
Der russische Politologe Andrei Piontkowski kommentiert in einem Interview an Newsader die Situation mit dem russischen SU-24, der von der türkischen Luftwaffe im Himmel über der türkisch-syrischen Grenze abgeschossen wurde. A.Piontkowski vermutet, dass Putin diesen Vorfall als einen Anlaß dafür nutzen wird, seiner „TV-Bevölkerung“ zu erklären, dass Russland in der nahöstlichen Region nicht nur gegen den IS (mit dem Moskau eher freundschaftliche als feindliche Beziehungen pflegt), sondern auch gegen die machtvolle NATO kämpft, was ein wundervolles Argument zugunsten eines endlosen Krieges gegen „Ozeanien“ ist, der dem putinschen Regime seine Pseudolegitimität gewährleistet.
Newsader: – Andrei Andrejewitsch, erste Frage: Sollten wir einen Krieg gegen die Türkei erwarten?
Piontkowski: – Eine durchaus begründete Frage nach den gestrigen Worten von dem Alfons unserer bezaubernden Gymnastin Frau Nawka (Anm.d.Übers. Gemeint ist Peskow): „Der Präsident wurde mobilisiert, maximal mobilisiert, bis zu einem Level mobilisiert, den die Umstände von uns erfordern. Die Umstände sind präzedenzlos, Russland wurde präzedenzlos herausgefordert. Und daher eigentlich auch die Reaktion, die dieser Bedrohung angemessen ausfällt.“
Aber die wahnsinnigen Worte des wahnsinnigen Pressesekretärs eines wahnsinnigen Präsidenten ist keine Angeberei mehr – das ist die Tobsucht wegen der misslungenen Angeberei. Es wird keinen Krieg zwischen der Türkei und Russland geben, es wird aber eine plötzliche Verschärfung der Beziehungen geben. Für Putin ist es der wertvollste Beitrag zum Gesamtbild seines heroischen Kampfes gegen die Dämonen.
Er lebt in einer PR-Welt, in der Welt eines virtuellen Krieges, den man im Fernsehen zeigen muss, besonders nachdem er den hybriden Krieg gegen die Ukraine verloren und das von der Propaganda aufgebauschte Konzept der „Russischen Welt“ eine Riesenblamage erlebt hat.
Für Putin als einen Diktator ist die Situation sehr schwierig geworden, denn in der Regel treten die Diktatoren infolge der aussenpolitischen Niederlagen ab. Genau deswegen wechselte der Kreml seine Tagesordnung und begab sich nach Nahen Osten, um seinen Teletubbies die Illusion eines aussenpolitischen Sieges in Syrien anzubieten.
Dort kann es aber definitionsgemäß gar keinen Sieg geben. Das Maximum, das man dort mit Hilfe der Terroristen aus Hisbollah und der Iranischen Revolutionsgarde erreichen kann, ist die kleine Aleviten-Enklave vor der Vergeltung für Assads Verbrechen seitens der sunnitischen Mehrheit zu schützen und ein zweites „Luhandonien“ zu erschaffen.
Nun braucht Putin ein Orwell-Eurasien im Fernsehen, das einen ewigen Kampf gegen zwei andere Imperien führen wird – gegen Ozeanien und Ostasien. Denn noch zu romantischen Zeiten der Eroberung von Neurussland wurde uns erklärt, dass die Ukraine nur ein Territorium ist, auf dem Russland den vierten Weltkrieg gegen die westliche Zivilisation führt. Die Türkei hat in diesem Sinne der putinschen PR-Kampagne einen guten Dienst erwiesen.
Was besonders gut für Moskau ist, ist die Tatsache, dass ein sehr langer und schwerer Kampf bevorsteht, denn mit solchen Feinden sollte man nicht auf einen schnellen Sieg hoffen. Am Ende kann man nun anstatt der versprochenen drei Kriegsmonaten gegen die „Terroristen“ in Syrien auf lange Jahre des Konflikts in der Region hoffen, der dem putinschen Regime weiterhin verlässlich seine Pseudolegitimität gewährleisten wird.
Nun hat das Orwell-Modell zu seiner Vollendung gefunden: Wenn wir früher nur gegen den IS „kämpften“, so kämpfen wir nun auch noch gegen die NATO, und das ist das Hauptergebnis der Verschärfung der Beziehungen mit der Türkei.
NA: – Warum hat sich, Ihrer Meinung nach, die Türkei auf eine Situationsverschärfung in der Region eingelassen?
A.P.: – Ich möchte anmerken, dass die Türkei an sich, abgesehen von der NATO im Ganzen, auf dem konventionellen Niveau stärker als die russische Armee ist, und Atomwaffenbestand gibt es auf dem türkischen Territorium auch, wenn auch mit dem „Doppelschlüssel“, dessen zweiter Teil sich in den USA befindet.
Klar ist aber auch, dass für Luftraum-Verletzung trotz des formellen Anlasses keine Flugzeuge einfach so abgeschossen werden. Im letzten Jahr hat Russland mehrmals solche Ein- und Aus- und Umflüge auf der ganzen Welt gemacht, darunter auch in den USA und Grossbritannien. In Wirklichkeit wurde das Flugzeug aus Rache für systematische Bombardierungen der Turkmenen durch die russische Luftwaffe abgeschossen. Die Turkmenen stehen den Türken ethnisch nahe und haben keinerlei Bezug zum IS. Deren einzige Schuld besteht in der Tatsache, dass sie sich – wie auch die Mehrheit des syrischen Volkes – gegen Assad erhoben haben. Aufgrund dessen greift Moskau sie gnadenlos an, was Erdogan auf keinen Fall ignorieren kann. Versetzen Sie sich mal in seine Lage: Ethnische Türken zu töten erlauben ist für ihn als einen türkischen Politiker gleich einem eigenhändig unterschriebenen Todesurteil.
Übrigens versteht Putin dies ausgezeichnet. Es ist ja bekannt, dass er nicht gegen den IS kämpft. Im Gegenteil, er vernichtet die komplette Nicht-IS-Opposition in Syrien, um den Westen vor das Problem zu stellen: Im Land sind nur noch zwei Spieler geblieben – Assad und der IS, und von den beiden soll man das kleinere Übel wählen.
Somit, wenn Erdogan und Putin sich am Montag in Paris auf dieser bescheuerten Konferenz zur bescheuerten Erwärmung treffen, wird die Hauptfrage, die sie ausdiskutieren werden, ob Putin weiterhin die Turkmenen zu bomben beabsichtigt.
NA: -Nichtsdestotrotz hat die Vernichtung des Jagdbombers Moskau erniedrigt. Noch ist nicht klar, wie genau der Kreml seine „Verteidigung“-Reputation vor seiner TV-Bevölkerung wiederherzustellen beabsichtigt.
A.P.: – Die Sache ist, dass ich, im Gegensatz zu Ihnen, mich innerhalb dieses virtuellen Raumes befinde, der für Teletubbies erschaffen wurde, und in diesem Sinne mache ich mir keine grossen Sorgen um Putin. Es ist bereits eine ganze Menge an simulacre erschaffen worden: Äpfel mit Fliegen, Bananen mit Ameisen, Einschränkung des türkischen Exports, Abdrängung der Bauunternehmen, Verbrennung der türkischen Flagge vor der Botschaft. Also, es wird die Illusion einer harten Antwort erschaffen, die eine kompensatorische Funktion erfüllen soll.
NA: – Was denken Sie, ist sich die NATO dessen bewusst geworden, dass die militärische Maschine Russlands ein Papiertiger ist, nach Verzicht Moskaus auf eine militärische Antwort?
A.P.: – Die NATO positioniert sich weiterhin selbst als einen Papiertiger, um auf keinen Fall den anderen Papiertiger zu erschrecken. Wenn auch jemandem von den Beamten der Atlantischen Bündnis irgendwelche brutale Gedanken in den Kopf kommen, so verwerfen sie diese selber wieder auch.
Was für NATO? Schauen Sie sich nur diesen jämmerlichen Hollande an. Wozu fährt er Putins Hand wie einem Paten der Erdkugel küssen? Aus einem einfachen Grund: er hat sich erschreckt. Erinnern Sie sich noch, womit die russische Propaganda ab den ersten Minuten nach den Terroranschlägen in Paris beschäftigt war? Erinnern Sie sich an zynische Erklärungen von Markow, Kiseljew, Solowjew und Medwedew darüber, dass die Probleme bei den Franzosen sich fortsetzen, bis sie verstehen werden, dass sie sich mit Russland einigen und die Ukraine aufgeben sollen, wo wie bekannt die „ukrainische neonazistische Junta“ regiert, die ein Hindernis für „antihitlerische Koalition“ darstellt?

„3. Man muss dringend den Konflikt zwischen Russland und dem Westen wegen der Ukraine beenden. Die Junta soll durch eine technische Regierung abgelöst werden, die Verfassung muss geändert, Neonazis weggeräumt, neue freie Wahlen müssen abgehalten werden. Kiewer Junta ist eins der grössten Hindernisse für den gemeinsamen Kampf der USA, EU und Russland gegen die Terroristen.“
Ich möchte meine Position erklären. Ich behaupte gar nicht, dass Putin höchstpersönlich die Explosionen in Frankreich organisierte. Aber er hat kolossale Möglichkeiten des Einflusses auf den IS, dessen Rückgrat ehemalige Offiziere von Saddam sind, die in Russland ausgebildet wurden. Es gibt Fakten, über die „Novaya Gazeta“ schrieb: Die massenhafte Einschleusung von Dschihadisten aus Nordkaukasus wurde unter direkter Leitung des FSB verwirklicht. Seinen Einfluss im Nahen Osten hat auch die alte Tschekisten-Agentur bewahrt. Der Faktor, über den ich als beinahe Einziger im Land spreche – in letzter Zeit spreche ich davon und berufe mich auf verlässliche Quellen – also, dieser Faktor ist Assads Erwerb von Erdöl beim IS unter dem „Dach“ von Moskau. Faktisch gibt es eine Dreierbündnis Assad-Putin-IS.
Die Franzosen wissen über diese Wechselbeziehung, darum gehen sie auf Nummer sicher und wollen keinen direkten Streit mit Moskau eingehen. Dabei sollte man berücksichtigen, dass Hollande ja nicht alleine mit der Idee einer Bündnis mit Russland auftritt – die ganze politische Klasse Frankreichs verabschiedete ihn nach Moskau unter Marseillaise, von dem Trozkisten Melenchon bis zur Faschistin Le Pen. Einstimmig riefen sie dabei dazu auf, die antirussischen Sanktionen abzuschaffen und über die Ukraine zu vergessen. Darüber schrie auch der Ex-Präsident des Landes und zukünftiger Präsidentschaftskandidat Sarkozy, und mit ihm zusammen – noch ein Haufen Ex-Premierminister. Ich muss sagen, dass es gänzlich in Traditionen der französischen Elite ist: Zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges gab sie ihre jüdischen Mitbürger in die Hände von Gestapo ab. Warum sollten sie heute die Ukrainer nicht aufgeben?
Eine andere Sache ist, dass dieser wundervoller französischer Elan noch keine Bestätigung, weder in den USA, noch in London, noch in Deutschland bekommen hat, entgegen den Wünschen von Hollande und der feigen französischen Elite.
NA: – Wie stehen Sie zur Version von Belkowski, dass Russland an den Terroranschlägen in Paris mitgewirkt hat?
A.P.: – Sagen wir mal so: Ich habe eine viel verlässlichere Informationsquelle – Alexey Wenediktow (Anm.d.Übers. Chefredakteur von Echo Moskaus, mit Kontakten zum Kreml). Aus Dummheit oder dem eitlen Wunsch, mit seinen Kontakten zu den Kremlquellen zu prahlen, verplapperte er sich im jüngsten Interview bei „Echo Moskaus“ und sagte, dass der IS durch direkte Vermittlung Russlands mit Erdöl handelt. Russlands Banken gewährleisten die Durchführung entsprechender Handelsoperationen, und das Aussenministerium Russlands erweist den Terroristen die diplomatische Unterstützung – unser wunderbarer Ribbentrop (Lawrow) hat bis vor kurzem die Franzosen daran gehindert, die Erdölfelder in Syrien anzugreifen, wobei er sich selbstverständlich auf die „Normen des internationalen Rechts“ berief. Natürlich bedeutet es nicht, dass Putin den Hörer abnimmt und persönlich den Auftrag einen Terroranschlag auszuführen abgibt. Nichtsdestotrotz fanden die Terroranschläge in Paris just nach dem statt, als die Franzosen begannen, die Erdölfelder des IS zu bomben. In Hinsicht der propagandistischen und politischen Druckausübung auf Frankreich hat der Kreml sie glänzend ausgenutzt.
Quelle: Andrei Piontkowski im Interview an Newsader; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Der Fall von Paris”
16/07/2016
Islamischer Staat oder Moskau: Wer exportiert den Terror nach Europa? - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Tatsache ist aber, dass Russland ein Sponsor des internationalen Terrorismus ist und seine Hände überall mit drin hat. Die Verantwortung für die Terroranschläge in Brüssel hatte der IS auf sich aufgenommen, der […]