
Juri Felschtinski im Interview mit Radio Svoboda
– Wie hat sich die Entwicklung der Ereignisse in der Ukraine im letzten halben Jahr auf den Charakter des Putinregimes ausgewirkt?
– Zumindest seit März gehört die Initiative in allen politischen Handlungen, die wir beobachten, der russischen Seite – egal, wie man diese Handlungen nun nennen möchte: Aggression oder Befreiungsmission. Und die restliche Welt versucht krampfhaft zu verstehen, wie man auf diese Handlungen seitens Moskau reagieren soll. Was wir gerade beobachten, hat Europa seit 1945 nicht mehr gesehen; eine Situation, in der ein europäischer Staat einen Teil des Territoriums eines anderen Landes an sich reißt, hat Europa längst vergessen.
Wie beeinflussen all diese Ereignisse das Regime von Putin selbst? In erster Linie hat sich die Leiste der erlaubten Handlungen stark nach unten verlegt. Wir sehen nun russische Probleme, die uns früher global erschienen, als irgendwelche Kleinigkeiten an, die die gravierenden Veränderungen der russischen Politik in Bezug auf die ganze Welt begleiten.
All diese Jahre, angefangen ungefähr 1989 und noch stärker seit 1991 hat Russland strategisch in Richtung der zivilisierten Welt kehrtgemacht. Die Sowjetunion, die man auf keinen Fall zu den zivilisierten Ländern zählen konnte, hat sich unter Gorbatschow und dann auch als Russland Europa zugewendet und versucht, Teil der europäischen Zivilisation zu werden. Diese Phase dauerte bis zum Jahr 2000 – mit all seinen Vorbehalten, Unterbrechungen und Konflikten – Russland nahm sich trotzdem als ein Teil der europäischen Zivilisation wahr. Nach dem Jahr 2000 haben Skeptiker wie ich angefangen, Alarm zu schlagen, wegen der Machtergreifung in Russland durch einen KGB-Mitarbeiter. Diese skeptischen Einschätzungen haben sich als gerechtfertigt erwiesen, mehr noch – sie waren sogar noch zu niedrig angesetzt, die Realität hat sich weitaus schlimmer entpuppt als die schlimmsten Erwartungen. Heute nimmt Putin sich gar keine Aufgabe mehr vor, mit den Anführern der europäischen Staaten und zivilisierter Welt an einem gemeinsamen Tisch zu sitzen. Seine Aufgabe ist jetzt: Mit der Welt aus Position der Macht zu sprechen, und in diesem Sinne pfeift er im Grunde darauf, ob er jetzt ein Mitglied der Gruppe demokratischer Anführer sei oder nicht. Selbstverständlich geht es gerade nicht um einen offenen globalen Krieg: Alle werden sich weiterhin mit Putin treffen und mit ihm reden, aber an einen gemeinsamen Tisch von Freunden, die aneinander anlächeln, wird der russische Präsident natürlich nicht mehr gesetzt. Und in diesem Sinne hat Putin leider nichts mehr zu verlieren. Jetzt kann er sich erlauben, mit Europa und USA in seiner gewohnten Sprache zu sprechen. Und das ist leider die Sprache eines nicht sonderlich gebildeten KGB-Offiziers.
– Wenn dem so ist, sagen Sie mir bitte, was eine große Rolle in der strategischen Veränderung von Russlands Politik gespielt hat? Die ukrainische Krise – handelt es sich um das Resultat der situativen Reaktion der Kremlelite auf die Entwicklung der Ereignisse im Nachbarland oder ist es eher das logische Resultat einer Mutation des Putinregimes?
– Erstens denke ich, dass wir über „Eliten“ in Russland vergessen sollten. In der Zeit vor 2004 konnte man noch annehmen, dass sich irgendeine neue Elite in Russland herausgebildet hatte, und dass diese Elite wenigstens etwas mit der Führung des Staates zu tun hatte. Nun ist es offensichtlich, dass es keine Elite gibt. Es gibt eine starr ausgebaute Vertikale der Macht. Am Ende des 15-jährigen Weges ist alles, was wir in Russland haben, eine Diktatur. Diese Diktatur ist keine stalinistische, es ist eher eine Diktatur der “sanften” faschistischen Art, wie es sie unter Mussolini oder unter frühen Hitler gab. Eine Diktatur bei offener Grenze (und unter Stalin war die Grenze zu), bei Marktwirtschaft (und unter Stalin gab es gar keine Marktwirtschaft), ohne Konzentrationslager, ohne massenhafte politische Repressionen. Aber diese sanfte Diktatur kann sich jederzeit in eine härtere Diktatur verwandeln – einfach den Regeln des Genre nach.
– Wenn Sie über den Faschismus sprechen, was meinen Sie mit diesem Begriff? Die korporative Einrichtung der Gesellschaft, sein inneres Schema der Organisation nach dem italienischen oder deutschen Beispiel der Mitte des 20. Jahrhunderts?
– Ich habe Mussolini und Hitler als Beispiel genommen, denn von ihnen ausgebaute Schemata der Gesellschaftsführung sind die zwei klassischen Arten von Faschismus. Man muss verstehen, dass vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, noch bevor der Zweite Weltkrieg aus seiner passiven Phase der 1939-1941er Jahre in die aktive und grausame Phase übergegangen war, viele nicht unbegründet meinten, dass der Faschismus eine ziemlich vorteilhafte Form der Staatsführung ist. Deutschland der 1938-1939er Jahre konnte aus den Trümmern als ein starker Staat wiederauferstehen. Als ein Imperium. Und die Mehrheit der Deutschen begrüßte so einen Wandel. Bis zu dem Moment, in dem man anfängt, dich selbst zu töten, in dem deine Kinder anfangen zu sterben, werden kleine siegreiche Kriege von der Bevölkerung positiv wahrgenommen, so ist der Mensch. Also braucht man sich nicht zu wundern, dass die kleinen siegreichen Kriege vom Standpunkt der PR aus Putin nur Zustimmung einbringen. Das ist exakt die gleiche anfängliche Periode der Aggression, Expansion, die auch schon Italien und Deutschland durchgegangen sind. Wenn Prinz Charles und Hillary Clinton (eine demokratische, nach amerikanischen Standards eine sehr weiche politische Anführerin), Putin mit Hitler vergleichen, glauben Sie mir, dass es sehr ernsthafte Indikatoren dafür sind, dass der Westen sehr wohl versteht, worum es hier geht. Dieses Problem, bewusst oder unbewusst, muss von der Welt gelöst werden. Denn wenn es nicht in der Startphase seiner Entstehung (sagen wir mal, in der Phase von 1938) gelöst wird, wird man es in einem Jahr auf dem Stand von 1939 lösen müssen. Und in zwei-drei Jahren wird man es in der Phase von 1941 lösen müssen.
– Ich möchte zu der Frage der inneren Logik der Entwicklung des Putinregimes zurückkehren…
– Hauptsächlich und in erhöhtem Maße wird Russland entweder von den ehemaligen KGB-Mitarbeitern (wie Putin, Sergej Iwanow, Wiktor Iwanow, Igor Setschin) regiert, oder von Menschen, die aus ideologischen Gründen (wie Rogosin), oder wegen freundschaftlichen Beziehungen (wie Medwedew) oder aus finanziellen Gründen das heutige russische Regime unterstützen. Ich denke, erst jetzt, im Jahre 2014, verstehen sie endlich, wozu es diese ganze Periode seit 1991 gab. Ihrer Meinung nach war diese ganze Periode eine Vorbereitung auf eine neue Etappe, die mit der Annexion der Krim nun endlich begonnen hat.
Sogar der russisch-georgische Krieg 2008 war eine “Stichprobe”: Auf einer Seite – der russischen Armee; und auf der anderen diente es der Nachprüfung dessen, wie der Westen auf den Einsatz der russischen Armee außerhalb von Russland reagiert; es war die Antwort auf die Frage, ob der Westen die Resultate dieses Krieges stillschweigend hinnimmt oder eben nicht. Der Westen hat der russischen Armee erlaubt, aggressive Handlungen auszuführen (und ich sage es, ohne einen Bezug auf politische, emotionale, nationale Sympathien zu nehmen, ohne Bezug darauf, ob nun Georgien in der Abchasien- oder Ossetinien-Frage Recht hatte oder nicht) – und nichts hat sich verändert. Und eben diese Tatsache, dass sich in den Beziehungen von Russland und Europa, Russland und den USA nichts verändert hat, war für Putin natürlich ein wichtiger Hinweis darauf, dass man weiter vordrängen darf.
Nun ist die Ukraine an der Reihe. Wahrscheinlich haben die Ereignisse auf dem Maidan und die Flucht von Janukowytsch diesen Konflikt provoziert. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es im Kreml einen allgemeinen strategischen Plan, vielleicht sogar nicht mal einen Plan, eher ein philosophisches Konzept, gibt. Das Wesen dieses Konzepts besteht darin, dass es diesen Menschen im Kreml endlich klar wurde, wozu sie all die Jahre geduldig sein mussten, sich vor den Oligarchen erniedrigten, die Demokraten anlächelten – die eigenen wie die ausländischen. Sobald sie das Land bezwungen hatten – und Russland ist unter Kontrolle, vom politischen wie auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus, wie auch vom Standpunkt der Vernichtung aller Instrumente, die imstande sind, sich der Macht entgegenzusetzen (z. B. freie Medien) – haben sie die Vorbereitungsphase abgeschlossen. Nun hat eine neue Etappe begonnen: Russland versucht, sich die Territorien zurückzuerobern, die einst der Sowjetunion oder dem Russischen Imperium gehörten. Als Putin zum Herren der Krim wurde, wurden von allen Seiten, aus den USA und aus Europa, Signale gesendet: Sagen Sie uns, dass mit der Krim alles vorbei ist, und es wird alles beim Alten bleiben. Aber Putin hat nicht nur so eine Erklärung gar nicht gemacht, umgekehrt – er hat angefangen, über „Neurussland“, über die Wiedergutmachung der historischen Ungerechtigkeit von 1991 zu sprechen. Also ist der Konflikt, der im März 2014 begann, ein ernster und auf lange Zeit. Kein territoriales Problem (mit Ausnahme der Krim, denn auf der Halbinsel stand ja eine ernstzunehmende Militärgruppierung, und vom militärischen Standpunkt aus gab es da gar nicht so viel zu tun) kann schnell und blutlos gelöst werden, das sieht man ja jetzt bei den Luhansker und Donezker “Volksrepubliken”. Weil Putin, wie ich denke, die Situation sehr lange vom Standpunkt der westlichen Länder aus analysierte, und dabei war ein Punkt wichtig für ihn. Dieser Punkt ist die Haltung des US-Präsidenten. Präsident Obama ist an die Macht gekommen, um zwei Kriege zu beenden – in Afghanistan und im Irak. Eigentlich waren es die zwei Aufgaben, die für den Präsidenten Obama wichtig waren. Und als er seine zweite Amtszeit antrat, hat Putin verstanden, so wie ich das sehe, dass er noch vier Jahre Zeit zur Lösung der außenpolitischen Probleme Russlands hat. Denn der nächste US-Präsident wird, unabhängig davon, ob es ein Demokrat oder ein Republikaner sein wird, zweifellos eine viel härtere Position Russland gegenüber einnehmen.
– Es ist klar, dass die Vorgehensweise, wie sie eine auf der Krim gegeben hat, eine innere Festigung des Regimes benötigt, und auf der anderen Seite aber auch zu einer Mobilisationsbereitschaft der Gesellschaft führt. Ist das Putinregime, ihrer Meinung nach, im letzten halben Jahr innerlich stärker geworden?
– Ich war nie einer von den Regimekritikern, die dachten, dass das Putinregime schnell stürzen wird, dass es so wie es funktioniert, nicht lange funktionieren kann, dass es Putin als einem Politiker maximal nur ein paar Monate oder ein Jahr zu leben bestimmt ist. Ich fand immer, dass es dieses Regime für lange Zeit geben wird. Aber jetzt denke ich, dass es dieses Regime möglicherweise gar nicht mehr so lange geben wird, eben weil Putin aktive aggressive außenpolitische Schritte unternommen hat.
Es ist klar, dass dieses Putinregime nicht ohne Druck von außen stürzen wird, und es war klar, dass es diesen Druck von außen gar nicht geben kann, denn wozu soll man auf Russland Druck ausüben, dessen Präsident doch ein relativ progressiver, proeuropäischer, proamerikanischer Politiker ist, wenn man ihn mit all den vorigen vergleicht? Putin war natürlich niemals ein Demokrat, vom Standpunkt des Westens aus, aber er war ein absolut normaler Partner, mit dem man reden konnte. Mit der Zeit wurde in Russland durch die Vertikale der Macht ein System errichtet, bei dem das Leben des Landes absolut abgetrennt von den Aktivitäten des Kremls verläuft, wie bei der sowjetischen Macht eben auch. Putin ist im Grunde zum alten sowjetischen System zurückgekehrt, bei dem der Kreml Russland leitet, und die restliche Bevölkerung zu diesem Prozess keinerlei Bezug hat.
Ich wäre vorsichtig in der Annahme, Ukraine wäre ein schwacher Gegner, der schnell aufgibt. Der Versuch, blitztechnisch „Neurussland“ zu errichten, hat sich verschluckt. Zur selben Zeit muss man hier das Wort “schnell” in Klammern nehmen, denn Weltkriege werden nicht im Format der Monate analysiert, ein Tag des Krieges bringt keine strategische Veränderung in der Kräfteverteilung mit sich. Das, was ich die letzten Monate sehe, ist, dass die russische Regierung ganz viele kleine Schrittchen macht, die aber alle auf eine globale strategische Richtung hindeuten: Das Land bereitet sich auf einen Krieg vor. Mit welchen Kräften und um welchen Preis dieser Krieg geführt werden soll, wissen wir noch nicht. Zu meinem Bedauern hat Russland keine Instrumente freier Medien, und wir können nicht erfahren, wie die Bevölkerung Putin gerade wahrnimmt und wie sie zu den Ereignissen tatsächlich steht. Wir können beliebige Zahlen nennen, dass es jetzt 86% der Unterstützung sind, 75% – egal, all dem kann man nicht glauben.
Quelle: Juri Felschtinski im Interview für svoboda.org; übersetzt von Irina Schlegel
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