
von Andrei Subow, 2005
Unter meinen alten Notizen fand ich Gedanken, die heute, glaube ich, sehr aktuell sind:
Manchmal scheint es mir, dass der Grund für die erstaunliche Gleichgültigkeit der Russen, der Herrscher wie auch der Untertanen, zu einem Menschenleben, in erster Linie natürlich zu dem eines anderen Menschen, aber manchmal auch zum eigenen und dem Leben der nächsten Verwandten, viel tiefer als die Leibeigenschaft und der Absolutismus liegt. Auch in der russischen Geschichte geht sie weit zurück, in die Zeiten vor dem 17. Jahrhundert, als es in Russland weder den Absolutismus noch die Leibeigenschaft/Sklaventum gab. Ich fürchte, dass die Leibeigenschaft und der wilde russische Absolutismus selbst diesem Grund entstammen. Was ist denn dieser tiefere Grund?
Es ist wohl bekannt, dass die Kultur des östlichen, byzantinischen und später russischen Christentums überwiegend österlich ist, sie ist auf die Auferstehung der Toten, Vergöttlichung (Theosis) und das Leben in der kommenden Welt ausgerichtet. Die Seele eines östlich-orthodoxen Christen ist auf Gott ausgerichtet und will aus „dieser verdorbenen Welt“ ausbrechen. „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“ (Phil 1,23) – ruft der östlich-christliche Gerechte mit den Worten des Apostel Paulus.
Die westlich-christliche Kultur ist anders orientiert, sie ist weihnachtlich. Der westliche Mensch versucht weniger diese Welt zu verlassen, als eher den Gott in diese Welt kommen zu lassen, ihn in der Menschheit gegenwärtig werden zu lassen. Für den westlichen Christen sind besonders teuer die Worte des Evangeliums „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden“ (Joh 3,16). In dem bereits zitierten Abschnitt aus dem Philipperbrief betont der Apostel nicht das, was besser, sondern das, was „nötiger“ für die Menschen ist: „Aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen“.
Obwohl die Bestrebungen des östlichen und des westlichen Christen gegensätzlich sind, ist ihr Ziel gleich. Man kann Gott nicht nah kommen, heilig werden, ohne seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, ohne das Bild Gottes – das Höchste der menschlichen Persönlichkeit – in ihm zu respektieren und anzuerkennen.
Die Erretung ist außerdem unmöglich ohne die Liebe zu der ganzen Schöpfung , nicht nur zu den Menschen, sondern zu allem, was der Schöpfer erschaffen hat, zu jedem Grashalm, dem Bach, der Krähe auf dem Ast, dem Hasen auf dem Feld, zu der lebendigen Unendlichkeit des Meeres. Nicht die Verachtung der Welt, sondern die Fürsorge für sie im Namen Gottes ist das, was der Schöpfer den Menschen als Pflicht bestimmt. Daher kommt die Katholizität, die organische Einheit der eigenwertigen menschlichen Persönlichkeiten als Glieder der Kirche – des Leibes Christi, und die genauso organische Bewahrung und Vervollkommnung der ganzen Welt, der ganzen Schöpfung, die „sich nach der Erlösung unseres Leibes sehnt“ (Rom 8,23).
Auch das westliche Christentum, das die Vergegenwärtigung Gottes auf der Erde sucht, sucht sie für die endgültige Verwandlung der Welt und die Vergöttlichung der ganzen Schöpfung, „damit Gott sei alles in allem“ (1. Kor 15,28). Beide Arten der christlichen Ordnung, der christlichen Ausrichtung, die östliche und die westliche, erreichen auf unterschiedliche Weise beide Ziele – sie beide bekunden die wahre Schönheit der Welt, die Würde des Menschen auf dieser Erde, und erheben auch den Menschen zu dem absoluten, vollkommenen göttlichen Sein. Im Endeffekt sind diese beiden Ziele ein – „alles in allem“.
Aber beim Verlust des lebendigen und intensiven Erlebens des Christus fleischgewordenen und auferstandenen, schlagen die früher christlichen Westen und Osten zwei verschiedene, aber gleich ins Verderben führende Wege ein, gerade wegen der Pervertierung ihrer jeweils typischen Neigungen. Wenn der Westen nicht mehr an Gott denkt, fängt er an, den Menschen und die Welt egoistisch zu hüten und zu gestalten, alleine um des Menschen Willen und letztendlich nur für sich selbst – für sein Volk, seine Rasse, seine Gesellschaftsklasse, seine eigene Person.
Wenn die westliche Welt von Gott abkehrt (denn ein Leben mit Gott ist schwierig und verantwortungsvoll), versinkt sie im Egoismus eines Geschöpfes, das sich selbst wertvoll in seinem empirischen, gottlosen, gefallenen Dasein wähnt. Der Mensch weiterhin gestaltet und behauptet die Welt und sich selbst, aber nun um sich selbst Willen, Gott wird stolz beiseite geschoben, und später werden der Maßstab und der Richter vollständig aus dem Leben verbannt.
Das staatsbürgerliche Bewusstsein und der Humanismus werden rein menschlich und schwach in diesem Zustand, sie werden zum Nazismus, Rassismus, totalitären Sozialismus, sie führen zum Zerfall der traditionellen Familie und zu der staatsbürgerlichen Machtlosigkeit der egoistischen Individualisten.
Wenn die östlich-christliche Welt Gott allmählich ausklammert, nimmt sie dadurch dem empirischen Menschen und der Welt den Sinn ihrer Existenz. Der östliche Christ schätzte die Welt und die Menschheit nur aus dem Grund, dass die Welt und die Menschheit Gottes Schöpfung sind. Das Ziel des östlichen Christen liegt darin, aus dieser vergänglichen Welt zu scheiden.
Und wenn der östliche Mensch sein Herz für Gott verschließt, empfindet er die irdische Welt und den empirischen Menschen nicht mehr als wertvoll – sie werden zu einem Mittel der Selbstbefriedigung und letztendlich zu nichts. Der östliche Mensch besitzt kein Verständnis von der Eigenwertigkeit der Schöpfung. „Macht nichts, dass so viele Menschen sterben – die Weiber in Sibirien werden schon noch welche in die Welt setzen“ – so etwas hätte kein westlicher Tyrann über sein Volk sagen können, weder Hitler noch Mussolini, aber Stalin konnte es, Molotow konnte es.
Der Mensch ist nur die Masse, nur eine kleine Schraube in dem riesigen übermenschlichen Mechanismus des Imperiums. Das Phantom, der ideologische Mythos, Leben und Tod für diesen Mythos, für eine „strahlende Zukunft“, für eine kommunistische Zukunft und nicht für sich selbst, oder seine Familie, seine Nation, seine Gesellschaftsklasse – das ist der Kern einer gottlosen östlich-christlichen Gesellschaft, in der die Menschen, die unter den grässlichen Lebensbedingungen leiden, sich weder danach streben noch dazu imstande sind, sich für die Lösung ihrer irdischen Probleme zusammenzuschließen; dafür erwarten sie von der Regierung die Erfindung eines neues Phantoms, das ihnen überzeugend erklären könnte, wofür sie leiden, wofür sie sterben, wofür sie ihr Heimatland in eine verseuchte Wüste verwandeln.
Wenn der östliche Christ dem Gott den Rücken kehrt, so gibt er sein „Ich“ auf, aber nicht den Sinn des Lebens; den Platz des Glaubens an die Wahrheit nimmt die Ideologie ein. Der westliche Christ dagegen, wenn er die Beziehung zu Gott verliert, verliert den Sinn des Lebens, aber nicht den Sinn seines „Ichs“, den Platz des Glaubens nimmt bei ihm der egoistische Personalismus ein. Diese beiden Wege der Abkehr führen aber beide ins Verderben, sie sind beide Sackgassen für den Menschen, der für die Errettung und Heiligung bestimmt ist.
Wann auch immer diese Abkehr von Christus in Russland angefangen hat (und gab es denn bei uns überhaupt irgendwann die innige Annahme von Christus im Volk, nicht nur unter den einzelnen Heiligen?), aber die Vorstellung vom Menschen als Mittel, von der Menschheit als Masse etablierte sich bereits im 18. Jahrhundert und hat das heutige 21. Jahrhundert erreicht. Davon kommt der russische despotische Absolutismus, die Leibeigenschaft, das kommunistische Regime mit unzähligen Opfern, und die heutige seltsame Demokratie ohne Demos und das staatsbürgerliche Bewusstsein ohne Bürger.
Ich weiß noch, wie ich in den Siebzigern im Kargopolski Bezirk der Region Archangelsk durch die „Inventurbücher für Vieh und Volk“ blätterte – das wichtigste statistische Werk jedes Dorfrats der Sowjetunion.
Die Verherrlichung des Zaren, Verabsolutierung des Staates, des Imperiums und, letztendlich, die weltweite Kommunistische Internationale, für deren Erlangung die Bolschewiken fanatisch Russland und sein Volk ausrotteten – das alles sind die Ideologien, die den Thron Gottes eingenommen haben und sich für Gott ausgeben. Nur wenn diejenigen, die für Christus freiwillig sterben, in Ihm das ewige Leben erlangen, denn Er IST das Ewige Leben, so erlangen diejenigen, die für das ideologische Phantom freiwillig sterben, oder viel öfter die, die dafür getötet werden, gar nichts in ihm, denn ein Götze ist ein Nichts in der Welt (1. Kor 8,4).
Autor: Andrei Subow, 2005; übersetzt von Olena Köpnick