
Dieses Interview ist vom 12. August 2013
Was ist zu erwarten? Diese Frage stellten wir Politikern, Soziologen, Vertretern staatlicher Behörden, Menschen an der Macht und ihrem Umfeld, sowie denjenigen, die sich in Opposition zu ihnen befinden. Und obwohl wir das Gefühl haben, dass die Antwort bereits vorbestimmt ist, stellen wir unsere Frage an den letzten Enzyklopädisten unserer Zeit, einen epochal denkenden Menschen, der zwischen kulturellen Schichten operiert, der die Mathematik, Anthropologie und Philologie vereint, der in allen europäischen Sprachen sowie in vielen Sprachen der untergegangenen Zivilisationen liest, der ein Professor an der amerikanischen Universität UCLA und an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften ist, sowie er ein Buchautor und Verfasser von mehr als 1000 Publikationen ist – an den Akademiemitglied Wjatscheslaw Wsewolodowitsch Iwánow.
Geboren 1929. Sein Vater ist ein bekannter sowjetischer Schriftsteller, Autor des Theaterstücks „Panzerzug 14-69“ Wsewolod Iwánow. Die wissenschaftlichen Interessen von Iwanow liegen im Bereich der mathematischen Sprachwissenschaften, Anthropologie und Literaturwissenschaften. Den Großteil seines Lebens widmete Iwanow der Forschung von indoeuropäischer Ursprache und indoeuropäischem Gemeinwesen. Wjatschelsaw Iwanow ist ein Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. 1951 schloss er sein Studium an der philologischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität ab, an der er später Seminare über die mathematische Linguistik führte (1955—1958), was das erste Seminar dieser Art landesweit war. Weil er mit der offiziellen Bewertung von Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“ nicht einverstanden war und den berühmten Sprachwissenschaftler und Professor der Harvard University Roman Jacobson unterstützte, wurde er 1958 aus der Moskau Staatsuniversität entlassen. 30 Jahre später, während der Perestroika, wurde diese Entscheidung der Universitätsleitung als fehlerhaft anerkannt und annulliert. Iwanow wurde zum Leiter des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte der Weltkultur und später gar zum Leiter des Instituts der Weltkultur an der Moskauer Staatsuniversität. Bis dahin leitete er 18 Jahre lang den Sektor für strukturelle Typologie an dem Slawistik-Institut in der Wissenschaftsakademie der UDSSR. 1989 – 2001 unterrichtete er an der Stanford University in USA. Seit bereits 20 Jahren (seit 1992) ist er als Professor in der Abteilung für Slawische Sprachen und Literatur und im Programm der Indoeuropäischen Forschung an der UCLA (Universität von Kalifornien) in Los Angeles tätig. Außerdem hält Professor Iwanow Vorlesungen an der Russischen Staatlichen Universität der Geisteswissenschaften.
– Ich fürchte mich vor Pariser Kommune. Was war damals? Sie haben einen vorläufigen Erfolg erreicht, was man, wie ich denke, durchaus auch in Moskau erzielen kann, aber nur unter der Bedingung wenn z.B. ein Teil der OMON (Spezialeinheiten der Polizei) oder irgendein Teil von denen, die man „Silowiki“ nennt, Putin satt und aus eigenen Gründen ihn loswerden wollen wird – dann kann man einen vorläufigen Gewinn erzielen. Aber das wird mit einem großen Blutvergießen enden. Das ist das, womit die heutige französische bürgerliche Demokratie angefangen hatte, als Resultat der Großen Französischen Revolution, die etwa 100 Jahre lang dauerte. Unsere Revolution, die 1905 begann, dauert ebenfalls etwas länger als 100 Jahre. Russland ist aber wesentlich größer, deshalb können die genauen Fristen bei uns und in Frankreich nicht übereinstimmen. Aber das, was gerade passiert – das ist der letzte Abglanz dessen, was 1905 begann. Das Endergebnis ist uns klar: Bürgerliche Demokratie – das wird kommen. Die Frage ist: Zu welchem Preis? Der höchste Preis ist ein gescheiterter Aufstand. Je erfolgloser, desto blutiger. Dieser Aufstand kann sogar einen kurzen Sieg erzielen, wird aber später niedergeschlagen. Und er wird viel Blut kosten.
Ich übertreibe nicht – die ganze Geschichte spricht dafür. Es bedeutet also, dass man ein schlaues System finden sollte, das einen Teil der Führungsspitze überzeugen könnte, dass es für sie günstiger ist, die Sache friedlich zu beenden. Davon kann man weder Putin noch Medwedew oder Tschurow usw. überzeugen, aber eine gewisse Anzahl der Oligarchen – also Menschen, die reale Finanzmacht und andere Einflusshebel besitzen – durchaus. Wir haben die Wahl: Entweder vergießen wir viel Blut, oder es finden sich doch noch kluge Politiker. Kluge Politiker bedeutet nicht, dass sie gute Menschen sein sollen. Das bedeutet Menschen, die bereit sind, Kompromisse einzugehen. Und in diesem Fall brauchen wir einen Kompromiss: Ablösung der Führungsmacht ist notwendig, und zwar je schneller, desto besser, aber das sollte man vorsichtig machen.
Der Fehler von Chodorkowski
– Halten Sie es nicht für möglich, dass sich Putin auf eine Liberalisierung des Regimes einlässt?
– Das ist einfach unmöglich. Weil er eine pathologische Leidenschaft besitzt, für Geld schätze ich. Nicht für Macht, denn in dem Fall könnte man ihn einfach zu „Seiner Majestät“ ernennen. Er denkt wahrscheinlich darüber nach. Aber er ist ein Feigling. Wenn er keine Angst hätte, könnte er zum Imperator werden. Lieben tut er dennoch symbolisches Geld. Aber sagen Sie mir doch, wozu braucht er denn soviel? Das ist eine Abnormität, und eine sehr ernsthafte: Er versteht, dass er nirgendwohin fliehen kann, obwohl es die optimalste Variante wäre, wenn er in ein Flugzeug steigen und, sagen wir, nach Finnland oder Italien fliegen würde. Aber darauf werden Ermittlungen, Interpol und andere Probleme folgen, und er versteht das. Ich lese in seinem Gesicht eine Mischung aus Feigheit, geringem Verstand, Talentlosigkeit und irgendwelchen unterdrückten Selbstkomplexen, die ihn zur einer sehr gefährlichen Persönlichkeit machen. Ich fürchte, er bildet sich ein, die Verkörperung des nationalen Geistes oder sowas ähnliches zu sein. Daher auch diese Spielchen mit der Russischen Orthodoxen Kirche.
– Viele werden Ihnen nicht zustimmen. Sie werden sagen, dass Sie Putins Schlauheit und Getriebenheit unterschätzen. Er hat die Oligarchen erledigt: Einen hatte er zur Emigration gedrungen, einen anderen, wie Chodorkowski, ins Gefängnis gebracht – die restlichen haben die Lektion gelernt. Er hat den Business gezwungen, Steuern zu zahlen – seine Vorgänger, kein einziger von ihnen, hatte das hinbekommen. Er hat ihnen beigebracht, dass es im Lande ohne sein Einverständnis nichts geschieht – keine großen Kaufverträge, keine Bereicherung, keine Investitionen.
– Er ist ein Bandit. Ein Bandit kann sehr viele Dinge machen. Stalin war ein Bandit. Und in dieser Hinsicht ist er wohl mit Stalin vergleichbar, denn Stalin war auch ein unkluger und wenig begabter Mensch. Aber er war ein Bandit. Und diejenigen, mit denen er sein politisches Spiel spielte, sogar Bucharin, der wohl mit ihm befreundet war, haben ihn als einen Menschen wahrgenommen. Aber er war kein Mensch, er hatte keinerlei menschliche Emotionen. Ich denke, dass Putin nur für seinen Hund menschliche Gefühle hat. Er hat für keinen aus seinem Umfeld Gefühle. Ein Mensch ohne menschliche Gefühle ist was furchtbares, verstehen Sie? Wo lag der Fehler von Chodorkowski? Chodorkowski dachte, dass wenn sie zusammen Schaschlik essen, den Abramowitsch grillte, werden sie wenn nicht zu Freunden, so doch aber zu Menschen in irgendwelcher menschlicher Beziehung zu einander. Aber es kann keine menschliche Beziehungen mit ihm geben!
– Warum sind Sie sich so sicher?
– Ich habe mich ein wenig mit ihm unterhalten, gleich nach der Verhaftung von Chodorkowski. Ich sagte ihm, dass Chodorkowski, meiner Meinung nach, gute Worte verdient, weil er versteht, dass die Wissenschaft finanziert werden sollte. Putin war damals schon Präsident und zeichnete mich mit einer Medaille aus. Es waren Zeiten, als er seine Maske noch nicht abgesetzt hatte. Aber als ich den Namen von Chodorkowski erwähnte, wurde er grün im Gesicht. Es war eine biologische Reaktion. Die Maske war verschwunden, und vor mir war ein schrecklicher, blutiger Mensch. Ich sah es mit meinen eigenen Augen. Deshalb wunderte mich alles, was danach passierte, nicht mehr.
– Und wenn der Protest, der Druck von unten stärker wird?
– Die Annahme, dass man auf ihn Druck ausüben könnte, basiert letztendlich darauf, dass er menschliche Reaktionen besitzt. Ich versichere Ihnen, das tut er nicht. Es ist gefährlich ihn zu bedrohen. Ungefährlich dagegen ist etwas konkret zu unternehmen. Aber ihn einfach zu bedrohen ist gefährlich: wenn diese Leute Angst bekommen, werden sie irreversible Dinge anstellen. Und das ist schlecht.
– Denken Sie, dass sie Ressourcen haben, die Schrauben so richtig festzuziehen? Sie stimmen mir doch zu, dass es jetzt viel mehr Freiheit gibt, als zu Zeiten der Sowjetunion.
– Meine Erklärung ist, dass es ihrer Talentlosigkeit und Unwirksamkeit entspringt. Ich bezweifle, dass sie imstande sind irgendetwas zu organisieren. Das ist mein Eindruck von dem, womit ich in Berührung komme. In den letzten Jahren beschäftigte ich mich ein wenig mit der Finanzierung der Wissenschaft. Habe etwas erreicht. Ich sehe, wie Leute versuchen mich daran zu hindern, damit sie diese Gelder anderweitig verwenden können, ich möchte Sie jetzt nicht in die gutbekannten Details einweihen. Aber an allem merkt man, dass obwohl sie Verbrecher sind, sie wenig begabt und wenig erfolgreich sind. Also, dass ihnen etwas gelingt, liegt nur daran, dass sich in Wirklichkeit keiner gegen sie wehrt.
Putin ist der Boss in einer riesigen Banditenbande. Ich denke, in dieser Bande waren anfangs fähige Leute. Derselbe Abramowitsch zum Beispiel, der soviel Geld verdiente. Sie haben Putin aber unterschätzt – das ist ein riesengroßer Fehler einer ganzen Menschengruppe gewesen. Später verlor Putin den größten Teil von diesen fähigen Menschen. Sie haben immer weniger Kräfte – das Regime zerfällt. Das sowjetische Regime ist auch von alleine zerfallen.
– Sehen Sie unter den heutigen russischen Politikern eine Alternative für Putin?
– Brauchen wir etwa einen neuen Diktator? Nein, absolut nicht. Gerade sagen viele, dass Nawalny gefährlich sein kann, weil er offensichtlich eine starke Persönlichkeit besitzt. Im allgemeinen bräuchten wir einen mehr oder weniger ruhigen Menschen, der einen rituellen Platz einnehmen könnte und einer bestimmten kollegialen Menschengruppe erlauben würde zu regieren… Irgendeine Art parlamentarischer Republik – beim jetzigen Zustand der Wirtschaft ist es durchaus möglich, schätze ich.
Ursachen und Folgen
– Bei der Wende 1980–1990 haben sich 27 Staaten auf den Weg der postkommunistischen Transformation begeben. In den meisten Staaten Zentral- und Südeuropas – den ehemaligen Satelliten von UdSSR – herrscht Demokratie, bei uns dagegen… Warum ist dieser Weg zur bürgerlichen Demokratie in Russland so schwer und warum verläuft er mit so vielen Rückschlägen?
– Ich war oft in Polen und kann darüber sprechen. Dort gab es keinen Genozid an der Intelligenzschicht der Bevölkerung und an begabten Menschen, wie es in Russland gewesen ist. Bei uns wurde die etwas ältere als ich Generation einfach im Krieg, während des Terrors usw. vernichtet. Das heißt, das erste, was mich in Polen noch lange vor „Solidarnostj“ beeindruckte, war, dass sie diese Generation hatten. Bei uns sind die Menschen meiner Generation oder älter entweder schon gestorben oder sie sind verdorben. Und die darauffolgende Generation lernte von der verdorbenen. Wissen Sie, wenn ich mal zu meinen Themen etwas schreibe, dann habe ich die ganze Zeit vor mir, was für eine Unmenge an talentierten Menschen vernichtet worden war. Es ist eine gigantische Kluft entstanden… Darum sollten wir uns jetzt auf die jungen Menschen verlassen, auf die Generation von Nawalny und Udalzow. Ab hier beginnen gewisse Möglichkeiten…
Quelle: Interview mit Wjatscheslaw Iwanow in thenewtimes; übersetzt von Zoya Schoriwna/Irina Schlegel
No Responses to “Wjatscheslaw Iwanow über Putin”