Die Werchowna Rada verabschiedete am 9. April das Gesetz «Über den Zugang zu den Archiven der repressiven Organe des kommunistisch totalitären Regimes der Jahre 1917-1991». Alle Dokumente, die im Zusammenhang mit Repressionen, Verletzungen der Menschenrechte und der Freiheit der Menschen stehen, werden dem Archiv des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken übergeben. Die Möglichkeit, diese zu studieren, wird jeder Interessierte erhalten, einschließlich der russischen Historiker. Der Journalist der «Meduza», Alexander Borzenko, erfuhr von dem Experten für sowjetische Repressionen, dem Historiker Nikita Petrow, was die Öffnung der ukrainischen Archive für Russlands Einwohner bedeutet – und warum die russischen Archive in absehbarer Zeit nicht freigegeben werden.
— Die Öffnung der ukrainischen Archive – wie bedeutsam ist dieses Ereignis für Historiker?
— Das ist selbstverständlich ein sehr wichtiger und sehr großer Beschluss der Werchowna Rada – die Öffnung aller Unterlagen der Geheimdienstarchive, die auf dem ukrainischen Territorium operierten. Vieles wurde bereits unter dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko getan, doch jetzt ist die Rede von der Freigabe aller Dokumente u.a. Agentenakten, Nachforschungsergebnisse. Geöffnet werden sogenannte «Dossiers» – von den sowjetischen Geheimdiensten gesammelte Informationen über unbequeme Bürger.
In der Geschichte müssen all die zu erkennen sein, die schlechte Dinge taten. Das ist wichtig für die wissenschaftliche Entwicklungsarbeit und das Verständnis, was die sowjetische Herrschaft, was das sowjetische repressive Regime sogar in seiner, ich würde sogar sagen, recht milden Form unter Breschnew und den nachfolgenden Generalsekretären, darstellte. Je mehr Unterlagen wir haben, umso besser können wir die Mechanismen der politischen Macht, der Beschlussfassungen und der staatlichen Unterdrückung all dessen, was der Staat als schädlich, überflüssig und unnütz erachtete, verstehen und beurteilen. Ohne die Öffnung der Geheimdienstarchive sind diese Kenntnisse nicht möglich.
Es genügt nicht, nur die Entscheidungen der Parteien und die der Parteiorgane zu verfolgen, viele von ihnen sind übrigens bis Heute in Russland geheim – die Archive des Staatsschutzes erwähne ich schon gar nicht, da sie praktisch unzugänglich für unabhängige Forscher sind. Die Ukraine macht einen wichtigen Schritt nach vorn, den viele andere Staaten des ehemaligen sozialistischen Blocks schon gemacht haben.
— Gibt es Episoden in der sowjetischen Periode der ukrainischen Geschichte, für die die Archivunterlagen ganz besonders gebraucht wurde?
— Archivunterlagen waren immer Mangelware. Sogar wenn wir von Ereignissen sprechen, die uns mehr oder weniger bekannt sind. Die Öffnung der Unterlagen des Staatsschutzes baut unser Wissen über die geheimen Sprungfedern repressiver Mechanismen aus. Wir wissen, wie im Großen und Ganzen das eine oder andere Ereignis ablief, womit es begann und womit es endete. Wir kennen jedoch nicht alle handelnden Personen und ihre Rollen. Womöglich werden Historiker keine globalen Entdeckungen machen, wenn sie Zugang zu neuen Unterlagen bekommen. Die Vorstellung von der Natur der sowjetischen Ordnung wird sich wohl kaum ändern, sie hat sich bereits mehr oder weniger formiert. Doch die Öffnung der Archive ist nicht nur für Historiker wichtig – es ist wichtig für die Gesellschaft, für die moralische Reinigung nach dieser Periode, die wir als sowjetisch und totalitär bezeichnen. Die Archive müssen geöffnet werden, um die Rolle jedes Einzelnen aufzuzeigen.
— Und könnte sich jetzt herausstellen, dass einige Menschen der späten UdSSR mit dem KGB kooperierten und nun wichtige Posten besetzen?
– Höchstwahrscheinlich nicht. Immerhin sind nach dem Untergang der UdSSR bereits 25 Jahre vergangen. Viele der damals hochrangigen Menschen sind einfach nicht mehr am Leben. Es geht nicht darum abzurechnen, sondern um die Ansteuerung einer bestimmten, ich würde sagen – einer moralischen Ordnung in der Gesellschaft. Die Menschen, die heimlich mit dem sowjetischen Regime kooperierten oder heimlich schlechte Dinge taten, bestraften sich eigentlich schon vor langer Zeit innerlich. Denn sie lebten nach dem Jahr 1991 mit der ständigen Angst vor Entlarvung — das ist schlimmer als die Entlarvung.
— In solchen Fällen spricht man von der Gefahr des Beginns einer Hexenjagd. Möglicherweise sind die Schuldigen nicht am Leben, doch es gibt ihre Verwandten.
– In diesem Fall ist „Hexenjagd“ ein demagogischer und falscher Ansatz. Eine «Hexenjagd» ist die Verfolgung Unschuldiger. Es existieren in Wirklichkeit keine Hexen. Das bedeutet, dass ihre Bekämpfung ein bewusster Kampf gegen Unschuldige auf Grundlage irgendwelcher Verdächtigungen ist. Wir sprechen jetzt von der Freigabe vom objektiven historischen Material – Hexen haben damit nichts zu tun. Hexen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, in Flüssen ertränkt. Da ging es um Strafe. Hier ist von keinerlei Strafe die Rede. Es wird einfach das geöffnet, was vor den Menschen versteckt wurde.
Die Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staatsschutz in der sowjetischen Zeit ist keine private Angelegenheit der Bürger. Das wurde mit Staatsgeldern, auf Kosten der Steuerzahler, sprich im Namen des Staates, in unser aller Namen getan. Und wenn ein Offizier des Staatsschutzes die Einwilligung von jemandem zur heimlichen Zusammenarbeit erhielt, handelte er in unserem Namen und wir haben schließlich das Recht darauf zu wissen, wie und wofür das getan wurde, ob ebendieselben sowjetischen Gesetze gebrochen wurden (und oft stellt sich heraus, dass sie gebrochen wurden; dass die Menschen dazu genötigt wurden, mit den Organen des Staatsschutzes zusammenzuarbeiten). Und damit sich so etwas nicht wiederholt, müssen solche Dinge selbstverständlich in aller Öffentlichkeit gezeigt werden; was auch als Lustration bezeichnet wird.
– Archiv-Unterlagen sind sehr kompliziert. Das Wissen muss doch auch noch irgendwie an das breite Publikum herantragen werden. Versteh‘ ich das richtig, dass die Öffnung der Archive an und für sich nur der erste Schritt ist?
— Natürlich. In all den Ländern, in denen die Archive geöffnet wurden, sind Verfahren zur Heranführung des Materials an die Menschen eingeleitet worden – mancherorts war das erfolgreich, anderorts nicht so sehr. Nun ja, die Maßnahmen zur Öffnung der «Stasi»-Archive in Ostdeutschland sind einwandfrei. Die Justiz des neuen Deutschlands beharrt darauf, dass der Mensch gegen den die Staatssicherheit arbeitete, ein Recht darauf besitzt, es zu wissen und dabei auch das Recht besitzt zu wissen, wer ihm sein Leben erschwerte.
— In Russland ist die Lage mit der Öffnung der Archive eine etwas andere. Dennoch gibt es genügend Dokumente, die den verbrecherischen Charakter der sowjetischen Regierung und die Massenrepressionen bezeugen. Allerdings beobachten wir keinen Bruch im gesellschaftlichen Bewusstsein oder eine Meinungsänderung im Bezug auf die sowjetische Vergangenheit.
— Ja, erstens würde ich nicht sagen, dass die Lage in Russland mit den Worten «eine etwas andere» beschrieben werden kann. Sie ist radikal anders. Tatsächlich haben russische Bürger keinen Zugang zu einer riesigen Menge Archivmaterial, die den staatlichen Gewaltorganen gehören – dem Innenministerium, dem Außenministerium, dem Dienst der Außenaufklärung (russischer Auslandsnachrichtendienst), dem Verteidigungsministerium, dem FSB usw. In den Behörden sehen wir eine gehässige Unlust bei der Öffnung von Dokumenten, obwohl sich diese Unlust gegen das Gesetz richtet – gegen die Gesetze über Staatsgeheimnisse, über die 30-jährige Verschlusssache und andere, die den Russen den Zugang zu den Archiven zusichern. Ich spreche schon gar nicht davon, dass ein Gesetz über die Zollfahndung verabschiedet wurde, das die Arbeit der Agentur auf die Staatsgeheimnis-Stufe hebt – jedoch sollte es sich nicht auf ähnliche Informationen aus der sowjetischen Epoche ausweiten. Wir haben alle gesetzlichen Grundlagen dafür, Unterlagen aus der Zeit bis 1991 zu öffnen, doch der russische Staat wünscht das nicht.
– Aber einige Dokumente werden doch auch jetzt veröffentlicht?
— Ja, es wurden viele Dokumente veröffentlicht, einiges wird auch jetzt veröffentlicht, doch die Frage lautet: warum ist das nicht zur einer bestimmenden Kraft im gesellschaftlichen Bewusstsein geworden? Viele richtungsweisende Dokumente zu den verbrecherischen Entscheidungen der Sowjetmacht sind veröffentlicht, doch es gibt auch Details; die Rolle der einen oder anderen Person; Unterlagen, die mit der einen oder anderen Operation des Staatsschutzes oder den repressiven Kampagnen in Verbindung stehen, die nicht vollständig zugänglich sind. Denn so viele Dokumente, die den Großen Terror der Jahre 1937-1938 betreffen, haben nämlich den Geheimhaltungsvermerk bedauerlicherweise beibehalten. Die russische Seite hält bis heute noch einige Dokumente geheim, die etwas mit Repressionen gegen Bürger anderer Staaten zu tun haben. Zum Beispiel der Beschluss über die Einstellung des Falls Katyn, in dem klar und deutlich die Schuld des Kremls und der Sowjetunion durch die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft erklärt wird. Ungeachtet dessen gilt er als geheim, nur damit es von unserem Volk nicht gelesen wird. Damit es keine offensichtlichen Beweise und Zeugnisse für die sowjetischen Schuld und ihre verbrecherischen politischen Praktiken gibt.
Das Selbe gilt für das Jahr 1945 – die Verbrechen, die die SMERSCH-Behörden verübten: beispielsweise im Zuge der Hetzjagd im Wald von Augustow, als 575 polnische Bürger heimlich, ohne Gericht getötet wurden. Und bis Heute war Russland nicht freundlich genug, den Ort, an dem die Leichen dieser Getöteten genaugenommen begraben sind, bekannt zu geben. Ist dies eine Straftat? Ja, dennoch deckt Russland solche stalinistischen Verbrechen.
– Und weshalb wurde das, was veröffentlicht wurde, nicht zum Grund eines Umbruchs im gesellschaftlichen Bewusstsein?
— Die Frage lautet: warum haben so wenig Menschen erkannt, dass das Sowjet-Regime ausschließlich auf Repressionen, Angst vor Repressionen und Zwangsarbeit aufgebaut war? Die Menschen wollen ihre angenehmen Illusionen, die sie hatten, nicht verlieren: von einer gewissen konfliktfreien Vergangenheit, darüber, dass sie schön war. Stalin brach die Gesetze des Landes, das er regierte. Das bedeutet – er ist ein Verbrecher, und Dokumente, die das bezeugen, gibt es zu Genüge. Aber sind sie zur Grundlage gerichtlicher Urteile bezüglich des Sowjet-Regimes und seinen Herrschern geworden? Nein, sind sie nicht. Und in der Ukraine wurden solche Beschlüsse bereits bewilligt – in Bezug auf Holodomor zum Beispiel.
— Welchen Schwierigkeiten begegnet ein Mensch, der die Akte seiner Verwandten in russischen Archiven einsehen möchte?
– Wenn es um die Strafverfolgung geht, dann kann man im Falle einer Rehabilitierung dieses Verwandten die Akte bekommen und einsehen. Und noch etwas – sie händigen solche Akten aus, aber oft werden wichtige Seiten verschlossen. Immer versucht man etwas zu verbergen, womit sie beim normalen Bürger ablehnende und empörte Reaktionen hervorrufen. Einige Menschen wurden keinen Repressionen ausgesetzt, jedoch verfolgt und in den Archiven liegen Unterlagen zu dessen Nachforschungsergebnissen. Zum Beispiel wurde der Schriftsteller Solschenizyn einfach hinausbefördert. Die Geheimdienste bearbeiteten den Akademiker Sacharow, den Schriftsteller Woinowitsch und viele andere – also wird man derartige Akten aus den Archiven der Staatssicherheit niemanden aushändigen. Sie werden sagen: wir haben kein Gesetz, das erlauben würde, solche Dokumente auszuhändigen. Bei uns wird auf Staatsebene das Recht der Bürger zu wissen, welche Massnahmen der Staatsschutz gegen sie und ihre Familie unternahm, verleugnet. Der Staat und seine Geheimnisse sind gegenüber dem Menschen höher gestellt: wenn man dir gesagt hat, dass du das alles nicht wissen musst, bleib zu Hause und falle nicht auf.
— Und wenn der Verwandte nicht rehabilitiert wurde?
– Wenn er nicht rehabilitiert wurde, dann ist die Akte gemäß dem heutigen russischen Gesetz in 75 Jahren für jeden einsehbar. Und bis zum Ablauf der 75-jährigen Frist haben die Verwandten das volle Recht auf Einsicht der Akten, um zum Beispiel einen Einspruch bei der gerichtlichen Rehabilitierung vorzubereiten. Doch leider werden die heutigen Archive alles dafür tun, um eine derartige Akte nicht auszuhändigen und den Verwandten bei seiner Mühe für die Rehabilitierung zu hindern. Obwohl eigentlich vorschriftsmäßig jeder das Recht hat, selbst zu kommen und auch einen Anwalt für die Akteneinsicht zu schicken, da der Fall aus der Sicht des Gesetzes unkündbar ist. Das bedeutet, dass die Anschuldigungen in Kraft bleiben, zu ihnen kann man immer zurückkehren und sie revidieren, und dafür müssen die Akten auch ausgehändigt werden. Jedes Mal benötigt man heroisches Engagement, um die bürokratische Mauer zu durchbrechen. Es gibt ein Gesetz, dass einem das Recht für Akteneinsicht von Verfolgten gewährt und dann gibt es Praktiken, die dieses Gesetz untergraben. Es werden einhundert Gründe erfunden, um ihnen diese Akten nicht zu geben. Manchmal müssen Menschen mit gerichtlichen Mitteln dagegen vorgehen, und oft verlieren sie diese Fälle – wir kennen nicht viele davon, die gewonnen wurden.
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– Kann denn die Öffnung der ukrainischen Archive zum Teil das Problem mit der Geheimhaltung einiger russischer Dokumente lösen? Können denn nun Historiker darauf hoffen, dass sie in den ukrainischen Archiven Papiere bekommen, die sie in Russland nicht einsehen konnten?
– Sie können. In den ukrainischen Archiven werden Historiker diese Dokumente einsehen können. Es wird in Russland der Geheimhaltungsvermerk von solchen Papieren jedoch nicht entfernt, mit der Begründung, dass sie anderswo bereits freigegeben sind. Vor gar nicht so langer Zeit gab es einen Fall, bei dem der russische Historiker und Forscher Sergei Prudowski einen Antrag in die zentralen Archive des FSB für die Freigabe des sogenannten geschlossenen Briefes zum Charbiner Befehl von September 1937 stellte: des Briefes, der die Repressionen und die massenhaften Operationen gegen Bürger bei Verdächtigungen in der «Spionage für Japan» begründet. Das war eine Massenoperation des NKWD, wo viele-viele tausende Menschen zu Schaden kamen. Ihm wurde die Freigabe in Moskau verweigert. In Kiew wurde dieses Dokument bereits 2009 freigegeben und man kann ihn im Internet finden. Das hatte keinen Einfluss auf die Haltung des Moskauer Gerichts, das den Antrag ablehnte, die vom FSB und der innerbehördlichen Kommission zum Schutz des Staatsgeheimnisses beschlossene Entscheidung zur Verlängerung der Geheimhaltung des «geschlossenen Briefes über die Charbiner» als rechtswidrig anzuerkennen. Und das Oberste Gericht sagte in aller Ruhe: dieses Dokument hat keinerlei Bezug zu Repressionen. Obwohl bei der Analyse des «geschlossenen Briefes» offensichtlich wird, dass es die Ereignisse völlig falsifiziert, die Schuld an Spionage auf ehrliche Menschen auferlegt. Denn die Menschen, die in diesem Befehl aufgezählt werden, sind rehabilitiert. Das bedeutet, dass die Vorwürfe gegen sie als falsch gelten. Das heißt, dass dieses Dokument ein Zeugnis der repressiven Kampagne ist und gemäß unserer Gesetzgebung freigegeben werden muss. Doch unsere russischen Gerichte scheren sich einen Dreck drum.
– Aber auf was berufen sich in der Regel die Verwaltungsdienstellen der Archive und die Behörden? Ist es ein Privatgeheimnis oder eine Gefahr für die nationale Sicherheit – was ist der formelle Vorwand? Oder erklärt keiner etwas?
– Nein, ein Privatgeheimnis endet eben nach der 75-jährigen Frist. Es scheint, als hätten die Archive nichts mehr, auf was sie sich berufen könnten – sie müssen aushändigen. Doch sie fangen an, allerlei Tricks á la Rechtsnormen zu erfinden, wie das Parlament 2006 bezüglich der zu den Archiven gehörenden Ermittlungsakten über die Nicht-Rehabilitierten, mit dem eine Herausgabe von Akten an Nicht-Rehabilitierte nicht vorgesehen wird. Tatsächlich hat dieses Parlament nichts mit den Nicht-Rehabilitierten zu tun. Den Zugang zu den Akten von Nicht-Rehabilitierten regelt schlichtweg das Gesetz des Archivwesens der Russischen Föderation des Jahres 2004. Doch die Beamten, die in den Archiven sitzen, schalten das bürokratische Unverständnis ein: aber bei uns steht es hier nicht, deshalb geben wir sie nicht heraus. Natürlich versuchen manche besonders Verzweifelte sie mit Hilfe von Gerichten zu disziplinieren – klappt nicht immer, wie ich bereits sagte.
– Inwieweit kann man die Öffnung der ukrainischen mit der Öffnung der «Stasi»-Archive vergleichen? Bei der Öffnung der «Stasi»-Archive rannten alle los, um zu erfahren wer einen denunzierte, ob nicht der Nachbar, Freund, Bruder derjenige war, der einen an die freien Mitarbeiter der «Stasi» verriet. Dort war die Institution der freien Mitarbeiter enorm verbreitet. Wie aktuell ist dieses Interesse jetzt – herauszufinden, wer dich denunzierte?
– Wissen Sie, wenn wir über die sowjetische Zeit reden, ist dieses Motiv nach Ablauf der 25-jährigen Dauer nicht mehr erstrangig – dennoch merken wir die Tatsache an, dass die Stasi-Archive in unmittelbarer historischer Nähe zum Zusammenbruch der DDR geöffnet wurden. Und die Archive des sowjetischen Staatsschutzes, die nun in der Ukraine geöffnet werden (wie ich davon in Russland träume) – sie wecken heute natürlich kein derartig brennendes Interesse mehr. Das ist mehr ein akademisches, historisches Interesse. Aber auch ein öffentliches Interesse, da wir uns alle an die Ereignisse der 1980er Jahre erinnern können. In der Ukraine gab es auch diese Repressionen. Eine ganze Menge Menschen waren von den Tätigkeiten des KGB betroffen. So, dass dies nicht das wichtigste Motiv sein wird. Es ist jedoch auch wichtig, leugnen darf man es nicht.
Es stellt sich heraus, dass alle Länder um uns herum die sowjetische Vergangenheit überwunden haben, nur wir wollen das nicht, halten an ihr fest und finden in ihr irgendein Gut für eine historische Eingebung. Und das bedeutet, dass wir uns in der Vergangenheit aufhalten und der Kreml diese Nostalgie gekonnt ausnutzt, sie zu nähren versucht – einerseits mit Märchen über die Sowjetische Größe und anderseits mit der Ablehnung der Öffnung irgendwelcher zusätzlicher Archiv-Sammlungen. Russland traut sich nicht, Stalin als einen Verbrecher zu bezeichnen, flirtet aber mit dem historischen Thema. Diese gedankenlose Verherrlichung des Jahres 1945, während man verstehen sollte, von welchen Opfern die Rede ist, während man verstehen sollte, von welchen politischen Regimen, die die Sowjetunion in den Staaten Osteuropas installierte, die Rede ist. Das waren repressive Regime, keiner kann uns dafür dankbar sein und wir wundern uns: wie kann das sein – wir haben alle befreit und wir bekommen nicht einmal ein Dankeschön? Das ist kognitive Dissonanz, wir können mit dem Gedanken überhaupt nicht fertig werden: wie das tatsächlich in den Augen der restlichen Menschheit aussah – all das, was wir taten?
Gestört sind die Logik und der gesunde Menschenverstand. Die Quelle der Macht in Russland ist das Volk. Es bildet das Staatswesen und an ihn delegiert er seine Vollmachten. Wir sind nicht für den Staat da, der Staat ist für uns da. Doch wir sind nicht die Herren in unserem Land – sie sehen doch, welche Dinge heute in Russland passieren. Haben die Bürger denn bei einem Referendum bestimmt, ein Embargo für aus dem Westen stammende Produkte einzuführen? Nein, der Staat hat sie einfach begrenzt und fertig, und es ist unwichtig, ob es jemandem dadurch schlecht geht, keiner hat die Bürger gefragt, verstehen Sie? Das ist unsere heutige politische Praxis.
– Wenn die Archive geöffnet werden und Historiker dorthin fahren, und es auch vernünftig veröffentlicht wird, könnte es es irgendwie Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein nehmen? Oder ist diese Ettape bereits überwunden?
– Sie werden fahren und dort sein. Der wissenschaftliche Tourismus wird selbstverständlich blühen, da die Öffnung von Archiven immer ein Fest für Menschen ist, die sich mit Geschichte befassen. Das ist immer ein wunderbares Ereignis – seinen Horizont zu erweitern und sein Wissen zu mehren. In Russland wird momentan eine umgekehrte Tendenz beobachtet: in Russland werden Ausländern bei Arbeiten in Bibliotheken und Archiven einfach Steine in den Weg gelegt, zum Beispiel wird an ihren Touristen-Visa herumgenörgelt.
Ich glaube, die russische Legislatur verzerrt alles Wirkliche. Wenn ein Mensch mit einem Touristenvisum eingereist ist, hat er das Recht, Museen zu besuchen. Dann ergibt sich eine Frage: warum hat er kein Recht darauf, Archive aufzusuchen? Das ist dieselbe Wissenserweiterung – ob es ein Archiv, Museum, oder eine Bibliothek ist. Das ist seine Privatsache. Er gibt ja auch Geld für Kopien aus (und in unseren Archiven ist es eine teure Angelegenheit). Das gibt es in keinem anderen Land – Sie können in ein beliebiges europäisches Land mit einem Touristenvisum einreisen und in Archiven recherchieren, Ihr Wissen erweitern.
Quelle: Alexander Borzenko für meduza.io; übersetzt von Kateryna Matey, redaktiert von Irina Schlegel.