von Oleg Schama für nv.ua
Im Januar 1918 besetzten die Bolschewiken Kyjiw und während die Stadt in ihrer Gewalt war, beraubten und mordeten sie drei Wochen lang die Zivilbevölkerung der Stadt.
„So etwas hat man seit der mongolisch-tatarischen Invasion im XIII. Jahrhundert nicht gesehen“. Diesen Vergleich findet man oft in den Erinnerungen von Kyjiwern, die die erste Ankunft von Moskauer „Befreiern“ aus der Arbeiterklasse in ihrer Stadt 1918 an der eigenen Haut erfahren mussten.
Kurz davor, am 7. November 1917, als der Simnij Palast in Petrograd fiel, hat die Zentralna Rada (das erste ukrainische Parlament) die Autonomie der Ukraine ausgerufen.
Der Winter war im Anmarsch, und für die Bolschewiken waren das schlechte Nachrichten – ohne Brot aus der Ukraine konnten sie nicht lange durchhalten. Deswegen verkündete ihr Anführer Wladimir Lenin im Dezember 1917 Folgendes: „Zwei Fragen stehen zum heutigen Zeitpunkt vor allen anderen politischen Fragen – Brot und Frieden“.
Den Frieden wollten sie in Brest bei den Verhandlungen mit der deutschen Heeresführung erreichen, um Russland aus dem 1. Weltkrieg herauszuziehen. Und das Brot musste man sich in der Ukraine besorgen.
Genau da fing in Kyjiw der Aufstand der Arbeiter des „Arsenal“-Werks an, und der Zentralrat beschloss, die Aufständischen zu entwaffnen. Lenin erwiderte mit einem Ultimatum und der Forderung, die probolschewistische Bewegung nicht aufzuhalten. Diese Reaktion von Petrograd wurde in Kyjiw nur zur Kenntnis genommen. Daraufhin entschloss sich Lenin, Gewalt anzuwenden.
In Charkiw wurde eilends eine Regierung aus ukrainischen Bolschewiken zusammengerufen. Keiner wagte aber, persönliche Verantwortung für die Führung dieses Gebildes zu übernehmen. Deswegen wurde es von gleich vier Sekretären angeführt: Eugenia Bosch, Wladimir Aussem, Wladimir Satonskij und Jurij Kozjubynskij.
Angeblich hatten sie sich an den „älteren Bruder“ – Lenin und seine Mannschaft – gewandt und um Hilfe bei der Wiederherstellung der Ordnung in der Ukraine gebeten.
Die russischen Bolschewiken litten zum damaligen Zeitpunkt unter einem ernstzunehmenden Mangel an Militärkadern, die Armee stand unter dem Kommando von Fähnrich Nikolaj Krylenko, die Flotte wurde von dem Matrosen Pavel Dybenko angeführt. Ihr revolutionärer Eifer reichte wohl kaum für eine ernsthafte Operation.
Der einzige rote Anführer mit einer Militärausbildung war Wladimir Antonow-Owsejenko, der aus einer Adelsfamilie aus Tschernihiw stammte. Er war es auch, der die militärische Strafexpedition in seine historische Heimat anführte.
Zu seinem Stabschef wählte er einen Offizier der Zarenarmee namens Michail Murawjow, einen Menschen mit eigenartigen Methoden der Kriegsführung.
Der rote Napoleon
Der Bauernsohn Michail Murawjow genoss hohes Ansehen unter Soldaten. Der Umgang mit ihm war einfach, obwohl er das Flair eines Menschen besaß, der seine Karriere eigenständig gemacht hatte. Seit Februar 1917 versuchte Murawjow seine Karriere bei unterschiedlichsten politischen Gruppen fortzuführen.
Für einige Zeit befand er sich als Kommandeur der Wache des Ministerkabinetts sogar im Lager des Vorsitzenden der Übergangsregierung Alexander Kerenskij.
In dieser Zeit fing er an, seine Idee in die Tat umzusetzen, die für die russische Armee, die an der deutschen Front Niederlagen erlitt, die Rettung versprach – er stellte etwa 100 sogenannte „Todesbataillone“ auf.
Diese Todesbataillone bestanden aus ideologisch bestens motivierten Soldaten und Offizieren. Aber im Krieg gegen die Deutschen konnten diese Einheiten keine Erfolge verbuchen. Andererseits, kamen die Methoden ihrer Aufstellung und ideologische Bearbeitung im Krieg gegen die Ukraine besonders zustatten.
Die Führung der Ukrainischen Volksrepublik (UNR), die nach dem bolschewistischen Umsturz in Petrograd ausgerufen wurde, nahm die ersten Aufrufe Lenins zum Frieden und Versicherungen über das Recht der Völker des russischen Imperiums auf Selbstbestimmung zu wörtlich.
Der Historiker Michailo Hruschewskyj, Vorsitzender des Staatsrates, und Wolodymyr Winnytschenko, das Oberhaupt der Regierung, nahmen die Aufstellung einer Armee des jungen Staates gewissermaßen auf die leichte Schulter.
Im Oktober 1917 erklärte die UNR die Demobilisierung der Truppen, die den Fahneneid geleistet hatten. Historiker behaupten, sie hätten damals mindestens 300 000 Soldaten gezählt.
Auch das einsatzfähigste Korps unter General Pawlo Skoropadskij wurde entwaffnet und aufgelöst – die ukrainische Regierung hielt solche Militäreinheiten für unnötig für ein Land, dass nach sozialistischen Prinzipien aufgebaut werden sollte und nicht vorhatte, Kriege mit irgendjemandem zu führen.
Keiner konnte sich vorstellen, dass unkontrollierte Banden in die Ukraine einfallen könnten, deren Anführer nur ein Motto hatten: “Gnadenlos sein!“
Persönliche Bekannte von Murawjow erinnerten sich, dass er von der Macht besessen war und sich in seinem Bestreben, seinem Vorbild Napoleon nachzueifern, zu allen möglichen militärischen Machenschaften verleiten ließ.
Aber der Bonaparte russischer Prägung wirkte durchaus umstritten. Antonow-Owsejenko erzählte, dass Murawjow ständig mit Geld nur so um sich warf und „Verderbtheit säte“. Er umgab sich mit „verdächtigen Gestalten, von denen die Gruppe seiner Leibwächter besonders auffiel – entweder Verbrecher oder Drogensüchtige“. Auch Murawjow persönlich war abhängig von Morphin.
Die Pläne des Angriffs auf die Ukraine hatten die Bolschewiken in der ersten Dezemberwoche 1917 in Moskau geschmiedet. Antonow-Owsejenko schrieb: „Wir hatten eine Dauertagung. Es befanden sich Landkarten auf dem Boden, und wir krabbelten tagelang auf ihnen herum. Wir erarbeiteten Pläne für unser Handeln gegen die Truppen in Kaledino (am Don), und auch gegen die Zentralna Rada (den Zentralrat)“.
Anfangs hatten die russischen Bolschewiken nicht vor, mit der UNR zu kämpfen. Sie planten, die Kontrolle über die Eisenbahnverbindung zwischen Charkiw und Simferopol zu übernehmen und Taurien (die heutigen Cherson und Mykolajiw Gebiete) sowie das Gouvernement Jekaterinoslawsk (Dnipropetrowsk und ein Teil von Donbass) zu besetzen.
Dadurch wäre es möglich, die Lebensmittelregionen unter Kontrolle zu nehmen und den von der Front an den Don zurückkehrenden Kosaken-Verbänden den Weg abzuschneiden. Über die Abschaffung der UNR hatte man damals noch nicht nachgedacht.
Murawjow entwickelte eine Taktik des Staffelblitzkrieges, der ohne Kriegserklärung verlief und die Verwirrung in den Reihen des Gegners für sich ausnutzte. Die Rote Armee sollte bei fehlender Frontlinie sehr schnell mit der Eisenbahn tief ins Landesinnere des Gegners vordringen können.
Der Plan zeigte Wirkung: In gut fünf Wochen schlugen oder zwangen die Bolschewiken vereinzelte Garnisonen zur Kapitulation und besetzten alle Kommunikationswege.
Schidomasepisten („jüdische Masepa-Anänger“)
Den Anführern der Roten Armee fehlte eine ideologische Rechtfertigung ihrer Invasion in die Ukraine. Das Proletariat in dieser Gegend war nicht gerade zahlreich und nahezu inaktiv, als dass es nicht die Rolle des Opfers spielen könnte, das gerettet werden musste.
Sogar die rebellierenden Arbeiter des Kyjiwer Arsenal-Werks unterstützten im Endeffekt den Zentralrat. Die wohlhabenden ukrainischen Bauern wirkten auch keineswegs unterdrückt.
Also kramte man aus den tiefsten Ecken des „großrussischen“ Bewusstseins die 200 Jahre alten Klischees über den Hetman Masepa aus, der Peter I. verraten haben soll.
„Schon zwei Wochen sind seit dem Tag der Demonstration von Juden-Masepisten vergangen, aber die russischen Menschen sind immer noch besorgt,“ schrieb die Zeitung „Zweiköpfiger Adler“ über die Feier des 100. Jubiläums von Taras Schewtschenko (ukrainischer Schriftsteller und Dichter) im Jahre 1914.
Die längst vergessene Geschichte war schon vor dem Krieg von ultrapatriotischen Vereinen ausgegraben worden, solchen wie dem „Club russischer Nationalisten“ oder der „russischen Versammlung von Kyjiw“, die damals in der Ukraine existierten.
Im März 1914, als Taras Schewtschenkos 100. Jubiläum gefeiert wurde, forderten die Mitglieder dieser Vereine von den lokalen Behörden, alle diesbezüglichen Feierlichkeiten oder Demonstrationen zu untersagen.
Sie fanden trotzdem statt. Die Zeitung „Zweiköpfiger Adler“ grämte sich darüber ab: „Schon etwa zwei Wochen sind seit dem Tag der Verräter-Demonstration von Juden-Masepisten vergangen, aber die russischen Menschen können sich immer noch nicht beruhigen, sind immer noch besorgt“.
Bei vielen Russen keimte damals eine Phobie vor einer illusorischen Verschwörung der Juden und Ukrainer gegen das einheitliche Russland auf. Die judisch-masepistische Gefahr haben die Bolschewiken gerne zum neuen Leben erweckt.
Murawjows Truppen marschierten am 11. Januar 1917 in Charkiw ein. Ein paar Tage später erschienen auf den Straßen der Stadt Panzerfahrzeuge mit der Aufschrift „Tod den Ukrainern!“
Antonow-Owsejenko erinnerte sich, dass die „Befreier“ Staats- und Privateigentum raubten, sich kriminell verhielten, weil sie „jeden Arbeitsscheuen für einen der Vernichtung Würdigen“ und die Ukraine für das Territorium eines feindlichen Staates hielten. Murawjow sah sich als „Bändiger“ von „Vaterlandsverrätern“.
Der zeitgenössische ukrainische Historiker Viktor Sawtschenko schreibt: „Die Funktionäre der Sowjetukraine flehten Lenin und die sowjetischen Heeresführer an, die Misshandlungen der Zivilbevölkerung zu unterbinden, die die aus Russland kommenden Truppen in Charkiw begingen. Aber ergebnislos… Es war nicht sicher, Ukrainisch in der Öffentlichkeit zu sprechen, die ukrainische Nationaltracht zu tragen… Oft wurden die Menschen ermordet, einfach weil sie gute Stiefel anhatten.“
Weiter beschreibt der Forscher die Anwesenheit der Russen in der Ukraine, als würde er die Methoden von Putins Kriegsführung im Donbas vorhersagen: „Lenins Komitee spielte ein gerissenes Spiel der „ukrainischen Souveränität“ und erklärte die Russische Republik für neutral. Wodurch es die Verantwortung für die Taten Murawjows und Antonow-Owsejenkos auf die bolschewistische Regierung der Ukraine schob, obwohl diese Truppen nicht einmal daran dachten, ihren ukrainischen Genossen zu gehorchen.“
Kyjiw ist unser
Übermutig von der leichten Beute, entschlossen sich die Bolschewiken, ihre ursprünglichen Pläne zu ändern und Kyjiw zu besetzen.
Da die Aufstellung der freiwilligen Einheiten der UNR nur mühsam voranging, befahl die Regierung von Winnytschenko unausgebildeten Junkern und Offiziersschülern, wichtige Objekte zu bewachen.
Nachdem Murawjow am 19. Januar Poltawa eingenommen hatte, befahl er die Erschießung der Lehrgangsteilnehmer der lokalen Militärschule, die nicht abgezogen waren. Und am 29. Januar fand die legendäre Schlacht bei Kruty statt, die von 400 ukrainischen Junkern und Studenten gegen ein 5000-köpfiges Heer der Roten Armee geführt wurde.
Murawjow und seine Milizen raubten die besetzten Territorien aus. Von der Bevölkerung des besetzten Tschernihiw kassierte er eine Kontribution in Höhe von 50.000 Rubel. Mit diesem Geld – erinnerten sich die Augenzeugen – betrank sich der rote Kommandeur einige Tage lang.
In Hluchiw hatten die „Befreier“ einen Matrosen namens Zyganok zum „Befehlshaber“ gemacht. Nach einer neuen Welle räuberischer Überfälle wollte er, stark alkoholisiert, aus einer Kanone feuern, aber das Geschoss detonierte auf seinem Schoß. Bewaffnete Männer zwangen die ganze Stadt zur Beerdigung des Matrosen zu gehen.
Nach den Nachrichten über den Horror, der sich aus dem Osten näherte, erklärte der Zentralrat die Unabhängigkeit der UNR. Aber sie konnte nicht verteidigt werden: Kyjiw war überfüllt mit reichen Flüchtlingen aus Moskau und Petersburg, Offizieren und Soldaten der Zarenarmee, die nicht wussten, bei wem sie den Fahneneid leisten sollten, und wurde deswegen zu einer leichten Beute für Murawjows Aufgebote.
Ab dem 27. Januar wurde die Stadt von den Roten einige Tage lang aus Darniza, von der linken Seite des Dnipro-Flusses beschossen. Über 15.000 Geschosse wurden auf die Stadt abgefeuert. Auf so ein Massaker an der Zivilbevölkerung war in Kyjiw niemand vorbereitet.
Murawjow prahlte später mit seinen Untaten: „Wir kamen, um die Sowjetmacht mit Schwert und Feuer zu etablieren. Ich habe die Stadt besetzt, ich feuerte auf Paläste und Kirchen, am 28. Januar bat der Zentralrat (von Kyjiw) um Waffenruhe. Ich erwiderte mit dem Befehl, sie mit Gas zu ersticken. Hunderte von Generälen, oder vielleicht sogar Tausende, wurden gnadenlos getötet… So haben wir uns gerächt. Wir hätten den Zorn der Rache aufhalten können – haben wir aber nicht. Denn unser Motto ist: Gnadenlos sein!“
Der rote Kommandeur hatte damals wirklich tödliches Gas angewendet, da zum damaligen Zeitpunkt von verschiedenen internationalen Abkommen bereits verboten war. Dies erlaubte ihm, ungehindert in Kyjiw über eine Brücke einzumarschieren.
Nach der Besetzung der Hauptstadt der UNR gab Murawjow sie für drei Tage seinen Soldaten zum Plündern frei. Nach verschiedenen Angaben, vernichteten sie in einer Woche 2.000 bis 3.000 Kyjiwer Einwohner, etwa 1.000 davon waren Offiziere und Generäle.
„Außer Offizieren richteten sie jeden hin, der so naiv war, einen roten Zettel zu zeigen – das Zeichen der Angehörigkeit zur ukrainischen Bürgerschaft,“ erinnerte sich der Ethnograph Nikolay Mogiljanskij an die Kyjiwer Ereignisse , der vor den Bolschewiken aus Petrograd geflohen war, aber von ihnen in Kyjiw eingeholt wurde.
Mogiljanskij schrieb später, dass die Plünderung von Kyjiw durch die Roten einen systematischen Charakter trug. Murawjow hatte nach seinem Brauch der Stadt eine Kontribution in Höhe von 5 Millionen Rubel auferlegt. Und das Geld war ihm ziemlich schnell übergeben worden.
Im Ergebnis „fuhren Matrosen und Rotgardisten in Automobilen und prunkvollen doppelten Kutschen mit wunderschönen Phaetons und Landauern durch die Stadt herum, oft im alkoholisierten Zustand.“ Sie gaben viel Geld in Restaurants und Spielkasinos aus, umhüllt in „einer Atmosphäre der Orgie und allerlei Randale.“
Die sowjetische Regierung der Ukraine fand nach ihrem Umzug aus Charkiw nach Kyjiw mit Entsetzen die komplette Degradierung ihrer Einheiten und Tausende von Leichen in den Kyjiwer Parks vor. Die Regierung forderte von Moskau, Murawjow unverzüglich aus der Ukraine zu entfernen. Doch keiner hörte auf sie.
Zwei Tage vor Ankunft der Bolschewiken konnte der Zentralrat nach Schytomyr fliehen, wo er sich rasch den Friedensverhandlungen in Brest zwischen Deutschland und den Bolschewiken angeschlossen hatte.
Das Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass Murawjows Banden nach drei Wochen Anwesenheit in Kyjiw schleunigst die Stadt verlassen mussten – ihnen auf den Fersen saßen schon die anrückenden Verbündeten der UNR – die deutschen Truppen.
Die Einwohner der umliegenden Dörfer beobachteten einige Tage lang einen sich nicht enden wollenden Zug aus Fuhren mit dem Raubgut. Viele rote „Befreier“ waren in Husarenmonturen aus geplünderten Militärlagern gekleidet.
1919 kamen sie für eine Weile zurück. Und dann erneut in 1920. Diesmal für ganze 70 Jahre.
Autor: Oleg Schama. Der Artikel wurde in der Ausgabe „Novoje Wremja“ vom 13. Februar 2015 veröffentlicht; übersetzt von Volodymyr Cernenko, editiert von Irina Schlegel.
Die Fotos wurden vom Museum der Ukrainischen Revolution 1917-1920 bereitgestellt. Titelbild: Ein Bolschewiken-Trupp bei der ersten Besetzung der Ukraine Anfang 1918
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