Der russische Politologe und Publizist Andrei Piontkowski war gezwungen, Russland zu verlassen. Sein Anwalt Mark Feigin gab an, dass Piontkowski das Land verlassen musste, weil die russische Staatsanwaltschaft Anzeichen von Extremismus in einem seiner Artikel auf der Webseite von Echo Moskau unter dem Titel „Die Bombe ist scharf“ gefunden habe. In dem Artikel ging es um die Zukunft Tschetscheniens innerhalb Russlands.
- Den Artikel in deutscher Übersetzung finden Sie hier: „A.Piontkowski über Kadyrow und Tschetschenien: Die Bombe ist scharf“)
In einem Interview mit Apostrophe gab Piontkowski keine Einzelheiten zu seiner Flucht bekannt und sagte auch nicht, in welchem Land er sich nun aufhalte. Er teilte mit, die Strafverfolgung gegen ihn sei durch das tschetschenische „Parlament“ eingeleitet worden. Nach Piontkowski Meinung spitzt sich in Russland gerade wegen des Anführers von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, ein Konflikt zwischen dem Innenministerium und Putin zu, der womöglich sogar in einem neuen tschetschenischen Krieg münden könnte. Und jeder Krieg ist ein Kriegszustand, der zur vollständigen Liquidierung von Liberalen genutzt werden kann.
– In den russischen Medien wird gerade aktiv das Thema von Unruhen in Kyjiw vorangetrieben, die man bereits als „dritter Maidan“ bezeichnet. Was denken Sie, könnte ein dritter Maidan tatsächlich entstehen?
– Sie haben richtig angemerkt, dass diese Ereignisse in den letzten Tagen in der russischen Propaganda Thema Nr.1 geworden sind. Wie immer werden aber die Fakten verdreht und die Informationen aus den Fingern gesaugt. Die russische Propaganda verrät sich gerade ziemlich einfältig, indem sie bestätigt, dass dieser sogenannte „dritte Maidan“ in Wirklichkeit ein alter Traum Putins sei. Denn unter Bedingungen des Krieges wird ein gewaltsamer Sturz der Staatsstrukturen zu einem echten Zerfall des Staates und einem Riesengeschenk an den Aggressor werden. Ich bin sicher, dass man das in der Ukraine ausgezeichnet versteht und die Ukraine sich trotz aller Schwierigkeiten, trotz der immensen Enttäuschung der Gesellschaft auf so ein Abenteuer wie einen „dritten Maidan“ nicht einlassen wird.
– In letzter Zeit sehen wir eine richtige Hetzjagdswelle auf russische Liberale und Oppositionsführer: Kasjanow, Chodorkowski, Koch. Und nun das Strafverfahren, das gegen Sie wegen eines Artikels über Kadyrow eingeleitet wurde… Wie kommentieren Sie dieses Vorgehen?
– Interessant ist hier gerade die Tatsache, dass viele repressive Initiativen gerade von Kadyrow ausgehen. In Bezug auf mich zum Beispiel ist die Verfolgung ebenfalls durch das „tschetschenische Parlament“ initiiert worden.
Ich mache schon so viele Jahre alles mögliche mit unseren Machthabenden, und war bislang lebendig, gesund und sogar in Freiheit. Aber sobald ich ein paar unangenehme Sachen bezüglich Kadyrow sagte, forderte das ganze tschetschenische „Parlament“ einmütig eine gerichtliche Abrechnung mit mir. Diese Forderung sprach der sogenannte Sprecher dieses Parlaments, ein „Lord mit Hündchen“, wie ich ihn nenne, ein gewisser Herr Daudow, der seine Finger in sehr vielen außergerichtlichen Abrechnungen der tschetschenischen Machthabenden mit ihren Gegnern hatte. Und was sehen wir? Föderale Behörden Russlands stürzen sich wie kleine Hündchen darauf, diesen Willen Daudows und des sogenannten tschetschenischen Parlaments zu erfüllen. Unsere föderalen Strukturen – die Duma (Parlament), das Ermittlungskomitee, die Generalstaatsanwaltschaft und der FSB – reißen einander die Initiative regelrecht aus den Händen und beschäftigen sich nun mit meinem Fall. Das alles bestätigt ein weiteres Mal die Metapher, über die ich seit Jahren spreche: Russland ist ein Teil Tschetscheniens.
– Wovor fürchtet sich Kadyrow Ihrer Meinung nach?
— Kadyrow weiß, dass die Innenministeriumstruppen ihn längst hassen, die glauben, dass Putin ihnen den Sieg gestohlen hat, als er Kadyrow und seinen Söldnern so viel Macht gab. Darum versucht er nun auch auf jedwede Art, sich Putin gegenüber als nützlich und treu zu erweisen, denn er ist sein einziger Verbündeter in Moskau. Er macht es aber nicht immer erfolgreich, denn jegliche Omnipotenz der Tschetschenen auf russischem Territorium verärgert nicht nur die Mitarbeiter des Innenministeriums, die „5. Kolonne“ oder „liberale Schaitane“, wie Kadyrow sie nennt, sondern auch jeden Durchschnittsrussen, dem es einfach nicht gefällt, dass die Vertreter dieser „gleichberechtigsten“ Republik auf russischem Boden wirtschaften.
— Kann man in dem Fall annehmen, dass all diese Verfolgungen von Liberalen eine Vorbereitung des Kreml auf etwas Größeres ist?
— Putin ist in eine Falle geraten. Erst in der Ukraine, dann – in Syrien. Er spielt kein Schach mit dem Westen sondern Poker und darum ist er gezwungen, den Einsatz immer weiter zu erhöhen. Er muss der russischen Öffentlichkeit irgendwelche Siege demonstrieren. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und einer bedeutenden Verschlechterung des Lebensstandards kann er seine Macht nur noch durch die Demonstration außenpolitischer „Siege“ aufrechterhalten. Und dafür muss man den Einsatz erhöhen und sich auf noch größere Abenteuer einlassen. Wo genau diese Abenteuer stattfinden? Vielleicht in Syrien oder in der Ukraine. Wenn man es zum Beispiel schafft, einen dritten Maidan hochzuschaukeln, dann natürlich in der Ukraine. Vielleicht wird aber auch Tschetschenien ein neuer Kriegsschauplatz. Die Armee und das Innenministerium könnten Putin davon überzeugen oder auch gegen seinen Willen einen dritten tschetschenischen Krieg entfachen. In jedem Fall bedeutet ein Krieg einen Kriegszustand, was ein ganz anderes Verhältnis zu sogenannten Nationalverrätern voraussetzt.
Darum ist die wahrscheinlichste Erklärung für das, was gerade passiert, dass die Gesellschaft auf die vollständige Entsorgung derjenigen vorbereitet wird, die man als 5. Kolonne oder sogenannte Liberale bezeichnet, und zwar mit der Ausrufung des Kriegszustands. Die Bevölkerung muss moralisch schrittweise auf den groen Terror vorbereitet werden.
– Also ist es eine Art Kampf um Umfragewerte am Vorabend der Wahl?
— Ach, vergessen Sie doch diese Wahl. Die Wahl ist eine absolute Imitation, die überhaupt nichts entscheidet. Putin hat dem Liberalen-Anteil und der Weltgemeinschaft ein politische Agenda aufgedrängt, die mit der Wahl verknüpft ist. Die reale politische Agenda in Russland ist aber etwas gänzlich anderes. Es sind jene Kriegsabenteuer und Entscheidungen, die vom Kreml getroffen werden.
— Wozu braucht Putin Kadyrow überhaupt?
— Seine ganze Legitimation fußt darauf, dass er den Tschetschenien-Krieg „gewonnen“ hat. Erinnern Sie sich, wie man ihn 1999 aus dem Nichts zu uns gebracht hatte? Wir wurden von Terroristen in unseren eigenen Häusern gesprengt (in Wirklichkeit war es der FSB), und dann tauchte auf einmal ein heroischer Geheimdienst-Offizier auf, der die Terroristen gestoppt, den Kaukasus bezwungen, den Krieg gestoppt hat…
Und Kadyrow jetzt zu einem Feind zu erklären, nach Tschetschenien zu gehen, um ihn wegzuräumen, wie man es sich im Innenministerium wünscht – das bedeutet eine Anerkennung der Tatsache, dass Putin uns all diese 15 Jahre angelogen und diese ganze Politik eine Niederlage erlitten hat. Die Beendigung des Projekts „Kadyrow“ – das ist eine Entscheidung, die Innenministeriumstruppen und die Armee von ihm fordern. Sie benutzen den Mord an Nemzow, den sie selbst organisiert haben, als Anlass zur Beendigung des „Kadyrow“-Projekts. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Festgenommenen tatsächlich die unmittelbaren Ausführenden sind – und sie sind Kadyrows Söldner. Die Ermittler wollen Leute aus dem engsten Umfeld von Kadyrow befragen, sie wollen Kadyrow selbst befragen. Und das ist ein sehr heftiger politischer Konflikt, der sich in Moskau zwischen den Innenministeriumstruppen und Putin entfaltet. Viel heftiger als der zwischen Jazenjuk und Poroschenko.
— Sie haben aber doch in Ihrem Artikel auf „Echo Moskau“ richtig angemerkt, dass dies „eine scharfe Bombe ist“…
— Ja, absolut richtig, Anscheinend habe ich einen Schmerzpunkt berührt.
— Was planen Sie weiter zu tun?
— Meine Arbeit hängt vom Computer ab, den ich dabei habe, von Skype, und ist überhaupt nicht von meine geografischen Standort abhängig, also wird sich nichts ändern.
— Baschar al-Assad gab eine Erklärung ab, dass er zu einer Waffenruhe bereit ist. Kann diese Erklärung etwas Reales bedeuten?
– Denke ich nicht. Das ist nur eine neue Windung der Demagogie von Assad und dem Kreml. Allen ist doch klar, womit der Kreml am 30. September nach Syrien kam. Sie kämpfen nicht gegen den IS. Noch im November tauchten Enthüllungen der amerikanischen Steuerfahndung und unseres berühmten Mediengranden Wenediktow (Chefredakteur von EchoMoskau) darüber auf, dass Russland mit dem IS zusammenarbeitet, indem es den Verkauf von Erdöl an Assad betreut. Sie vernichten nicht die IS-Opposition, sondern die prowestliche Opposition von Assad. Vor den Augen der ganzen Welt wird die Stadt Aleppo dem Boden gleichgemacht, die das Zentrum dieser Opposition war. Und wenn das Verhalten von Putin und Assad standardmäßig vorhersehbar war, so ist das Verhalten von Obama und Kerry auf diesem Hintergrund absolut schändlich. Letzterer führt permanent irgendwelche Verhandlungen mit seinem Freund Sergei (Lawrow), der längst nach Den Haag gehört. Ich persönlich würde sie beide dahin schicken: Lawrow-Ribbentrop und Kerry. Denn Aleppo wird langsam ebenso zu einem Symbol der Verbrechen Assads, Putins, Obamas und Kerrys wie Sarajevo ein Symbol der Verbrechen Milosevics und des schweigenden Westens und der UNO war.
Ja, Lawrow verheimlicht nichts. Auf allen Pressekonferenzen spricht er davon, dass wir – egal welche Friedensabkommen unterzeichnet worden sind – die Terroristen weiterhin vernichten werden. Denn sie bedrohen Russland, und wenn wir sie nicht in der Ferne vernichten, werden sie zu uns nach Russland kommen. Aber in Aleppo gibt es niemanden, der Russland bedroht oder zum IS gehört. Dasselbe wiederholt auch Assad: „Ja, natürlich sind wir zur Waffenruhe bereit, aber es kann keine Waffenruhe mit Terroristen geben…“
- Lesen Sie zum Thema: „General Ahmad Rahal: “There are some 12,000 Russian troops in Syria now, complicit in the genocide of the Syrian people“
– Was hat denn Assad mit diesen Aussagen erreicht?
– Der ganze Trick besteht in der Assad eigenen Definition eines Terroristen: „Ein Terrorist ist jeder, der gegen mich kämpft“. Absolut zynisch und unverschämt hat sich auch Moskau dieselbe Definition angeeignet. Und nun muss jeder, der gegen Assad kämpft, vernichtet werden. Und die USA tänzeln um Assad und Putin herum, während diese Menschen physisch vernichten, die westlich orientiert sind und die der Westen zum Kampf gegen Assad aufgerufen hatte, denen er zaghaft eine unbedeutende aber immerhin doch Unterstützung erwiesen hatte. Das ist ein kolossaler Verrat der Sunniten, der sunnitischen Mehrheit der Bevölkerung Syriens. Und das einzige Resultat von all dem wird sein, dass die sunnitische Jugend, von diesem Verrat enttäuscht, die IS-Reihen auffüllen wird. Das, was Assad, Putin und leider auch die USA in Syrien tun – das ist kein Kampf gegen den IS, sondern die Arbeit an seiner Stärkung. In Wirklichkeit ist es auch eine gute Lehre für die Ukraine.
— Wie meinen Sie das?
– Für die Ukraine ist die Unterstützung des Westens sehr wichtig, sowohl durch Europa als auch durch die USA. Und diese Unterstützung, wenn gleich unzureichend, kommt – in Form politischer, wirtschaftlicher und sogar ein wenig militärischer Unterstützung. Und Sie müssen diese Beziehungen erweitern: Dort gibt es Menschen und Strukturen, die sich für die Unterstützung der Ukraine engagieren, für die Verteidigung jener Werte, die durch den Maidan geschaffen worden sind. Das Verhalten von Obama und Kerry in Syrien aber muss eine Warnung für Sie sein, dass diese Menschen Sie jederzeit verraten können.
– Was ist Ihre Prognose bezüglich der weiteren Entwicklung der Lage in Syrien? Wir sehen, dass der Kriegsschauplatz immer näher an die Grenze zur Türkei rückt…
– Ja, und in Bezug auf die Türkei treten die USA ganz und gar nicht in der Rolle eines Verbündeten auf. Putin provoziert die Türkei: Er vernichtet die Turkmenen, die ethnisch den Türken sehr nahe stehen, er bewaffnet die Kurden in Syrien und muntert sie zum weiteren Vorstoß zur türkischen Grenze auf, und die USA halten die Türkei mit allen Kräften zurück. Die Türkei ist ihr Verbündeter in der NATO, aber aus Washington erklingen gleich entfernte Aufrufe an beide Seiten – Moskau und Ankara – sich zurückzuhalten. Brüssel und Washington warnen beide die Türkei, dass sie sich nicht auf Artikel 5 berufen kann (Artikel aus dem NATO-Statut über die Reaktion im Falle eines Übergriffs auf eins der Allianz-Mitgliedsländer), dass sie in diesem Konflikt nicht mit der Solidarität des NATO-Blocks rechnen kann.
– Was ist Putins Interesse an dieser Provokation der Türkei? Erdogan hat doch schon zu verstehen gegeben, dass diese Spiele mit ihm gefährlich sind…
– Erstens hat er Spaß dran, die NATO zu erniedrigen. Wofür mischt er sich denn da ein? Um sich selbst und seinen Kumpanen aus der Kooperative „Osero“, und den russischen Fernsehzuschauern zu zeigen, was für ein großer, entscheidungskräftiger Hengst er doch ist. Und das gelingt ihm, denn der Krieg entfaltet sich gerade nach dem putinschen Szenario. Wozu ist er denn nach Syrien gekommen: Um Assad zu helfen und die komplette prowestliche Opposition zu vernichten. Damit bleiben in Syrien nur zwei Spieler: Assad und der IS. Und dann können sich Assad und Putin an die Weltgemeinschaft wenden und sagen: „Und, wen wollt Ihr jetzt unterstützen: uns oder diese hier, die Euch die Köpfe abschneiden?“ Die einzige Kraft, die in der Lage ist, dieses Spiel zu durchbrechen, ist die Türkei. Und gerade sie halten die Amerikaner an Händen und Füßen fest.
– Also hat Putin doch alle überspielt?
– Na, das sieht nur so aus. All diese seine taktischen Siege bahnen nur den Weg für eine riesige strategische Niederlage. Es ist offensichtlich, dass er in der Ukraine verloren hat, dass es keine „russische Welt“ gibt, kein „Neurussland“, darum musste man sich jetzt in Syrien einmischen und dort irgendwelche „Siege“ demonstrieren, damit die Bevölkerung ihn unterstützt. Aber in dieser Zeit stürzte die Wirtschaft so drastisch ab, dass es bereits zu Arbeitslosigkeit gekommen ist, zu Schwierigkeiten mit der Versorgung und Lebensmitteln. Syrien – das ist doch zu weit weg. Wahrscheinlich gefällt es dem russischen Durchschnittsbürger, vor dem Fernseher zu sitzen, mit Popcorn und Bier, und sich anzuschauen, wie Putin alle überspielt, aber wenn es kein Popcorn und kein Bier mehr gibt, und andere wesentlich elementarere Sachen auch nicht mehr, dann vergessen alle sehr schnell dieses Syrien und fangen an, nachzuhaken, was denn eigentlich bei uns im Land geschieht.
— Also steigt der innere Protest doch an?
– Das ist schwer zu beurteilen. Die Lage verschlechtert sich tatsächlich ernsthaft. Wann der Protest aber ausbrechen wird – das ist unmöglich vorauszusagen. Klassisches Beispiel: Ende Februar 1917, als Lenin mit einem Vortrag vor den jungen schweizerischen Sozialdemokraten auftrat, wurde er gefragt: Wann findet die Revolution denn statt? Und er antwortete: Wir, die Alten, werden es nicht mehr erleben, Ihr Jungen aber schon. Er kam von seinem Vortrag zurück nach hause, und dort lag ein Telegramm aus Petrograd (St.Petersburg), dass die Revolution begonnen hat. Was war denn passiert? Nichts besonderes, nur gab es zwei Tage hinter einander kein Brot in den Petersburger Bäckereien. Nebenbei gesagt, gab es genug Brot, nur war der Zug irgendwo stecken geblieben. Wann die Geduld der Massen am Ende ist – das ist sehr schwer zu prognostizieren. Aber der Vektor der Veränderungen führt unvermeidlich zu einer bestimmten Seite.
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