
Abschrift der Rede von Andrej Subow vor dem 3. Kongress der russischen Intelligenzija, 20. Oktober 2014.
Liebe Freunde! Ich versuche, hier von einem ganz anderen Ende als meine Redevorgänger anzufangen.
Es geht darum, dass sich Russland seit dem 17. Jahrhundert, seit den Zeiten des Zaren Alexej Michajlowitsch, und bis zum 17. Jahr des 20. Jahrhunderts in internationalen europäischen Bündnissen befand. Es hat nie versucht, sich der ganzen damaligen zivilisierten Welt entgegenzustellen.
Es waren verschiedene Koalitionen: die Koalition gegen die Türkei zwischen Alexej Michailowitsch und Polen; die Koalition im Großen Nordischen Krieg zwischen Peter I. und der Republik Venedig und schließlich das gutbekannte Heilige Bündnis von Alexander I. gegen Napoleon. Und selbstverständlich die Triple Entente im Ersten Weltkrieg.
Trotz der Tatsache, dass Russland ein eigentümliches Land war – Tutschews Worten nach könnte man es nicht nach seiner Elle messen – verstanden russische Zaren ausgezeichnet, dass sie sich gegen Europa nicht behaupten sollten, da wir viel zu viel gemeinsam haben: das Christentum, den byzantinisch-römischen Nachlass und vieles-vieles mehr. Unter anderem auch eine gemeinsame Kultur, in der Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Puschkin in Europa auf die gleiche Art aufgenommen werden wie in Russland.
Eine Veränderung fand nach 1918 statt, weil es einen prinzipiellen Unterschied gab, zwischen der Aufgabe der Sowjetunion in der Erschaffung der Weltkommunismusstaatlichkeit, deren Symbol das sowjetische Wappen war – eine Erdkugel mit einem Hammer und Sichel drauf, und den Aufgaben der westlichen Demokratien, welche die gegenseitige Souveränität anerkannten, was Freiheit voraussetzte. Im Westen hat sich der Freiraum zunehmend erweitert, sowohl der politische als auch der wirtschaftliche. Für die Bevölkerung verbesserten sich die Bedingungen des gegenseitigen Austausches immer weiter. Und bei uns entstand aber eine Realität, in der sich die Sowjetunion der ganzen Welt entgegenstellte, die der UdSSR nicht unterstand.
Im Unterschied zum Westen, wo es Beziehungen im Rahmen von Bündnissen zwischen England, Frankreich, den USA, Schweden und anderen Ländern geben konnte, kannte die Sowjetunion keine Verbündeten. Zu Friedenszeiten kannte sie nur die ihr absolut unterstellten Satelliten. Vor dem Krieg waren es zum Beispiel die Mongolei, Tuwa. Nach dem Krieg ist die Liste wesentlich größer geworden. Außer Satelliten kannte die Sowjetunion nur Feinde. Sogar als China in den 1960ern so stark wurde, dass es ein Satellit weder sein wollte noch konnte, konnte es kein Verbündeter werden und wurde zum Feind.
Das ist die Besonderheit des primitiven Denkens der sowjetischen Elite. Aber herbeigerufen wurde dieses durch die unterschiedliche Zielsetzung, durch unterschiedliche Ideologien.
Der Westen wollte sich selbst als einen Raum der freien und relativ reichen Welt erhalten, die Sowjetunion wollte das alles besetzen und zu einem einheitlichen Staat machen.
Als Resultat hatten wir die Konfrontation zuerst im heißen Krieg und dann im Kalten, der übrigens einmal unterbrochen wurde. Als der Sowjetunion die Gefahr eines realen Untergangs drohte, hatte sie keine Bedenken, das engste Bündnis mit England und der USA einzugehen, löste auf der Stelle das ideologische Paradigma ab und begann Lieder darüber zu singen, wie die russischen und englischen Seemänner Zigaretten auf einem Kriegsschiff zusammen rauchen usw. Aber das war schnell wieder verschwunden.
Also, meine lieben Freunde, wenn man jetzt von der internationalen Politik spricht, haben wir bei unserer Obrigkeit mit einem Rezidiv des sowjetischen Bewusstseins des Kalten Krieges zu tun. Dieser Rückfall geschieht aus dem einfachen Grund, weil sie, die Nomenklaturisten, nichts anderes kennen. Sie können und fühlen sich auch nicht als Vertreter der europäischen kulturellen Welt, weil sie es einfach nicht sind. Und darum versuchen sie der ganzen inneren wie auch der äußeren Welt einzutrichtern, dass Russland eine besondere Zivilisation sei, wobei die Sowjetunion zweifellos eine besondere Zivilisation, eine sehr traurige Zivilisation war, aber auf keinen Fall das historische Russland.
Und hier haben sie sich als Vertreter der Sowjetunion verwirklicht und sich wem entgegengestellt? Der westlichen Welt. Schon wieder.
Das zweite Phantom des sowjetischen Bewusstseins ist die Einflusssphäre. Als der Sozialdarwinismus von Herbert Spensor in Europa auftauchte, war es eine allgemeine Erscheinung, die zur Entstehung solcher Kategorien wie „Einflussbereich“ führte. Und dieser Kampf um Einflusszonen hatte zu zwei Weltkriegen geführt. Der Westen hat sich von dieser Herangehensweise losgesagt. Er denkt nicht mehr in diesen Kategorien. Als Beweis dient allein schon die Tatsache, dass die Sieger sich keinen Quadratkilometer Land von Frankreich, Deutschland und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg angeeignet und auch keine Kontributionen gefordert, sondern umgekehrt – den Marshallplan in Bezug auf die besiegten Länder angewendet haben.
Aber die Sowjetunion dachte in Kategorien dieser kranken Politik, und dieses Denken wurde auch von der jetzigen Obrigkeit übernommen. Sie denkt in Kategorien von Einflusszonen, von Einflusssphären. Für den Westen ist es offensichtlich, dass wenn Polen in die NATO will, es dieser auch beitreten kann, wenn es ihren politischen Angaben, ihren Außenverteidigungsparametern usw. entspricht. Für uns ist es aber offensichtlich, dass Polen gar nichts wollen kann, und dass Polens Schicksal die USA, die alten Mitglieder der NATO und Russland entscheiden muss. Das ist schon wieder ein schädliches geopolitisches Bewusstsein.
Wir unterscheiden uns durch ganze Epochen. Teilweise weil sich unsere Obrigkeit noch immer im Zustand des sowjetischen Bewusstseins befindet. Gerade das Letzte führte zum ukrainischen Krieg. Es liegt daran, dass die heutige Obrigkeit der Meinung war, dass der ganze postsowjetische Raum zum Einflussbereich von Russland gehört.
Breschnew breitete die Doktrin der beschränkten Souveränität auf Osteuropa aus. Wegen dieser kam es eigentlich auch 1968 zur Okkupation der Tschechoslowakei, und fast führte sie 1981 zur Okkupation Polens. Genau diese Doktrin bietet nun Putin in Bezug auf den postsowjetischen Raum an.
Zweifellos versteht dies der Westen nicht. Versteht es nicht, denn jedes Land, jedes Volk ist ein Souverän, der seinen eigenen Weg selbst bestimmt, genauso wie das russische, amerikanische, englische, ungarische, belarussische, kasachische Volk ein Souverän ist, der über sich selbst bestimmt. Also, hier wieder mal zwei verschiedene Mentalitäten.
Vorbehaltlos hat mein Kollege Piontkowski Recht, wenn er sagt, dass sich die Obrigkeit am meisten vor einer Verbreitung der ukrainischen Revolution auf Russland fürchtet.
Es gab schon den „arabischen Frühling“, und darum war es das Hauptziel, keinen „slawischen Frühling“ zuzulassen. Es nicht zuzulassen, dass sich die ukrainischen Ereignisse durch die einheitliche Sprache, einheitliche Kultur, einheitliche historische Vergangenheit und massenhafte Familienbündnisse auf Russland ausbreiten.
Die Hauptaufgabe war nicht die Krim, nicht der Donbas – das ist alles Quatsch, die Hauptaufgabe war, einen Keil zwischen die Völker zu treiben, nach Möglichkeiten aber auch das Regime in der Ukraine zu verändern, aber am wichtigsten: es zu erreichen, dass das Beispiel der Ukrainer auf keinen Fall ansteckend, sondern für Russland nur abstoßend wirkt.
Und das ist vollbracht worden, darin hat die ideologische Maschine einen vollkommenen Erfolg erzielt.
Ja, schlussendlich ist der Krieg verloren. Russland ist isoliert von der ganzen Welt. Die Ukraine ist zweifellos nach Europa gegangen. Die NATO hat sich den Grenzen Russlands so sehr wie noch nie genähert, denn früher wurden die mit Gorbatschow getroffenen Vereinbarungen über die Nicht-Stationierung der Waffen von großen NATO-Ländern auf dem Territorium der neuen NATO-Länder, die sich in den 1990ern angeschlossen haben, eingehalten. Und nun ist das alles abgeschafft, und dementsprechend werden in Rumänien und Polen Militärbasen errichtet, Finnland und Schweden bitten offiziell um einen NATO-Beitritt. Sogar in diesem Punkt hat man verloren.
Und dabei stürzen wir wirtschaftlich in den Abgrund, wir laufen, wie es absolut richtig von meinem Kollegen Piontkowski aufgezeigt wurde, in die Arme vom China, dabei sind wir nicht imstande, uns mit dem Westen sogar in Bezug auf die wachsende Bedrohung vom Süden aus – den radikalen Islam, zu einigen.
Jetzt lasst uns doch mal schauen, was für uns tatsächlich gefährlich ist und was tatsächlich erwünscht. Ist für uns die NATO-Aggression, die Aggression Europas gefährlich, will Europa Russland besetzen? Nein, natürlich nicht. Wozu braucht Europa Russland? Es trägt schon die schwere Bürde der eigenen Wirtschaft. Es muss die Wirtschaft von Griechenland, der Pyrenäen-Ländern hochziehen. Hier braucht Europa Russland nicht. Es ist ein Risikogebiet für Europa. Aber was sind denn die Risikogebiete für Russland? Nur der Süden und der Osten. China und die radikalen Bewegungen der islamischen Welt, die sich unbeschreiblich schnell verstärken.
Die Hauptgefahr kommt hier von der Seite Chinas: Da sind der leere Ferne Osten und Sibirien und das überbevölkerte China. Leer sind sie, das stimmt, dafür aber reich an Ressourcen, die China gerade nicht hat. Nach allen Regeln der sowjetischen Geopolitik werden der Ferne Osten und Sibirien ans China abbröckeln. Für die russische territoriale Integrität ist dies ein fürchterliches Risiko.
Was den Süden angeht, die Islambedrohung: In Russland gibt es viele Regionen mit moslemischer Bevölkerung. Dort gibt es nicht wenige hitzige Köpfe, und sogar genug russische, vielleicht nicht so viele, aber doch eine bedeutende Anzahl, die gerade zum Islam konvertieren. Dabei zweifellos – zum radikalen Islam.
Was muss man denn tun? Welche positive Schlussfolgerung aus all dem gibt es, und was ist dementsprechend die Aufgabe unserer Intelligenz?
Erstens, der blödsinnig aufgeblasene, zu sowjetischen Zeiten erfundene, nie zuvor existierende Antiamerikanismus und das Antiwestlertum müssen von unserer Seite einer totalen Verspottung ausgesetzt werden. Wir müssen diese Barbarei bekämpfen. Das ist typischer Rassismus, typischer Nazismus, wenn bei uns Menschen Amerika nicht mögen. Das ist dumm. Was bedeutet das? Das ist das Gleiche, dass in Amerika Russland nicht geliebt wird, und ich zum Beispiel Obervolta nicht mag. Das ist das Erste, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und den Menschen erklären sollten, dass das Idiotie und ganz klar sowjetisches Erbe ist.
Soll doch die Obrigkeit nach ihrer sowjetischen Gewohnheit versuchen, an unsere nationale Einmaligkeit zu appellieren und andere Völker zu verachten, wobei sie die Klassensolidarität gegen die Nationalsolidarität ausgetauscht hat, also von der kommunistischen Plattform auf eine faschistische wechselte – wir werden dem aber nicht nachgeben.
Zweitens, wir müssen uns klar werden, dass unsere Interessen, Russlands Interessen, und nicht irgendwelche unerwiderte Liebe, von uns ein Bündnis mit Europa zu suchen fordern, ein Bündnis mit der NATO, mit der Atlantischen Gemeinschaft.
Das ist das Einzige, was wir den Risiken aus dem Süden und Osten entgegensetzen können. Diese Bündnis hat unser Land 1941-1945 gerettet. Wenn es diese nicht gegeben hätte, wäre jetzt alles anders.
Es gab eine Idee von Gorbatschow: ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok, und eigentlich war es auch Putins Idee: die Erschaffung eines Sicherheitssystems von Wladiwostok über Moskau, Paris und Lissabon, bis nach Vancouver, einschließlich Japan. Das ist alles nun kaputt. Unsere Aufgabe ist zu erklären, dass unser einziger Weg ein Weg zum Erhalt unseres politischen und wirtschaftlichen Wohlstands ist.
Man darf sich nicht mit jemandem anfreunden, der dich einnehmen möchte, oder mit denjenigen, die nicht weiter entwickelt sind, als du es selbst bist. Du wirst nichts von ihnen bekommen, nur verlieren. Nur eine Welt, in der du Technologien, Ressourcen, Geld, Kultur, Bildung, Universitäten bekommst, an denen die Kinder unserer Reichen übrigens auch studieren, die Welt, in der sich ihre Eltern ärztlich behandeln lassen, in der diese Menschen ihre Villen bauen – nur diese Welt ist ein begehrter Verbündeter. Wir müssen in diese Richtung gehen, sonst erleben wir eine Niederlage.
Wir sind jetzt schon durch die falsche aggressive Außenpolitik so abgetrennt vom Westen, dass die Wege zurück sehr, sehr schwierig sein werden. Aber mit jedem Tag werden sie nur schwieriger.
Je schneller wir, die russische Intelligenzija, diesen für Russland verderblichen Weg einer politischen und wirtschaftlichen Autarkie verlassen, um so einfacher werden unsere Kinder in 10, 20, 30 Jahren aufatmen können.
Danke.
Quelle: Andrei Borissowitsch Subow beim Kongress der russischen Intelligenzija;
übersetzt von Irina Schlegel