Da draußen ist ein Röntgen-Jahr.
Bei uns im Garten ist ein flame bush aufgeblüht: Das Apokalypse-Jahr.
Wir haben uns am Poem „Moskau-Petuschki“ berauscht. Uns haben die besoffenen Assis gefallen. Sie schienen uns heilig zu sein. Wir hielten uns selbst für schlechter als sie. Nun ist die Zeit dieser Heiligen gekommen.
Wem die Stunde schlägt? Wem heult die russische Intelligenzija nach?
Wir sind auf den Boden gesunken, haben zurückgeschaut: „Ihr Nachbarn, Ihr Lieben, schwimmt zu uns! Lasst uns zusammenleben! Ach, Ihr Drecksäcke, wieso wollt Ihr denn nicht zu uns herunterschwimmen???“
Man kann es als einen Guiness-Rekord auffassen. Sogar für die russische Geschichte, die verschiedene Wendungen gewohnt ist, ist etwas ähnliches kaum vorstellbar. Wir sind die Champions! In so einer Zeit zu leben! Da kann man stolz drauf sein.
Bocksprünge der russischen Geschichte. Hätte ich mir vorstellen können, so im Jahr 1979, als ich den „Metropol“ machte, dass es einen Krieg Moskau-Kyjiw geben wird?
Vielen Dank an die Regierung!
Vielen Dank an das Volk!
Sich an den Händen haltend, haben sie eine Sache ohnegleichen organisiert!
Jemand ist hysterisch, weil er denkt, dass dies ein Weg zum Dritten Weltkrieg ist.
Jemand schreit laut: Schande!
Hat man es denn vorher nicht verstanden?
Die Obrigkeit war ein Puffer. Sie ist auch jetzt ein Puffer. Gib‘ dem Volk freie Wahlen, so wird die heutige Obrigkeit durch das kompromisslose Volk weggespült.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Obrigkeit dem Westen gegenüber in den Masken von Gaidar und Tschubais gezeigt, hat Sacharow als Zeugen vorgewiesen. Aber es waren nur Masken. Es ist an der Zeit, sich vom Westen abzuwenden, ihm unser wahres Gesicht zu zeigen: die Spiegelung unseres Arsches.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die befreiten Nationen ihre eigenen prodeutschen Ideologen-Propagandisten gehasst. Viele von denen wurden erschossen oder erhängt.
Aber wir haben den goldenen Fallschirm der Lethe. Wir werden über den Krieg Moskau-Kyjiw ganz schnell vergessen, wie immer er ausgehen mag. Wir werden ihn genauso vergessen, wie den Krieg in Ruanda. Wir werden alles vergessen.
Einst dachten wir irrtümlicherweise, dass eine neue Generation kommen wird, und Buße für alle üben wird, wie einst in Deutschland. Und jetzt ist eine neue Generation gekommen. Mit einer Keule.
Danke an Putin. Er hat eine detaillierte Einsicht in die russische Seele veranstaltet. Wie ein Röntgengerät hat das Fernsehen die Eingeweide der völkischen Leidenschaften und Wünsche entblößt. Das Fernsehen hat angefangen, nicht eine Propagandasprache zu sprechen, sondern die vertraute, die Volkssprache. Guten Tag, unser erstgeborener Rassismus!
Die Intelligenzija ist zu einem marginalen Element der Gesellschaft geworden. Den zerstückelten Intelligenzija-Resten sind die Arme heruntergefallen, hängen nun, wie zwei Riemenpeitschen: Wie soll man so weiterleben?
Wie kann man HIER weiterleben?
Was für eine lächerliche Frage! Als ob das zum ersten Mal wäre! Wie kleine beleidigte Kinder! Lasst uns das postrevolutionäre Sammelwerk „Aus der Tiefe“ ins Gedächtnis rufen. Die waren ja aufgewacht! Die hatten angefangen, das Volk „Schweinefressen“ zu nennen. Aber jene „Schweinefressen“ waren auf eine Art folgerichtig: Sie haben Europa in der Person von Minin und Poscharskij verneint. Sie wollten auch von der Leibeigenschaft durch Napoleon nicht befreit werden, sie sind auch bei Nikolai II. unter die Fahnen und Khorugv (religiöse Fahnen) der Schwarzen Hundert entgegengegangen, die Liberale physisch vernichtete.
Wir gewöhnen uns wieder daran, als marginales Element zu existieren, fremd, feindselig, wie es eben nach der Revolution auch war.
Nach der Revolution ist die Intelligenzija, um nicht zu verhungern, in die Aufklärung gegangen. Der Aufklärer Gorkij hat Pläne für Kulturalisierung von Russland entworfen. Und die sozial dem Volk nahestehende Obrigkeit hat das Projekt der vollständigen Schriftkundigkeit der Bevölkerung verwirklicht. Dank der allgemeinen Schriftkundigkeit wurde der russische Mensch durch den sowjetischen ersetzt.
Neue Phase der Aufklärung für viele Jahre?
Coup d’etat so groß wie der Kreml?
Verschwörung des Mittelstandes?
Der reicht nicht mal für die halbe Fläche des Kremls…
Das Volk ist von den Verboten begeistert. Das Volk möchte seine Jugend zurück, und sich wieder mal in eine endlose Schlange für die weltbeste Scheißwurst stellen.
Die Intelligenzija wird sich im Sande verlaufen. Ihre kleinen oppositionellen Medien bewegen nicht wirklich jemanden. Wenn man sie aber verbietet, werden nur wieder Stimmen von „da drüben“ zu hören sein. Wozu? Sollen die sich lieber selbst entlarven. Vernichten kann man ja immer. Großer Terror unter Volksapplaus.
Russland hat für sich kein Urteil unterschrieben sondern einen Freibrief. In diesem Freibrief steht nämlich, dass wir fähig sind, auf unsere eigene Art und Weise zu leben.
Wir zahlen für kindliche Komplexe und erwachsene Kränkungen EINES Menschen. Wir zahlen für temporäre Schwächen des modernen Westens. Wir zahlen dafür, dass der Westen sich zu diesem Einen Menschen so gedreht hat, dass der Eine Mensch seine Käuflichkeit (Schröder) und seine Liederlichkeit (Berlusconi) gesehen hat. Dieser Westen hat wie das Erbrochene nur Verachtung hervorgerufen. Diesen Westen kann man mit einem Rotz überspucken. Wer ist Schuld, dass ihm kein anderer Westen gezeigt wurde? Wer ist schuld, dass er kein LESER ist? Auch wenn er was gelesen hat, so etwas anderes…
Verarschen auf Russisch. Wir kriechen in die längste Agonie der Welt hinein. Stellen noch einen Guiness-Rekord auf. Wie angenehm, wie vertraut uns das ist. Einem Menschen, von einem kleinen Haufen an treuen Freunden umgeben, von seinen Schaschlik-Kumpanen aus der Jugendzeit, zu erlauben, ganz Europa zu ängstigen, die ganze Welt in Furcht zu versetzen…
Die sind da, in ihrem verkackten Europa, beunruhigt, telefonieren hin und her, ihn rufen sie auch an, diesen Einen Menschen, reden ihm zu, wedeln mit dem Schwanz, schmelzen dahin… Er weiß, dass er unbeliebt ist, aber doch gefürchtet, und das ist gut. Und die treuen Freunde lachen lauthals, sind regelrecht in Gelächter ausgebrochen, spuckend auf die idiotischen Sanktionen, und verstehend, wie er gefürchtet und somit sie alle mit ihm gefürchtet sind.
Und die Leichen?
Versteckt die Leichen! Das ist unsere kleine Kriegslist.
Was für ein Krieg ohne die Leichen? Und was bedeuten sie, diese Leichen?
So werden sie es in Europa nicht sagen! Und das ist ihre Schwäche eben.
Die Nachricht des Jahres 2014 (alt wie die russische Welt): Wir sind keine Europäer! Und wir sind stolz drauf! Wir waren noch nie Europäer.
Wer sind wir dann?
Wir sind Matroschkas in Camouflage.
Die russische Welt ohne Grenzen. Wir sind alle mit der russischen Welt eingeschmiert.
Die Matroschkas werden siegen, weil die russische Seele weniger Angst vor dem Tod hat, als die anderen, als alle anderen. Und sie hat weniger Angst vor dem Tod, weil sie nicht an einer Persönlichkeit befestigt ist, die Verantwortung für das Leben übernimmt, sondern an einem Menschen, der keine Vorstellung von irgendsoeiner Verantwortung hat.
Wer hat Assis gesagt?
Das ist eine andere Seelenordnung. Die trifft man in verschiedenen Teilen der Welt, zum Beispiel in den afrikanischen Dörfern. Ich liebe es, nach Afrika zu fahren. Sie sind da alle Brüder. Schauen die Weißen von oben herab an. Sie haben eine Religion der direkten Einwirkung, wie wir auch, Weiße wider Willen!
Und China? Hat man da auch keine Angst vor dem Tod?
Wir sind bereit, einen Wettlauf mit den Chinesen zu machen, wer weniger Angst vor dem Tod hat.
Und sie werden wir am Ende auch erschlagen.
Wir werden uns angeblich flach legen lassen, aber sie dann doch erschlagen. Wie uns das gelingt, wissen wir nicht, aber es wird uns gelingen. Wir mögen keine Chinesen. Wir lieben Lieder aus Europa, aber unsere sind besser, Chanson sind bei uns reicher. Und der Niva ist eh der beste Geländewagen der Welt!
Die Intelligenzija tritt auf die gleiche Harke. Sie beschuldigt die Obrigkeit, und nicht das Volk. Aber wie soll man das Volk beschuldigen? Was ihm zur Last legen? Dass es ein Volk ist? Die aufgeklärte Klasse nimmt das Volk als ein Geschichtsobjekt wahr, das belogen wird, und nicht als Subjekt, das an sich phänomenal ist.
Wir dachten: Da ist ein Kästchen voller Schmuck. So zu denken haben uns die Besten des 19. Jahrhunderts geholfen: Dostojewskij und Tolstoj. So haben fast alle unsere Schriftsteller, Landlebenbewunderer, Solschenizyn gedacht…
Und da war ein Sarg mit verfaulten Eingeweiden. 2014 hat man das Grab geöffnet. Der Gestank kam heraus!
Was wird sein?
Gar nichts wird sein.
Das Geheime wurde bloßgelegt.
Für eine breite Minderheit.
Ja, mit der Zeit wird man wieder nach Europa gehen können, obwohl wir den Polen, den Balten einen festen Grund gegeben haben, uns zu hassen. Sogar die Bulgaren haben wir verunsichert.
Russische Europäer oder Halbeuropäer kann man sein, aber es funktioniert nicht!
Es gibt keine polnischen oder französischen Europäer. Wir wollen Europäer sein, aber unter der Bedingung unserer mißlungenen Beschaffenheit.
Weder eine Geburt, noch eine Wiedergeburt.
In der Sowjetunion haben wir überlebt, obwohl das ganze Gerede um uns herum keinen Sinn machte. Aber damals hat sich – je länger, desto mehr – das Gefühl der Ungläubigkeit an die Utopie entwickelt. Wir wurden von Herbstfliegen regiert. Und erst jetzt wurden die Schleusen aufgemacht. Klug eingefädelt! So kann man noch eine Zeitlang an der Oberfläche bleiben. Wir wollen doch nicht einfach nur ein Europanachahmer sein! Wir wollen Wetten laufen! Rennen, um Portugal zu überholen! Soll das alles blau brennen!
Die Schleusen sind offen.
Aber am Ende werden wieder die Herbstfliegen regieren.
Antworten wir mit einem neuen Silbernen Zeitalter auf den reaktionären Stolypin, auf seine Wagen und Halstücher! Aber wo sind die Talente?
In einer weiten Perspektive wird in Russlands Organismus ein neuer Krieg zweier Viren anfangen: des imperialistischen und des europäischen. Aber darauf zu hoffen, dass das Volk irgendwann mit dem europäischen Geist angesteckt wird, ist ziemlich schwer. Man muss auf einen neuen Peter I. warten, mit seinen aufgezwungenen proeuropäischen Reformen. Der ist aber noch weit und breit nicht zu sehen.
Quelle: eine Kolumne von Wiktor Jerofejew in Snob.ru; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Wiktor Jerofejew: Wie kann man hier weiterleben?”
18/10/2014
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