von Juri Nesterenko
Ich weiß nicht, wer wie denkt, aber ich persönlich kann diesen Fantasystempel nicht leiden: Da lebt so ein netter kleiner Held in seinem netten kleinen Häuschen. Er lebt, tut keinem was, züchtet Kürbisse oder bastelt da irgendwas Nützliches in der Stadt. Grüsst die Nachbarn, vergnügt sich zivilisiert auf den örtlichen Festen, macht Pläne für die Zukunft: „Verkauf‘ hier die Ernte, bau‘ einen neuen Flügel an das Haus dran“, oder bastelt an einem Bindemäher eigener Konstruktion. Und plötzlich – BUMM! – kommt ein ungebetener Gast vorbei, im Regenmantel und einem doofen Hut, und sagt: „Du bist der Auserwählte! Du hast eine Mission! Geh‘ die Welt retten!“
WTF?
Wieso denn??? Hat ihn jemand gefragt, ob er der Auserwählte sein will? Hat sich irgendjemand daran erinnert, dass jeder Auserwählte das Recht auf Ablehnung hat? Zumal es auf dieser Welt so viele coole Ritter, professionelle Armeen, übermächtige Magier und sogar Götter gibt, die das Problem mit einem Fingerschnips lösen könnten, wenn sie nur wollten. Aber sie alle wollen irgendwie nicht, und nun muss dieser kleine Hobbit für sie die Suppe auslöffeln, der friedliche Bauer, arbeitsame Handwerker, der sich als allerletztes erträumt hat, mit dem Absoluten Bösen zu kämpfen.
Und dann schließt er doch, traurig seufzend, sein Häuschen ab, lässt den ungeernteten Ertrag auf dem Feld, und geht gegen den Dunklen Herrscher kämpfen, der ganze Königreiche in Schrecken versetzt. Notgedrungen – wahrhaftig notgedrungen! – verwandelnd vom Held im Sinne character in einen Helden im Sinne hero. Nein, all diese machtvollen Magier und Könige werden ihm natürlich helfen. Mit weisen Ratschlägen hinter dem Rücken. Im besten Fall mit einem ablenkenden Manöver in einer zweitrangigen Richtung. Aber die Hauptarbeit muss unser Held trotzdem selber machen.
Und genau die Rolle spielt nun die Ukraine. Ein gutmütiges und friedliebendes Volk, dessen Sprache sogar wahrscheinlich eine der zartesten der Welt ist, ist nun gezwungen, im Alleingang die Welt vor dem Absoluten Bösen, dem Imperium des Bösen, vor dem verdammten Horden-Mordor, vor so einem Sammelbecken der Niedertracht, Gemeinheit, Grausamkeit, Lüge und stumpfer irrationaler Bosheit, die scheinbar nur in der Fantasy-Welt existiert, aber leider Realität ist, zu retten.
Vor Russland.
Ukraines Mission, die sie weder gewählt noch der sie sich aufgedrängt hat, besteht nun offensichtlich darin, die Erde endgültig von diesem Jahrhunderte alten Bösen zu befreien. Von dem widerlichen Monster, geboren aus dem Resultat der Vergewaltigung der Kyjiwer Rus durch die mongolische Horde, aufgefüttert mit dem Blut vieler Völker und dem Gift der unbeschränkten Macht, und niemals – nicht mal zu seinen hellen Zeiten (relativ hellen, selbstverständlich) – der Welt und auch seinen eigenen Bewohnern etwas anderes entgegenbringend als Unheil.
Alexander II. hat den polnischen Aufstand in Blut ertränkt, hat Turkestan besetzt, hat ein Massaker in Tschetschenien und Dagestan veranstaltet (jaja, er auch!), und angefangen mit liberalen Reformen, ist er doch mit einem Polizeiterror geendet. Jelzin hatte einen Krieg in Abchasien lange vor Putin angefangen, der mit Genozid und der Flucht der Georgier endete, die die Mehrheit der Republik ausmachten (es war die reinste Hölle, die abchasischen Söldner, auf deren Seite die Russen gekämpft haben, haben den Georgiern gar keine Möglichkeit zur Flucht gegeben – im Bestreben sie alle zu töten. So wurden in nur wenigen Tagen drei Flugzeuge mit Flüchtlingen gesprengt), er hat die prosowjetischen Separatisten in Transnistrien unterstützt, hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben, und bis zum letzten Moment hat er versucht, Milosević denselben Dienst zu erweisen, und danach schon wieder – Tschetschenien. Und das sind die einzigen zwei „Befreiungszaren“ in der ganzen Geschichte Russlands! An die anderen will man sich irgendwie gar nicht erinnern…
Ich betone es noch einmal für diejenigen russischen Liberalen, die noch immer das dumme Mantra „Hasse den Staat, aber liebe meine Heimat!“ wiederholen – die Welt muss nicht nur vom Putin-Regime befreit werden, sondern von Russland als solchem. Ihr müsst wählen: Entweder seid Ihr für Freiheit, Demokratie, Würde, Ehre, Respekt vor dem Individuum und dem Gesetz, vor dem Hausnachbarn und vor dem Erdenachbarn, für Menschenrechte und Internationales Recht, Wahrheit, Güte und Frieden – oder Ihr seid für Russland. Das eine ist mit dem anderen absolut unvereinbar, leider. Und die Tatsache, dass wir alle leider Gottes im Imperium des Bösen geboren worden sind, ist absolut kein Anlass, dies zu verneinen. 5% weiße Krähen werden keine 95% schwarze ändern können, die „Die Krim ist unser!“ krächzen. Auch wenn man eine schwarze Krähe weiß anmalt, bleibt sie schwarz – von Natur aus. Aber ich werde hier die Grundlagen meines „Exodus“ nicht nacherzählen, der schon vor vier Jahren geschrieben wurde, und mit den letzten Ereignissen so anschaulich bestätigt wurde, wie es nur irgend möglich ist. Ich betone nur noch einmal: es geht hier gar nicht um die Kiseljow-Propaganda, oder die angeblich frisierten Ratings. Die Menschen glauben der Lüge nicht, weil sie die Wahrheit nicht erfahren können, sondern weil sie diese nicht wissen wollen.
Ein wenig überzeichnet kann man sagen, dass alle größeren Tragödien der letzten hundert Jahre eine Folge davon sind, dass Russland immernoch nicht auseinandergefallen ist. Es hätte das Schicksal des Osmanischen Imperiums teilen müssen (ein nicht minder tyrannischer und obskurer Staat), aber leider haben es die Bolschewiken 1917 geschafft, an der Macht zu bleiben und die Mehrheit der in die Freiheit geflüchteten Völker wieder anzuschließen. Eine Gegenreaktion auf den russischen Kommunismus ist der europäische Faschismus geworden, den die Bolschewiken selbst auf alle mögliche Arten angefangen haben zu umhegen, in der Hoffnung, die westlichen Demokratien mit seiner Hilfe zu stürzen. Ohne die sowjetische Hilfe, die politische und die ökonomische, wäre Hitler der Führer eines marginalen Haufens von Schreiern geblieben (und Japan hätte sich nicht getraut, allein gegen die ganze Welt zu kämpfen). Stattdessen ist der schrecklichste Krieg der Geschichte ausgebrochen, nach dem das Russische Imperium (die UdSSR) halb Europa besetzt hat, und die Pest des Kommunismus breitete sich über die ganze Welt aus, weitere Millionen von Leben hinwegspülend. Zum Glück hatte das Imperium des Bösen sein Pulver bis zum Jahre 1991 verschossen, und sein zweiter Zerfall ist geschehen. Aber schon wieder kein endgültiger, und seine Früchte ernten wir nun.
Der Dritte Zerfall muss die Wiederherstellung des Imperiums unmöglich machen und die Welt endgültig von der russischen Bedrohung befreien.
Und diese große Mission zu erfüllen, wurde nun der Ukraine zuteil. Die am wenigsten, ich wiederhole, danach strebte. Die Tschetschenen zum Beispiel würden die Sache viel lieber in die Hände nehmen. Wenn es nur 45 Millionen Tschetschenen gäbe, würde die grüne Flagge mit dem Wolf schon über den Ruinen des Kremls wehen. Ich sage übrigens nicht, dass diese Variante eine gute Lösung wäre – meine Einstellung zum Islam und den Islamisten ist sehr gut bekannt, und im Konflikt zweier Übeln bin ich nicht geneigt, eins davon zu idealisieren. Ich konstatiere nur. Aber das Zitat von Leo Tolstoi, das sich auf den allerersten tschetschenischen Krieg bezog, ist noch immer unverändert aktuell (wann wird nur sein „Hadschi Murat“ (1896) in die „Liste der russischen extremistischen Publikationen“ aufgenommen?):
„Niemand sprach vom Hass gegenüber den Russen. Das Gefühl, dass alle Tschetschenen von klein bis groß empfanden, war stärker als Hass. Es war kein Hass, sondern die Aberkennung des Menschseins für diese russischen Hunde, und so eine Verachtung, ein Abscheu und Befremden vor der widersinnigen Grausamkeit dieser Wesen, dass der Wunsch nach ihrer Vernichtung, so wie der Vernichtungswunsch gegenüber Ratten, giftigen Spinnen und Wölfen, so ein natürliches Gefühl wie ein Gefühl der Selbsterhaltung war“.
Die Ukrainer aber wollten nur, dass das Reich der Dunkelheit sie in Ruhe lässt. Viele von ihnen haben sogar noch immer nicht gelernt, seine Bewohner zu hassen. Sie glauben noch immer an die guten Orks, die vom bösen Sauron betrogen wurden (obwohl eine direkte Analogie mit Tolkien hier nicht in Frage kommt, denn Sauron war kein Ork und auch kein Ork-Erzeugnis, Putin aber ist Fleisch vom Fleisch seines Volkes). Sie glauben noch immer daran, dass man „Brüder“, die die Ukrainer im dreizehnten Jahrhundert durch eine Finte angeschlossen haben, sie durch ein Gemetzel gebändigt und im siebzehnten Jahrhundert in Leibeigene verwandelt haben, im neunzehnten Jahrhundert ihre Kultur vernichtet, sie wieder in Besitz genommen und im zwanzigsten Jahrhundert sie millionenhaft während des Holodomors und der Repressionen vernichtet, und wieder gemordet, gehasst, und sie im 21. wieder einzunehmen versucht haben – dass man sie noch immer auf irgendeine Weise „entzombieren“ könnte.
Leider, wie wir alle aus Thrillern wissen, kann man Zombies nur mit einer Kugel in den Kopf „heilen“. Und immer mehr Ukrainer sind gezwungen, es zu verstehen. Zu verstehen, dass es nicht einfach nur ein Krieg ist, die es genug in der Geschichte gab, dass es nicht mal nur ein Krieg für die Unabhängigkeit, sondern ein vaterländischer Krieg gegen das Absolute Böse ist. Das, was das Lieblingsklischee der Propaganda in Zeiten des sowjetisch-nationalistischen Krieges war (in dem sich beide Seiten einander in nichts nachstanden, wobei die sowjetische schlimmer war), ist nun in diesem Fall tatsächlich die Wahrheit.
Genau in dieser Sekunde, in der ich diese Zeilen schreibe, schaue ich nebenher Nachrichten. Russische Okkupanten haben mal wieder eine Sanitätskolonne beschossen. Und an einem anderen Ort, und das auch nicht zum ersten Mal, sind vier Lastwagen mit weissen Fahnen und den Aufschriften „Kinder“ zu einem Checkpoint gekommen, und dann sind aus diesen Lastwagen bewaffnete Menschen herausgesprungen, die Feuer auf die ukrainischen Militärs eröffnet haben. Und all das – nach einem grausamen Massaker bei Ilowajsk, bei dem es den ukrainischen Militärs mit einem „Offiziersehrenwort“ versprochen worden war, dass sie sich durch einen Korridor zurückziehen können, und als sie dann versucht haben, diesen Korridor zu nutzen, aus allen Waffenarten beschossen wurden. Dabei gibt es die russischen Militärs in der Ukraine gar NICHT, begraben werden sie im Stillen, ihre Namen werden von den Gräbern entfernt, ihre Frauen verraten das Andenken ihrer Männer – aus Angst die minimale Rente nicht zu bekommen, und dem Abgeordneten Schlossberg, der diese Fakten ausgräbt, wird der Schädel eingeschlagen. Ja, richtig – wer, wenn nicht ein Jude, könnte sich Sorgen um das Andenken der Russen machen, die als Kanonenfutter hingeschickt und von Russland verraten wurden, und welche Dankbarkeit kann er dafür erwarten?
„Nein, es ist noch nicht mal mehr Mordor – hier gibt es gar keine Größe!“ hatte ich 2009 zum Jahrestag des russischen Überfalls auf Georgien geschrieben. Absolute, unendliche Niedertracht, Gemeinheit, Lüge, Dreck, der nur endlose Abscheu und Verachtung hervorruft. So hat keiner einen Krieg geführt, und keiner hat sich so verhalten: weder die Faschisten des Zweiten Weltkrieges, noch die Kreuzritter, noch die Moslems. Sie haben sich abscheulich ihrem Gegner gegenüber verhalten (und sogar das nicht immer), aber sie hatten wenigstens Respekt vor den eigenen Leuten.
Und vor diesem Feind muss die Ukraine nun die Welt retten, wie ein kleiner Fantasyheld. Ich hoffe, Semjon Sementschenko wird mir nicht böse sein, aber sogar er hat sich, nachdem er die Balaklava ausgezogen hatte, vom Gesicht her mehr als gutmütiger Hobbit denn als brutaler Kriegsfürst entpuppt.
Und die weisen Magier und die machtvollen Könige mit ihren Trägerflotten, Panzerarmaden, supermodernen Raketen und schließlich ökonomischen Fähigkeiten, das Imperium des Bösen mit einem Schlag zu zerstören, selbst wenn mit einem bestimmten Verlust für sich selbst, scharen sich währenddessen hinter dem Rücken des Auserwählten und wiederholen nur: „Wir unterstützen Dich, sehr viel, arg viel unterstützen wir Dich. Wir verstehen ja, dass der Feind den Krieg auch gegen uns führt. Also, bitte, komm‘, alle Hoffnung ist auf Dich. Nein, wir geben Dir keine Waffen. Wir sind doch hell, wir haben Angst, die Helligkeit unseres Messgewandes zu beflecken. Also mach‘ Du das irgendwie selber, ok? Du bist doch der Auserwählte. Und wir denken solange nach, wie wir Dir helfen können. Vielleicht hören wir ja auf, Kaviar und Diamanten bei dem Dunklen Fürsten einzukaufen. So. Und Besorgnis. Wir drücken unbedingt unsere Besorgnis aus!“
Im selben Gedicht von 2009 habe ich geschrieben, mich an Russland richtend:
„Solange die verfaulten Fänge nicht wieder in Blut gewaschen werden, Und Schönheit durch unheilbringende Rudel nicht wieder zertrampelt wird. Stirb‘, gehe fort, verschwinde! Und es soll auf deinem Grab das Symbol einer geklauten Gabel anstatt eines Kreuzes eingepresst werden.“
Leider Gottes. Alles ist so gekommen, wie ich es befürchtet hatte. Gewaschen und zertrampelt. Nun zerfleischen diese Fänge die Ukraine.
Nichtsdestotrotz habe ich keine Zweifel, dass es der letzte Kampf des Monsters sein wird.
Die Ukraine wird siegen. Und nicht weil solche Helden immer in Büchern gewinnen. Nur ist ein 45-Millionen Land ein gar nicht so kleiner Hobbit, besonders wenn man es richtig wütend macht. Und das Imperium des Bösen ist jetzt schon viel schwächer, als es an den Vorabenden seiner letzten Niederlagen war. Natürlich wird die ukrainische Armee den Kreml nicht einnehmen, aber das Monster wird an ihr seine letzten giftigen Zähne brechen und dann wird es endlich verrecken. Verrecken, schon wieder, ohne jegliche Größe. Jämmerlich und entwürdigend.
Und der Held wird, wenn seine letzte Mission erfüllt sein wird, zu seinen Kürbissen zurückgehen und den letzten angehäuften Dreck aus dem Haus fegen. Und wird wieder auf Dorffesten tanzen, wenn auch anfangs humpelnd. Wahrscheinlich wird er nur die weisen Magier und die Könige ohne die frühere Pietät anschauen. Und auf ihre Gratulationen wird er zurückhaltend antworten: „Schon gut, schon gut… ich muss hier noch den Bindemäher zu Ende basteln“.
Juri Nesterenko für inforesist.org; übersetzt von Irina Schlegel