
von Irina Schlegel
Der Leiter des GUR (Hauptverwaltung des Nachrichtendienstes) des ukrainischen Verteidigungsministeriums Valery Kondratjuk informiert den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko darüber, dass auf der Krim ein bewaffneter Zusammenstoß zwischen den Militärangehörigen der Streitkräfte Russlands und dem Grenzdienst des FSB unter Schusswaffeneinsatz stattgefunden hat.
Zurzeit kursieren viele Gerüchte darüber, was denn genau letzte Woche auf der Krim geschehen ist, das die russische Propaganda so unbeholfen und ohne jegliche Beweise als einen „Angriff ukrainischer Diversanten“ bezeichnete.
Mir schienen zwei Meinungen interessant zu sein, mit denen Sie sich im nachfolgenden Artikel vertraut machen können. Die erste ist von einem ehemaligen sowjetischen Offizier, Alexander Surkov.
„Ich habe nicht nur in der Sowjetunion gelebt – ich diente dort als Offizier der sowjetischen Streitkräfte. Darum erinnere ich mich nicht nur ausgezeichnet an Brot für 16 Pfennig und kostenloses heißes Wasser, sondern auch an das Wort „Saljot“ (zu dt. „Reinfall“). Das ist das Wesen des sowjetischen Armeesystems. Jeglicher ideologischer oder disziplinarischer Verstoß, Verbrechen, Unfall, Zwischenfall – all das ist „Saljot“.
In der sowjetischen Armee herrschte das Prinzip der „Alleinverantwortung“. Das ist ein bescheuertes System, bei dem die Kommandeure aller Ränge jeglichen Verstoß ihrer Untergebenen unabhängig von Ursachen und Umständen persönlich verantworten müssen. Niemanden interessiert es, ob der Armeekommandeur den einen Soldaten vielleicht nie im Leben gesehen hat, der besoffen seine Kameraden erschossen hat. Bestraft werden alle, vom gemeinen Soldaten bis zu seinem fetten Kommandeur. Des Öfteren wird dabei ein Verstoß zum Anlass für die Lösung von Karrierefragen und Problemen innerhalb der Gruppierungen.
Durch diese Herangehensweise entstand in der sowjetischen Armee ein jahrzehntelang kultiviertes System der mehrstufigen Hehlerei von Ausnahmezuständen und der Kunst des „richtigen Berichts“. Nun schauen wir uns von diesem Standpunkt aus die Ereignisse auf der Krim an.
Frischbesetztes Territorium. Manöver unter Anwesenheit des Verteidigungsministers. Am Höhepunkt der Manöver begehen einige Kämpfer Fahnenflucht mit Waffen. Beim Versuch sie festzunehmen, legen sie ein paar Leute um. Saljot. Dazu auch noch zwischenbehördlich.
Verheimlichen konnte man es nicht. Die ganze Welt beobachtet die Truppenbewegungen mitsamt Militätgerät, Schießereien, Schließung der Grenze. Also wird hastig der Mechanismus des „richtigen Berichts“ angeworfen.
Im Lauf der totalen Personenkontrolle wird plötzlich ein verdächtiger ukrainischer Staatsbürger entdeckt, ein ATO-Teilnehmer. Ich bin zu 90% sicher, dass Panow tatsächlich seinen ATO-Ausweis mit sich trug, anderenfalls konnte der FSB das auch schnell über seine Datenbanken herausfinden. Der „Diversant“ wird gleich beim ersten Verhör traditionell grün und blau geschlagen, also kann man ihn nicht mehr als einen Unbeteiligten vorstellen, denn dann werden alle Probleme verdoppelt und verdreifacht, und es werden ganz andere Köpfe fliegen.
Hastig ziehen die FSBler gemeinsam mit den Militärangehörigen jeden „Diversanten“-Schrott, den sie in ihren Depots mit Beweismitteln haben, vor die Kameras und erzählen eine haarsträubende logikfreie Story über „ukrainische Truppen, die versucht haben [die Grenzlinie] zu durchbrechen“. So entsteht eine Legende. Absolut irrsinnig, was jeder versteht, aber das Oberkommando kann es nicht mehr zurücknehmen, denn man darf keinen „Saljot“ zugeben.
Die Legende mündet schliesslich in eine „offizielle FSB-Mitteilung“. Vermute, dass es auf die Schnelle gemacht wurde, ohne eine Abstimmung mit der Spitze, um alle zusammen verantwortlich zu machen.
Die kremlischen Weisen sind am Ausrasten, sitzen aber auch in der Falle der eigenen Propaganda. Für sie ist es einfacher, den Irrsinn, den die verängstigten Krimer FSBler erfunden haben, weiterzuspinnen, als die wahren Gründe zu nennen, den verprügelten Mann zurückzugeben und den Schützen zu feuern. Denn das wäre nicht nur die Anerkennung eines „Saljots“, sondern auch die Anerkennung der eigenen Schwäche.
In ihrem Wertesystem ist es besser als aggressive idiotische Lügner dazustehen, als zivilisierte Menschen, die ihre Fehler einzugestehen bereit sind. Nun wird versucht, diesen „Saljot“ als eine militärisch-politische Karte auszuspielen… Erschreckend dabei ist nur eines. So wie einst die bescheuerten Schüsse in Sarajevo, können auch hier Mechanismen angeworfen werden, die nicht mehr zu steuern sind…“
Interessanterweise kündigte der russische Präsident ein paar Tage nach dem Zusammenstoß auf der Krim den langjährigen Vorsitzenden der Präsidialverwaltung Sergei Iwanow. Dieser Schritt kam wie aus dem Nichts und ließ viele schlussfolgern, dass es mit den Ereignissen auf der Krim zu tun haben könnte. Es könnte sein, dass man Putin zunächst falsch informiert hatte, was diese scharfen Aussagen seinerseits in den Medien zufolge hatte und als sich die Situation geklärt hat, irgendjemand dafür büßen musste.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Video vom Ersten TV-Kanal Russlands, das angeblich vom FSB in der Nacht auf den 7. August gedreht wurde. Leider ist im Video aber ein Vollmond zu sehen. Den letzten Vollmond gab es aber am 21. Juli. Saljot. Die russische Propaganda hatte diesmal nicht mal Schauspieler à la „Ich bin hier die gebürtige Einwohnerin von… und habe gesehen, dass…“ vorzuweisen. Auch ein interessanter Moment. Sie scheinen völlig unvorbereitet gewesen zu sein.
Nun zu den festgenommenen Diversanten. Einer von ihnen, Andrei Romanowitsch Sachtei, ist in der Datenbank von „Myrotworez“ registriert als ein gefährlicher Terrorist, der zwei Haftstrafen abgesessen hatte, bereits Anfang 2014 an antiukrainischen Demos teilnahm und dann im Donbass als Waffenschmuggler auftauchte. Der zweite ist Ewgenij Panow, ein ehemaliger ukrainischer ATO-Soldat, der nun in einem Kernkraftwerk in Saporischschja als Fahrer arbeitet und auf der Krim zufällig gewesen ist. Als Nächstes möchte ich Sie mit dem Beitrag eines Moskauer Journalisten, Ewgenij Lewkowitsch, bekanntmachen, der das erste veröffentlichte Video von Panows Verhör analysiert. Seine Analyse wirft Licht auf einige zusätzliche Aspekte dieser Geschichte.
„Wegen meines vorigen Berufs habe ich zahlreiche Verhöre von Verdächtigen gesehen. Genauer gesagt, über 100. Es ist klar, dass ein Verhör, besonders wenn es um ein Schwerverbrechen geht, kein Bewerbungsgespräch ist. Das ist ein äußerst scharfes „Gespräch“, in 99,9% der Fälle begleitet von Drohungen, Erpressung und physischer Gewalt. Es sollte klar sein, warum. Andernfalls ist es unmöglich, irgendwelche Aussagen, ob wahrheitsgemäß oder nicht, zu bekommen. Es gibt auf der Welt fast keine Idioten, die einfach so, aus freiem Willen heraus, ihre Schuld anerkennen und somit eine lebenslange Haft unterschreiben würden. Ich versuche hier nicht, diejenigen zu rechtfertigen, die Gewalt anwenden, ich stelle nur Fakten fest. Nichtsdestotrotz, selbst mit diesem Wissen habe ich lange mehr keinen Menschen gesehen, der so dermaßen zermürbt wurde wie der Verdächtige im FSB-Video. Sie sind großartig. Sie können nicht mal gescheite Urin-Proben abgeben und zeigen nun der ganzen Welt auch noch ein Video, das im Grunde nur als ein Beweis für das von ihnen begangene Verbrechen dienen kann.
Erstens, es besteht kein Zweifel daran, dass Panow mit einer Tüte über dem Kopf gewürgt wurde. Daher sein absolut verschwollenes Gesicht, Lippen und der schwere Atem (wobei auch das eine Standardfolter beim Verhör ist).
Es besteht kein Zweifel daran, dass zwecks einer Aussage mit Panow lange gearbeitet wurde. Das Video des Verhörs dauert nur 5:33 Minuten, aber selbst in dieser kurzen Zeit sehen wir 9 Filmschnitte. Mehr noch, mehrmals ändert sich die Kameraposition und das Licht. In der Rede des Verdächtigen wird dabei die Folgerichtigkeit und die Chronologie eingehalten. Was bedeutet, dass Panow im selben Raum mehrmals ein und dieselben Fragen beantwortete, aber manche wohl nicht ganz so, wie es der FSB sich wünschte und darum manche Stellen nochmals aufgenommen werden mussten.
Beachtet bitte die Stelle 0:22 bis 0:36 im Video. Man sieht hier detailliert, dass Panow einen Text aufsagt, der mit dem Ermittlungsführer im Voraus abgesprochen und geprobt wurde. Panow sagt, dass er „im ATO [Gebiet, wo die offizielle Anti-Terror-Operation stattfindet, Anm. d. Red.] zwischen August 2014 und August 2015 diente“ und hält an, nach einer zweisekündigen Pause und einem unzufriedenen Seufzer vom Ermittlungsführer nickt Panow aber zustimmend und setzt wieder an: „Ah, im Bestand des 37. selbstständigen Marineinfanterie-Bataillons“. Es fehlt nur „Entschuldigung, hab‘ das Ende vergessen“…
Es gibt sogar Schnitte mitten im Satz, zum Beispiel, bei 0:48 bis 0:49: „War nach Kiew eingeladen (Schnitt), mir wurde gesagt, dass eine Gruppe zusammengestellt wird“. Solch‘ eine hölzerne Arbeit sehe ich ehrlich gesagt, zum ersten Mal.
Minute 2:08 bis 2:09. Bevor die Frage „Welche Aufgaben sind Ihnen gestellt worden?“ beantwortet wird, sehen wir eine ganz komische Sache: Bei 2:08 sitzt der Verdächtige noch in einer relativ entspannten Pose, bei 2:09 ist sein Blick aber schon sehr verängstigt, seine linke Hand stützt sich auf das linke Bein und rutscht permanent ab. Und das in einer Sitzposition. Entweder ist Panow dermassen „müde“, dass er gezwungen ist, sich selbst in dieser Pose zu stützen, oder aber ist etwas mit seinem Bein los und er reibt es. Womöglich sind seine Beine müde vom Laufen, womöglich wurde aber einfach auf sie eingeschlagen.
Ich ziehe hier keine Schlussfolgerungen über die Schuld oder Unschuld von Panow. Wie oben beschrieben, hat das Faktum der Gewaltanwendung nichts mit Schuld oder Unschuld zu tun. Hat Panow so etwas im Sinn haben können? Theoretisch ja. Wäre ich ein draufgängerischer ukrainischer Patriot, der sich um jeden Preis an den Besatzungstruppen rächen möchte, hätte ich zuallererst an die Fährenübersetzstelle mit Erdölplattform gedacht. Ich denke zwar nicht, dass ich mich diesbezüglich beim Verteidigungsministerium hätte beraten lassen, aber gut, auf der Welt gibt es alles…
Ich stelle hier nur Fakten fest. Das Video des Verhörs ist sehr hölzern gemacht und uns wird auch keine vollständige Version gezeigt. Zumindest einen Teil seiner Aussage gibt Panow nach Diktat des Ermittlungsführers (oder des Fragenstellers) ab. Panow gegenüber ist physische Gewalt angewendet worden. Und dann bin ich auch sicher, dass die Geschichte mit den „Krimer Diversanten“ etwas ganz und gar Schlechtes und Weiterreichendes ist… „Unter diesen Bedingungen sind die Treffen im Normandie-Format völlig sinnlos,“– sagte Putin.“
Diese Geschichte weist viele Lücken und Unstimmigkeiten auf. Vieles ist gar unverhohlene Lüge. Wie sich das alles weiterentwickeln wird, werden wir wohl in Kürze sehen. Die Rhetorik der russischen Regierung ist jedenfalls sehr aggressiv und auf Eskalation gerichtet. Die Weltgemeinschaft scheint aber der russischen Version nicht sonderlich zu glauben, und mehrere internationale Experten, unter anderem Rebecca Harms, äußerten bereits ihr Misstrauen gegenüber den kremlischen Aussagen über die Beteiligung der Ukraine an den Ereignissen auf der Krim. Es sieht tatsächlich danach aus, dass auf der Krim ein bewaffneter Zusammenstoß mit Opfern zwischen zwei russischen Behörden – dem FSB und der Armee – stattfand, den Russland nun versucht, der Ukraine in die Schuhe zu schieben.
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
CC BY 4.0
One Response to “„Diversion“ auf der Krim: Was ist tatsächlich passiert?”
17/08/2016
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