Propaganda im Landesinneren als auch im Westen bereits jahrelang führt, demonstriert deutlich die Ambitionen, die dahinter stehen. Dem Kreml ist es wichtig, im Westen Europas dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit voranschreitend zu erleben, die bereits für die russischen Medien kennzeichnend ist. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die political correctness und ‚gleichgeschaltete Denkweise‚ zwingt die Kremlpropaganda einen antikonformistischen Konformismus auf, ein Spiegelbild des westlichen ‚Gleichdenkens‘, d.h. die Gewohnheit, die Globalisierung anzuprangern, die US-Herrschaft, die Brüsseler Bürokratie, den Moralverfall, die schleichende Islamisierung usw. Hauptsache ist jedoch, dass gerade diese Propaganda die grenzenlose kriminelle Bereitschaft (Alles-ist-erlaubt-greif-an-und-schlag-zu-Potenzial) des postkommunistischen Russlands füttert und fördert.
Das, was Сéсile Vaissilé als „Kultur des Knastplebs“ bezeichnet, wirkt attraktiv im Westen und insbesondere in Frankreich auf diejenigen, die die Zivilisation und ihre Restriktionen überdrüssig haben. So eine Promifigur wie Eduard Limonov personifiziert freilich diese anschauliche Verwandlung der Fantasien. Der Paradox des russischen Diskurses besteht darin, dass indem an ‚traditionelle Werte‘ appelliert wird, diese Propaganda den Geist des Nihilismus der 68er wiederbelebt und zwar in Form des radikalen Nihilismus. In diesem Sinne ist Limonov das ideale Beispiel dafür.
Müssen wir uns vor diesem psychologischen Krieg fürchten, den Moskau gegen Europa führt? Die von mir beschriebenen Methoden wurden in Russland bereits in den ersten Monaten von Putins Machtergreifung erprobt:
Denken wir an die Verkettung der Ereignisse: verdächtige Explosionen der Häuser im September 1999, die Panik gesät hatten und den Tschetschenen ohne jegliche Beweisgrundlage zugeschrieben wurden. Damals entfesselte Russland einen neuen Krieg, diesmal sehr populären. Putin gewann die Wahlen dank seinem Image eines starken Führers. Ab diesem Moment begann die Wende der öffentlichen Meinung zugunsten Chauvinismus und Imperialismus. Die russischen Bürger verzichteten freiwillig auf ihre Freiheit und demokratische Institutionen, indem sie innerhalb weniger Monate alle Errungenschaften der schweren Jelzin-Jahre vernichtet hatten. Und genau dieses Szenario setzt das Kreml gegen Europa ein – auch unter der Fahne des ‚Kampfes gegen Terrorismus‘ in der Hoffnung, die Putinisierung des europäischen Kontinents erfolgreich zu vollziehen.
Françoise Tome für graniru.org; übersetzt von Irina Diana Bulanowa; editiert von Irina Schlegel
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