
Yuri Felschtinskij, ein russisch-amerikanischer Historiker, spricht über Szenarien für die Ukraine, die im geschlossenen Moskauer Politbüro entworfen wurden.
„Putin wird der Ukraine so viel wegnehmen, wie viel man ihn lassen wird“ – findet Yuri Felschtinskij, Autor des Buches „Blowing up Russia“. Was der Kreml als nächstes tun wird, erzählte er der Zeitschrift „Neue Zeit“.
Der russisch-amerikanische Historiker Yuri Felschtinskij ist der Autor des Buches „Blowing up Russia“, das er in Zusammenarbeit mit dem Ex-KGB-Mitarbeiter Alexander Litwinenko geschrieben hat, der infolge einer Vergiftung mit Polonium in London 2006 starb. Das Buch erzählt über die Ursachen und Organisatoren einer Reihe von Sprengstoffanschlägen auf die Wohnhäuser in Russland 1999 und der Rolle des FSB bei diesen Explosionen. Nicht so lange her schrieb Felschtinskij über die Ukraine. In Kiew wurde sein Werk „Der Dritte Weltkrieg: Die Schlacht um die Ukraine“ veröffentlicht, das in Zusammenarbeit mit dem Historiker Michael Stantschew aus Kharkiw vorbereitet wurde.
Im Interview mit „Neue Zeit“ erzählte Felschtinskij darüber, wer in Moskau Entscheidungen trifft, wovor Putin Angst hat und welches Szenario sich der Kreml für die Ukraine ausdachte.
– Wie könnte das neue Szenario von Kreml bezüglich Donbass anstatt des abgeschlossenen Projekts „Neurussland“ aussehen?
– Niemand hat gesagt, dass das Projekt „Neurussland“ abgeschlossen ist. Ja, es war ursprünglich geplant, das Projekt im September 2014 abzuschließen. Aber die russischen Truppen im Osten der Ukraine sind ins Stocken geraten. Ich will nicht sagen, dass sie nur wegen des ukrainischen Widerstandes oder einfach nur wegen der Unzufriedenheit der zivilisierten Welt mit der russischen Aggression in der Ukraine ins Stocken geraten sind. Die Gründe, warum die an der russisch-ukrainischen Grenze konzentrierten russischen Truppen nicht zu einer allumfassenden Offensive übergegangen sind, sind unbekannt. Ich denke, es ist noch nicht bekannt.
Über die Pläne des Kremls spricht natürlich keiner offen. Aber von Zeit zu Zeit dringen einige Informationen durch. Vor kurzem war ich Teilnehmer eines Rundfunkprogramms bei Radio Free Europe / Radio Liberty, und mein Gesprächspartner war der Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums Dmitrij Trenin, ein Offizier des GRU, der von der russischen Militäraufklärung des Generalstabs der Russischen Föderation in die recht gute Position gesetzt wurde, die es ihm erlaubt, unter dem Deckmantel des Direktors einer russisch-amerikanischen Struktur um die Welt zu reisen.
So sagte Trenin absolut offen, Putins Aufgabe bestehe darin, die Ukrainer und NATO dazu zu zwingen, dem Verlauf der Demarkationslinie zuzustimmen, der von den „Separatisten“ bestimmt wird, und Kiew solle dann alles direkt mit „Separatisten“ aushandeln.
Dabei erinnerte Trenin daran, dass Russland Atomwaffen besitzt, und dass man nicht so tun sollte, als ob sie nie verwendet werden könnten, und dass Putins Absichten rein friedlicher Natur sind; und angeblich wäre ohne Putin ein Krieg in der gesamten Region ausgebrochen. Was genau Trenin unter „Region“ meinte, konnte ich nicht nachfragen (die Zeit der Sendung war zu Ende und man ließ mich nicht zu Wort kommen). Aber nach Trenins Auslegung, sollte man Putin für die Okkupation der Krim und der Ostukraine den Friedensnobelpreis geben.
Somit wurde das Minimalprogramm für den Donbass vom Kreml angekündigt: „Separatisten“ sollen Donbass unter Kontrolle halten, dabei will Kreml darauf bestehen, dass Kiew „Separatisten“ als eine legitime Regierung in den besetzten Gebieten anerkennt; die Lage in den Kriegsgebieten eskalieren zu lassen und immer neue Gebiete zu besetzen; die Anerkennung eines unabhängigen Sonderstatus der von Russland okkupierten Gebiete zu erzwingen.
– Ähnelt das Szenario dem von Transnistrien?
– Ja, das Mindestprogramm könnte man bedingt als die transnistrische Variante für die Ukraine nennen, mit dem einzigen Unterschied: Russland hat nicht vor, die Militäroperation im Osten der Ukraine zu stoppen. Nach Worten russischer Seite (und „Separatisten“), ist es wegen des Widerstands der ukrainischen Regierung unmöglich zu machen; laut ukrainischer Armee ist es unmöglich, da die „Separatisten“ ständig Kämpfe führen und neue Gebiete besetzen. Aber so oder so: eine Versöhnung ist nicht zu erwarten und es wird sie nicht geben.
Aus Kremls Sicht wird mit diesem ständigen Blutvergießen erreicht, dass die Reformen in der Ukraine unmöglich werden, und ohne diese kann die Ukraine der EU nicht beitreten; gleichzeitig schließen militärische Aktionen aus, dass die Ukraine der NATO beitreten kann. Innerhalb Russlands nutzt Putin den militärischen Konflikt mit der Ukraine erfolgreich, um das Land in die sowjetische Vergangenheit umzukehren. Somit hält Putin seine ukrainische Politik natürlich nicht für gescheitert.
Eigentlich bekommt er eine beispiellose Ladung der Freude davon, dass er in die Geschichte nicht als ein Präsident eingehen wird, der von den Oligarchen an die Macht gebracht wurde, sondern als ein Bösewicht, der die Macht in Russland im Auftrag des KGB-FSB ergriffen hat. Wir können das nicht begreifen, aber für Putin ist es das Wichtigste. Er ist nicht gekommen, um aus Russland die Schweiz zu machen. Er ist gekommen, damit die Welt wieder Angst vor Russland hat, wie einst vor der UdSSR. Denn für Putin ist fürchten und respektieren – ein und dasselbe, nach dem alten russischen Sprichwort: „Wer Angst hat, der respektiert“.

Innerhalb Russlands nutzt Putin den militärischen Konflikt gegen die Ukraine erfolgreich, um das Land in die sowjetische Vergangenheit umzukehren, findet Felschtinskij.
– Was ist dann das Programm-Maximum?
– Besetzung der Ukraine, Weißrusslands, baltischer Staaten – die Wiederherstellung der Sowjetunion. Haben wir Beweise, dass dieses Programm umgesetzt wird? Die Einführung der Sowjethymne als Hymne der Russischen Föderation, die Rückkehr zur sowjetischen Bezeichnung der russischen Nachrichtenagentur „TASS“ (Telegraphagentur der Sowjetunion), der Einmarsch in Georgien, die Annexion der Krim, der Einmarsch in die Ukraine.
Der Sommer hat gerade erst begonnen und es ist, wie die Geschichte zeigt, der gefährlichste Zeitraum für den Start von irgendwelchen Bodenoperationen. Von Juni bis September ist der Beginn einer umfassenden Offensive an der russisch-ukrainischer Grenze zu erwarten. Ob es wirklich dazu kommt, hängt von einer Reihe Faktoren ab, und fast alle liegen jenseits unseres Wissens, denn über das Schicksal von Russland und der Ukraine entscheiden nur wenige Personen in Moskau, und sie kommen alle aus dem KGB. Was dieses „Politbüro“ in seiner geschlossenen Sitzung entscheidet, ist unbekannt.
– Wird der Kreml versuchen, mehr Gebiete zu besetzen, um seine Verhandlungsposition zu stärken und den Abschluss vom dritten Minsker Abkommen zu erzwingen?
– Das Problem liegt darin, dass der Kreml gar kein Minsk-Abkommen braucht. Minsker Verträge sind für Putin eine militärische List zur Umgruppierung der Streitkräfte und zum Überdenken der Situation. Sie (die Verträge) sind so zusammengestellt, dass Russland zu nichts verpflichtet wird. Sämtliche Verpflichtungen übernehmen „Separatisten“, Kiew, und sogar Europa – aber nicht Russland. Die Interpretation der Verträge kann beliebig sein – von jeder der beteiligten Seite. Es ist absolut unmöglich herauszubekommen, wer gegen was verstoßen hat, die „Separatisten“ tragen keine Verantwortung, vor niemandem.
Das krasseste Beispiel – das abgeschossene malaysische Flugzeug. Nehmen wir die „einfachste“ Variante, dass es von den „Separatisten“ abgeschossen wurde. Na und? Verfügt die internationale Gemeinschaft über Werkzeuge für einen Einfluss auf diese Separatisten? Nein, es gibt kein solches Werkzeug. Morgen können diese „Separatisten“ weitere 10 Flugzeuge abschießen, und es wird sich nichts ändern: es ist unmöglich, die „Separatisten“ zur Verantwortung zu ziehen.
– Wenn dem so ist, welche Bedingungen würden Putin zufriedenstellen?
– Die Logik von Putin ist die eines Banditen und eines KGB-lers, was eigentlich ein und dasselbe ist. Ich will sagen, dass ein KGB-Offizier und ein Bandit das Gleiche sind, und ihre Logik auch absolut identisch ist. Putin führt keine Verhandlungen. Er nimmt so viel, wie fiel man ihn nehmen lässt. Würde man ihm erlauben, die ganze Welt zu nehmen – so würde er die ganze Welt nehmen. Wenn man ihn nichts nehmen lässt, dann wird er verblüfft zurücktreten.
Die US-Regierung hat sich Jahrzehnte lang nur damit beschäftigt, die Beziehungen zu den Sowjets zu verbessern – zu Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew. Ständig arbeiteten sie an einer Verbesserung der Beziehungen. Es stellte sich dann heraus, dass man sich gar nicht mit der Verbesserung der Beziehungen beschäftigen, sondern angemessen auf die Gefahr, die durch den strategischen Feind entsteht, reagieren sollte. Und sobald Reagan diese strategische Gefahr formulierte und die UdSSR als ein „Reich des Bösen“ bezeichnete, wurde deutlich, dass man sich widersetzen und gar nicht die Beziehungen verbessern soll. Die Sowjetunion konnte der Konfrontation nicht standhalten und brach zusammen.
Momentan machen wir denselben Fehler. Die US-Regierung (im weitesten Sinne des Wortes – ich meine nicht die Obama-Administration) versucht wiederholt die Beziehungen zu Putin zu verbessern, dabei verstehen sie nicht, dass Putin und Russland vor dem März 2014 und nach dem März 2014 – verschiedene Menschen und Länder sind.
Jetzt sollte man nicht die Beziehungen verbessern und daran denken, wie man am besten die Krim und die Ostukraine so aufgibt, dass Putin zufrieden ist und Osteuropa unabhängig bleibt. Nun ist es an der Zeit, sich dem alten neuauferstandenen strategischen Feind erneut zu widersetzen – der ehemaligen Sowjetunion, dem heutigen Russland, um genau auf diese Weise den Frieden zu erreichen, und zwar- Putin zu zähmen und die Integrität und Unabhängigkeit vom Osteuropa zu erreichen. Wahrscheinlich wird die Russische Föderation als Folge dieser Auseinandersetzung, wie einst die Sowjetunion, zusammenbrechen und in mehrere unabhängige Staaten zerfallen, und Russland wird am Ende einfach nur Russland sein.
– Wie schätzen Sie Russlands Chancen ein, dass die Sanktionen abgeschafft oder gemildert werden?
– Ich halte die Sanktionen für nicht ernst genug. Die letzten Ereignisse zeigen, dass Russland bereit ist, weiter eskalieren zu lassen und eigentlich gar keine Angst vor Sanktionen hat. Sanktionen sind wirkungsvoll für Länder, die in den globalen Markt eingebunden sind, da etwaige Sanktionen die Börse, die Währung, die vom Volk gewählte Regierung treffen (und als Folge tritt die Regierung in einem normalen Land ruhig zurück). In Russland ist die Regierung nicht gewählt, sie trägt keine Verantwortung vor dem Volk und hat nicht vor, zurückzutreten- und Putin ist es wirklich egal, wie tief die russische Börse und der russische Markt infolge der Sanktionen fallen. Eigentlich können wir den Fall von dem einen und von dem anderen schon länger beobachten und wir sehen, dass Putin dem keine Aufmerksamkeit schenkt wie auch seine ganze Umgebung lügt, dass der Fall der Landeswährung „vorteilhaft“ sei.
Die Sanktionen werden nicht gemildert, sie werden auch nicht abgeschafft, und, wenn wir den Sommer überstehen, wird Russland weiterhin zwischen „weder Frieden noch Krieg“ zerrissen sein, die Ukrainer werden zu Hunderten oder Tausenden weiter sterben, und über Russlands Verluste werden wir nichts erfahren, denn diese wurden mit einer speziellen Regierungsanordnung als geheim eingestuft.
Putin gehört zu der Art von Staatsmännern, die eine körperliche Befriedigung davon verspüren, dass irgendwo bei der Ausführung ihrer Befehle Menschen sterben. Dabei hat er eine so hohe Achtung vor sich selbst, dass er keinerlei Skrupel verspürt, Befehle zum Mord an anderen Menschen abzugeben. Das hat bei ihm mit dem zweiten Tschetschenien-Krieg angefangen, dann setzte es sich mit dem Georgien-Krieg 2008 fort, nun ist die Ukraine dran…
– Sollte Putin sich für eine neue Eskalation mit massiver Beteiligung der russischen Truppen in Donbass entscheiden, würde eine öffentliche Unzufriedenheit eine Bedrohung für sein Regime darstellen können?
– Putin ist ein Diktator. Sein engster Umkreis, der Russland regiert, ist eine gewöhnliche Junta. Diese Menschen haben keine Angst vor der Öffentlichkeit, denn die Öffentlichkeit besitzt keine Werkzeuge für einen Einfluss auf den Kreml. Einfach ausgedrückt haben diese Menschen Angst nur vor Gewalt. Und von der Öffentlichkeit geht diese Gefahr nicht aus. In Russland besitzt nur der FSB die Macht, er regiert auch Russland.
Das war der ursprüngliche Plan von Putin: ein System zu schaffen, bei dem in Russland niemand außer dem FSB die Macht hat: weder die Duma noch die Regierung noch die Armee (die Armee in Russland hat historisch gesehen nie Machtbefugnisse), noch die politischen Parteien, noch die reichen Geschäftsleute (ehemalige Oligarchen), weder die Öffentlichkeit, noch die Presse, noch der Oberste Gerichtshof. Die Macht in Russland besitzt nur der FSB, dessen Teil Putin und seine Junta sind. Außerhalb Russlands besitzen Europa und Amerika die Macht. Eigentlich sind nur sie eine Bedrohung für das Putin-Regime.
Quelle: Yuri Felschtinskij im Interview mit „Nowoje Wremja“; übersetzt von Andrij Topchan; redaktiert von Irina Schlegel.
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