
Garri Kasparow: Sie bleiben mit Putin.
In den vergangenen Wochen wurden wir Zeugen einer Aktivierung des „liberalen Flügels“ der regierenden Clique. Der erste Akt dieser Vorstellung wurde auf dem Gaidar Forum dargeboten, als Vorträge einer ganzen Reihe prominenter „System-Liberalen“ erklangen, gewidmet den aktuellen Problemen der russischen Wirtschaft. Dabei vermieden alle Redner eifrig den Diskurs über die Ursachen dieser Probleme; darüber, dass sie unter anderem die unmittelbare Folge der aggressiven Außenpolitik des Putinschen Regimes ist, das vom Gerede über „russische Interessen im postsowjetischen Raum“ zur einer direkten Annexion eines Gebiets des Nachbarstaates überging. An sich würden diese Auftritte keine besondere Aufmerksamkeit verdienen, würde ein Teil der oppositionellen Autoren, die das datierte Ereignis kommentiert haben, die besagten „System-Liberalen“ à la Gref, Kudrin und dergleichen, nicht als wesenhafte Alternative zum Putinschen Regime betrachten (oder zumindest zu seinem „Macht-Flügel“).
Im Übrigen haben schon sehr bald auf dem internationalen Wirtschaftsforum in Davos zwei leuchtende Vertreter des russischen „System-Liberalismus“ – Dworkowitsch und Schuwalow – gezeigt, dass für derartige Illusionen keinerlei Basis besteht. Ersterer ist durch die Aussage aufgefallen, Russland mische sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Ukraine ein und leiste keine Unterstützung für die terroristischen Organisationen „DVR“ und „LVR“, der Zweite – alle Rekorde in untertäniger Speichelleckerei brechend – durch seine Rede über das russische Volk, das einen Machtwechsel von außen nicht zulassen und als Antwort auf die Sanktionen, allen Entbehrungen zum Trotz, sich nur enger um den geliebten Führer scharen wird.
In Fällen, wenn russische Truppen und von ihnen unterstützte Terroristen erneut aktive Kampfhandlungen im Osten der Ukraine führen, dienen derartige Auftritte nichts anderem, als einem informativen Deckmantel für militärische Aktionen. In solch einer Situation, können über eine „Spaltung der Elite“ und Diskrepanzen zwischen den „Silowiki“ (Vertretern der staatlichen Gewaltorgane) und der „System-Liberalen“ lediglich die Menschen ernsthaft sprechen, die den Bezug zur Realität verloren haben.
Kudrin, Gref, Dworkowitsch und andere zum Lager der „System-Liberalen“ zählenden hohe Beamte – das sind keine Alternativen zum Putinschen Regime, sondern ihr inhärenter Bestandteil. Sie erfüllen schlichtweg einige andere Funktionen innerhalb des Regimes als die „Silowiki“ und die „Patrioten“. Zum einen geben diese Menschen dem Regime eine wirtschaftliche Standfestigkeit, zum anderen treten sie als seine PR-Agenten auf. Apropos, an dieser Stelle sei bemerkt, dass unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise ihre Rolle womöglich sogar signifikanter für das Regime ist, als, sagen wir, die Rolle von Schoigu oder Rogosin. Wichtig ist auch zu verstehen, dass durch das Nachkommen dieser Funktionen in der Zeit, in der das putinsche Russland einen aggressiven Angriffskrieg führt, diese Menschen selbst zu Mittätern von Kriegsverbrechen geworden sind. Sie sind mit Putin durch Blut verbunden – diesbezüglich sollte es keinerlei Illusionen geben!
Nicht zu vergessen, dass die „Liberalen“ ihre besondere Rolle im russischen Machtsystem keineswegs in den Jahren der Putinschen Regierung erhielten. Seit Anfang der 90er, sitzend an der Steuerung der wirtschaftlichen Reformen, haben sie freien Wettbewerb sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft nicht als Schlüsselfaktor für durchführbare Reformation betrachtet. Die hässliche Privatisierung, Lombardgeschäfte, das „Vorwärtskommen“ von Tschubais&Co zur Zeiten der Präsidentschaftswahlen im Jahre 1996 und selbstverständlich auch die aktive Teilnahme an der Bestimmung des Nachfolgers von Jelzin, erscheinen hierfür als bildhafte Bestätigungen. Überaus bezeichnend ist, dass trotz des Übergangs der putinschen Diktatur auf eine neue Ebene, die Protagonisten des System-Liberalismus nicht vorhaben, auf die gewohnte Rhetorik zu verzichten. Dies bestätigen die monotonen Beschwörungen von Professor Yasin im TV-Sender „Rain“ über den unaufhörlichen Prozess des Marktwirtschaftsaufbaus.
Durch meine ehemalige berufliche Tätigkeit habe ich mir eine sorgfältige Analyse der Niederlagen angewöhnt, da gerade eine derartige Analyse eine erforderliche Voraussetzung für künftige Siege darstellt.
Die Massenkundgebungen im Winter 2011/2012 boten Russland die Chance auf einen friedlichen Regierungswechsel. Die wesentliche Kontroverse in den Reihen der russischen Zivilgesellschaft bezüglich der durch die Opposition verpassten Chance, entfaltete sich um die in nächtlichen Verhandlungen mit den Beamten der Moskauer Stadtverwaltung getroffene Entscheidung der Organisatoren, das Meeting am 10. Dezember vom Revolutionsplatz auf den Bolotnaya-Platz zu verlegen. Meines Erachtens war der entscheidende Punkt der Protestbewegung die Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt am 24. Dezember 2011. Wenn am 10. Dezember solch ein rasanter Teilnehmerzuwachs der Kundgebung nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition überraschte, dann war man zwei Wochen später der festen Überzeugung, dass die Massenbewegung der Aktion die Zahl der Bolotnaya übersteigen werde. Beim auffallenden Anstieg der Popularität von Internet-Gruppen zur bevorstehenden Kundgebung, wurde die Mobilisierung von praktisch allen oppositionellen Organisationen unterschiedlichster ideologischer Ausrichtungen beobachtet. Auch die Freilassung dutzender Aktivisten, einschließlich die von Aleksei Nawalny und Sergei Udalzow – festgenommen auf Kundgebungen am 4. und 5. Dezember – wirkten sich auf die Zunahme des Protestpotenzials aus.
Zur gleichen Zeit befand sich die Regierung offensichtlich im Zustand der größten Ratlosigkeit und allein der Umstand, dass zu dem Zeitpunkt Medwedew formell der Präsident war, erschien eine gewaltsame Auflösung der Kundgebung im Falle einer Zuspitzung der Situation auf dem Sacharow-Prospekt höchst unwahrscheinlich.
Ungeachtet der Massenbewegung der Kundgebung und der Anwesenheit anderer günstiger Faktoren, erwies sich der russische Protest in dem Moment nicht bereit für echte entschlossene Handlungen: die von der Bühne ertönten Worte „wir sind hier die Macht“ hätten entweder den Beginn des „russischen Maidans“ einläuten sollen oder sie waren dazu verdammt zum Fehlstart zu werden, was im Endeffekt auch geschehen ist. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet in diesem Augenblick eine alternative Aufforderung durch die auftretenden Repräsentanten des „unpolitischen“ Lagers für die Protestbewegung verkündet wurde, ausgedrückt in der berühmten Phrase „die Regierung soll man nicht wechseln, man solle sie beeinflussen“. Sogleich diese Position auch von den Protestteilnehmern auf dem Sacharow-Prospekt ausgepfiffen wurde, ihre fortwährende Einführung mit aktiver Unterstützung der primären liberalen Medien in den oppositionellen Diskurs trug ihre Früchte – der bedeutende Teil der Zivilgesellschaft war schlichtweg desorientiert und dadurch die Niederlage der Massenkundgebung prädestiniert.
Das erste Signal dafür, dass etwas faul war, wurde der Auftritt von Aleksei Kudrin auf der Bühne der Protestbewegung – Putins einstiger Weggefährte (apropos, ausgerechnet Kudrin und Tschubais hat Putin nach der Niederlage seines ehemaligen Chefs – Anatoli Sobtschak – bei den Bürgermeisterwahlen in Sankt-Petersburg seine Arbeit in der Hauptstadt in den obersten Behörden der Regierung zu verdanken). Viele wollten glauben, dass Kudrins Erscheinen auf dieser Kundgebung ein Zeichen für die Spaltung der Elite sei. In Wirklichkeit war sie ein Teil des Kreml-Plans zur Spaltung der Opposition.
Zu dem Zeitpunkt hatten die „System-Liberalen“ noch eine reale Chance mit Putin zu brechen und sich für ein Bündnis mit der radikalen Opposition zu entscheiden. Hätten sie auf diese Weise gehandelt, stünden die Chancen für einen friedlichen demokratischen Durchlauf durchaus gut und die „System-Liberalen“ erhielten auch die Option und das moralische Recht auf einen würdevollen Platz im neuen politischen System. Doch sie trafen eine andere Entscheidung – hinter Putin zu stehen. Und dieser Entschluss bedeutet, dass sie bis zum Ende bei ihm bleiben werden. Mitunter deshalb, da die Zahl und die Schwere der Verbrechen, zu denen sie einen unmittelbaren Bezug haben, mit jedem Tag steigen.
Ich hatte bereits die Gelegenheit dazu darüber zu schreiben, dass das Regime endgültig alle Merkmale eines faschistischen angenommen hat. Unter anderem bedeutet dies, dass der nächsten Zunahme der Protestbewegungen (und eine Zunahme ist in Anbetracht der sich rapid verschlechternden sozial-ökonomischen Situation unvermeidbar), der Konflikt zwischen der Regierung und der Gesellschaft nach einem weit härterem Szenario ablaufen wird, bei dem die „System-Liberalen“ keinen Raum für Manöver haben werden. Das wissen sie und deshalb werden sie sich bis zum Ende an Putins Seite klammern.
Es ist außerordentlich wichtig, dass dies auch die russische oppositionelle Gesellschaft begreift. Die Befreiung von den Illusionen ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Wiedergutmachung zugelassener Fehltritte, sprich: der Weg zum Erfolg.
Quelle: kasparov.ru; übersetzt von Kateryna Matey