Hallo! Ich weiß nicht wie ich dich ansprechen soll. Du bist nicht meine Schwester, wir sind nicht nicht verwandt, auch keine Freundinnen. Wir sind uns nie begegnet, aber ich kenne dich und weiß, dass es dich gibt. Ich habe dich in den Augen deines Sohnes gesehen. Nein, hab keine Angst, ihm geht es gut.
Er saß in einem großen Militärwagen (hier sieht man jetzt viele davon) und wirkte so ernst, konzentriert, am Wegrand, an der Straße, die von Russland nach Mariupol führt. Mit Staub bedeckt, ein wenig von der Reise und der Hitze ermüdet, und deshalb traurig, saß er da, auf sein Maschinengewehr gestützt, als ob er nach einem Halt suchte.
Sie alle, die in diesem Wagen saßen, waren so, diese Jungen. Alle gleich, mit abstehenden Ohren, in hellgrünen Uniformen, mit dem ersten Flaum an der Oberlippe, mit dem müden, gleichgültigen, gelangweilten Blick.
Sie fragten mich, wo man hier Wasser holen kann. Ich zeigte es ihnen: – Fahrt von der Straße runter und dann durch zwei Gassen, dann nach links abbiegen, und um die Ecke seht ihr den Hof einer Firma, die haben da einen Brunnen, dort kann man Wasser holen. Wo kommt ihr denn her, Kinder?
Und dann verlor ich mich in seinen Augen. Auf einmal wurden sie so groß und tief, erst sogen sie mich in sich hinein, dann mit einem Schrecken ließen sie mich los und wurden dunkel, als ob vor Angst oder Furcht. So dunkel wurden sie, dass ich nichts anderes sehen konnte als diese Augen.
-Bin ich hier in der Ukraine?! – hauchte er. Er kannte schon die Antwort, stellte aber die Frage als ob er dafür betete oder darauf hoffte, dass ich „nein“ sage.
– Ja, das ist Ukraine, – bestätigte ich.
Er schwieg. Nur die Lippen zuckten leicht. Nur in den Augen blitzten Verzweiflung und Schmerz. Denn die Seele folgt nicht den Armeebefehlen. Sie schrie. Nein, sie schrie nicht, sie seufzte, flusterte, stöhnte. Wie der Wind in der Steppe, da stehst du in der Hitze und kein Grashalm bewegt sich, und dann plötzlich wie aus dem nichts kommt ein heißer Windstoß und verbrennt dich bis ins Innere.
– Mama!
Und da sah ich Dich. In seinen Augen. Du warst wohl gerade am Kochen, aber als er „Mama!“ hauchte, zucktest du zusammen und drehtest dich um. Es hätte auch nicht anders sein können. Ein Teil deines Herzens rief nach dir. Dein Herz ist aus dem Takt gekommen, als es diesen Ruf vernahm.
„Mama!“ – schreien wir, wenn wir einen Teil unserer Seele auf die Welt bringen und ihr damit verkünden, dass wir unsere Bestimmung erfüllt haben. Wir weinen, wenn dieses Wesen mit den funkelnden Augen die Nase kraus zieht, sein allererstes Wort sagt- „Mama!“- und seine Händchen nach uns ausstreckt.
„Mama!“ – schreien wir wenn es weh tut, wenn wir Angst haben, wenn die Dunkelheit kommt, wenn wir uns verzweifelt an das Leben klammern, wenn wir uns selbst und unsere Lieben verlieren.
„Mama!“ – schreien unsere Kinder aus Angst, Hilfslosigkeit, Verzweiflung, Not, Liebe, Freude, Stolz. Das ist ein Wort, dass den Anfang und das Ende des Lebens markiert – Mama!
Ich konnte dich sehen, den lautlosen Ruf deines Sohnes hören, nur aus einem Grund: ich bin selber eine Mutter.
Ich lebe in der Ukraine, ich habe Töchter, aber es macht keinen Unterschied – ich bin eine Mutter. Denn eine Mutter ist auch in Afrika eine Mutter.
Dein Junge kam zu uns, in den Krieg. Oder wurde eben in den Krieg geschickt. Ich weiß nicht, ob zum Töten oder zum Sterben. Im Krieg ist es das Gleiche. Wie kann seine Seele heil bleiben, nachdem er unseren Boden mit dem Blut unserer Söhne getränkt hat?
Glaubst Du nicht an die Seele, an Gott, an die Liebe?! – das ist auch dein Recht.
Aber was wird deinen Sohn nach Hause bringen? – wohl nicht der Befehl seines Kommandanten, der mit diesem Krieg Geld verdient oder den Befehlen anderer folgt. Nach Hause bringt einen nur die Liebe und der Glaube.
Sag mir, ich konnte es nicht verstehen, als ich in das Gesicht deines Kindes sah – warum, wozu kam er hierhin, um uns in unserem eigenen Land zu töten? Warum hat er seine Freundin gegen das Maschinengewehr ausgetauscht? Warum geht er durch unsere Steppe und lässt verbitterte Witwen mit erloschenen Augen hinter sich?
Habe ich dich vielleicht beleidigt? Oder dein Haus zerstört? Oder dir deinen Mann weggenommen und dein Herz gebrochen? Nein, wir sind uns nie begegnet. Warum dann dieser Krieg?
Weißt du, wie die Steppen hier in der Nacht nach einer Schlacht noch lange klingen? Die Lebenden rufen die Toten an. Verstehst du, das sind auch Mütter. Sie rufen ihre Söhne an. Es ist unheimlich.
Es gibt bei uns in der Ukraine einen Vogel, den nennen wir Moorochse. Ihr kennt ihn vielleicht als Rohrdommel. Man sagt, wenn er sein Lied singt, weint er um die unglücklichen Seelen, die ohne Sakramente gegangen und nun dazu verdammt sind, über die Steppe zu wandern und nach der ewigen Ruhe zu suchen, die ihnen nicht vergönnt ist.
Die Frauen hier sind wie die Klageweiber der Antike, wie die traurige Rohrdommel. Sie weinen um diejenigen, die im Steppengras und zwischen den Feldblumen liegen, die in die Kohleminen geworfen oder in den Gräben verscharrt wurden. Wir schließen die Augen, bestellen eine heilige Messe für ihre Seelen, die keine Ruhe finden. Wir wissen nicht, wessen Söhne oder Ehemänner sie waren. Der Boden ihrer Heimat hat sie aufgenommen, alles andere ist egal.
Weißt du, wie schrecklich das ist, hier am Wegrand zu stehen und zuzusehen, wie solche Jungen, alle kurz geschoren, über die Grenze aus Russland zu uns kommen. Hören unsere Mundart und erschrecken sich, als es ihnen aufgeht, dass sie in der Ukraine sind. Kläglich wie die kleinen Spatzen. Das sind die Rekruten, sie haben noch Angst, zu töten.
Die, die den scharfen Blick eines Raubtiers haben, das seine Beute sucht – das sind Berufssoldaten. Ihnen gefällt es, ihre Stärke zu zeigen, sie haben schon Blut geleckt. Das sieht man an der zuckenden Nasenspitze, die die Beute wittert, und am nervösen Blick, der nach dem Tod Ausschau hält.
Noch schrecklicher ist es, genauso am Wegrand zu stehen und zu sehen, wie die gleichen Wagen zurück fahren, in Richtung Grenze. Aus ihrem Innern, durch den Geruch von Staub, Zeltplanen und Diesel, strömt der süßliche, aufdringliche und abstoßende Geruch vom verwesenden Fleisch. Von dort ertönen die Schreie der Menschenfracht.
Und wie sie schreien. Wie sie stöhnen, und mit jedem Röcheln entweichen ihrer Brust die letzten Reste ihres Lebens. Der Kohlenstaub am Straßenrad wird mit dem schwarzen Saft der Verwesung getränkt. Die Toten liegen an der Seite der Sterbenden und lassen ihnen keine Hoffnung.
Bei uns gibt es nicht viel Wasser, kaum Regen, das hier ist die trockene Steppe mit dem durch die Dürre gespaltenen Boden. Die Erde saugt Wasser wie auch Blut gierig ein.
Deshalb wird der braun-rote Rinnsal, der hinter den Wagen läuft, schon in paar Minuten verschwinden. Diese Spur mit dem schwarzen Glanz der geronnenen Blutzellen und der rötlichen Feuchte der Plasma verschwindet vom Asphalt wie von der staubigen Landstraße.
Der Boden nimmt die Lebenssäfte auf, die als seltener Regen kommen, und auch die Säfte des Todes, die durch unsere Steppen wie ein breiter Fluss fließen. Der Erde ist es egal, was sie nährt. Staub zu Staub.
Weißt du, Wasserquellen sind bei uns selten. Die Bergwerke haben die unterirdischen Flussläufe verändert und das Wasser diesem vor Anthrazitstaub funkelnden Land genommen. Um die Quellen, die noch da sind, haben wir Angst. Oft sehen wir jetzt in der Steppe, neben den Gruben der verlassenen Minen, Militärwagen, deren Nummernschilder mit Blut oder Erde verschmiert sind.
Unsere bodenlosen Minen sind zu Gräbern für namenlose Soldaten geworden. Aus irgendeinem Grund bringt man die Toten nicht zurück über die Grenze. Man lässt sie hier. Jetzt haben wir Angst, dass das verwesende Fleisch unsere letzten Wasserquellen vergiftet.
Der Krieg geht über mein Land, verseucht es und trocknet es aus. Und mitten in dieser Hölle ist dein Junge. Warum ist er hier? Ist das sein Krieg?
Man sagt mir, die russischen Soldaten würden russische Bürger hier, in der Ukraine, beschützen. Vor wem? Ich spreche zwei Sprachen, Russisch und Ukrainisch, oder besser gesagt etwas dazwischen, hier reden alle in diesem Dialekt. Bevor der verrückt gewordene Herrscher des Nachbarlandes beschlossen hatte, hier seine militärisch-humanitäre Mission durchzuführen, hatte ich alles: Sommer, Meer, Urlaub, Arbeit, Träume, Haus, Essen, Schule für meine Kinder und die Sicherheit. Dann kam dein Sohn mit dem Maschinengewehr, und nun stehen wir vor den Ruinen.
Ich habe nicht darum gebeten, dass man mich beschützt oder sich überhaupt in mein Leben einmischt. Warum ist er hier?
Warte mal, weinst du? Hab ich dich verletzt? Du bist total verwirrt, weil du es nicht gewusst hast, dass er hier ist, in der ukrainischen Steppe, im Hexenkessel voll Hass und Trauer? Du willst gar nicht, dass er auf mich schießt?!
Meine Liebe, wir sind doch Frauen! Wir können uns umarmen und zusammen weinen. Wir haben etwas, das uns verbindet, etwas, was uns am wichtigsten ist – unsere Kinder.
Dein Sohn ist weitergefahren, lebendig, der grüne Flachmann mit Wasser gefüllt. Er hat sogar Zeit gehabt sich zu waschen. Der Kohlestaub lässt sich schwer loswerden, aber die Tränen von den Augen kann man abwischen. Denn sie glänzen verräterisch und hinterlassen Spuren auf den staubigen Wangen.
Und dort, wo er hingefahren ist, werden andere Frauen am Wegrand stehen, Stadtfrauen, Dorffrauen, Mütter. Und gebe Gott, dass sie ihm nur zu trinken geben, und ihm nicht die Augen schließen müssen.
Meine Liebe! Keine von uns beiden hat diesen Krieg angefangen. Keine von uns beiden will ihre Kinder verlieren, ist es nicht so?!
Ich wieß nicht, wie ich die aufhalten kann, die durch mein Land marschieren, mir Hilfe versprechen und stattdessen den Tod bringen. Ich fühle mich machtlos. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun kann. Aber vielleicht können wir zusammen etwas tun? Für unsere Kinder, deine und meine? Und auch für unsere Enkel? Komm zu uns! Warte nicht auf deinen Sohn oder die Todesbenachrichtigung. Komm. Überlass ihn nicht dem Krieg. Komm! Ich will nicht mehr wie die Rohrdommel klagen. Ich will nicht jemandem die Augen schließen, die nie mehr die Sterne am Himmel sehen werden.
Wahrscheinlich sind wir gleich alt, vielleicht bist du etwas jünger oder älter als ich. Aber es ist auch nicht wichtig. Wir sind Mütter! Das ist unsere Welt, wir haben sie mit Leben gefüllt. Wer hat das Recht es uns zu nehmen? – keiner! Komm!
Komm wie du bist, ob mit der Küchenschürze, als Lehrerin, Wissenschaftlerin, Arbeiterin, Ärztin, Hausfrau, Mutter. Wir müssen um unsere Kinder kämpfen. Die Minen sind bodenlos, die Steppen grenzenlos, das Leid macht vor niemandem Halt, und der Krieg macht uns alle gleich, mehrt nur die Trauer.
Wir haben unsere Kinder nicht für den Krieg geboren. Verstehst du das auch? Wir weinen die gleichen Tränen, bitter wie das Wermutkraut in meiner Steppe und salzig wie der Schweiß deines Jungen, der in den fremden Krieg zieht.
Komm! Komm über die Grenze, in unsere ukrainischen Städte, stell dich vor deinen Sohn und meine Kinder, wie eine Taube im Regen ihren Nest mit den Flügeln beschützt. Es gibt keine fremden Kinder, weißt du es noch? Die Kinder sind nicht für den Krieg da.
Erzähl mir nichts von Pflicht und Ehre. Pflicht ist – seine Heimat zu schützen, nicht die Heimat der anderen zerstören. Sag nichts, komm einfach!
Du möchtest nicht? Nun ja, wir sind halt verschieden. Der eine verschließt die Augen vor dem fremden Leid, der andere stürzt sich ins brennende Haus, um fremde Kinder zu retten.
Eins solltest du aber wissen: ich, eine ukrainische Frau, die Russisch spricht, Mutter ukrainischer Kinder, werde deinem russischen Sohn Wasser geben, und wenn nötig, ihn beweinen und ihm die Augen schließen. Denn es gibt keine fremden Kinder…
Quelle: Olena Stepowa in informnapalm.org; übersetzt von Olena Köpnick