
von Alexej Schiropajew, einem russischen Publizisten
Noch im fernen 1993 hat der amerikanische Philosoph und Politologe Samuel Huntington eine äußerst scharfsinnige Bemerkung abgegeben: „Der Konflikt zwischen liberaler Demokratie und Marxismus-Leninismus war ein Konflikt der Ideologien, die trotz ihrer Unterschiede sich zumindest äußerlich die gleichen Ziele gesetzt hatten: Freiheit, Gleichheit und Wohlstand. Aber das traditionalistische, autoritäre, nationalistische Russland wird immer nach ganz anderen Zielen streben. Der westliche Demokrat konnte durchaus einen intellektuellen Streit mit einem sowjetischen Marxisten austragen. Das ist aber mit einem russischen Traditionalisten unmöglich. Und wenn Russen, die aufgehört haben, Marxisten zu sein, die Demokratie nicht annehmen werden, und sich wie Russländer benehmen und nicht wie westliche Menschen, können die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wieder getrennt und feindlich werden“.
Die Tiefe und Genauigkeit dieser Aussage kann man erst jetzt würdigen, fast 20 Jahre nachdem sie erschien. Tatsächlich hat die marxistische sowjetische Ideologie, bei all ihrer Konfrontation mit der westlichen Welt, unsere Mentalität doch in einem gemeinsamen Koordinatensystem der Werte gehalten. In einem progressiven System der Werte, einfacher ausgedrückt. Hier ein einfaches Beispiel: Bei all ihrem Totalitarismus hat die Sowjetunion den Wert der Demokratie als solcher nie in Abrede gestellt. Überall hingen die Slogans: „Es lebe die sozialistische Demokratie!“ Ja, die Sowjetunion hat diese listige Formel – „sozialistische Demokratie“ – erfunden, um sich vom Westen zu distanzieren, nichtsdestotrotz stellte sie sich auf ein gemeinsames „Wertebrett“. Und verlor. Denn jeder mehr oder weniger denkende sowjetische Mensch hat, als er diese Slogans las, ihre Verlogenheit verstanden.
Die Sowjetunion hat uns mit einer dumpfen Sturheit gezwungen, das „Lager des Sozialismus“ mit der westlichen Welt zu vergleichen, und auf diese Weise, wiederhole ich, hat sie unweigerlich eine aussichtslose Position eingenommen. Die sowjetische Verfassung verkündete Meinungsfreiheit, Freiheit der Versammlungen und weiteres, aber selbst der durchschnittliche sowjetische Mensch war sich dessen bewusst, in welchem Teil der Erdkugel sich die wahre Demokratie befindet. Die sowjetische Ordnung verkündete Gleichheit, aber alle haben das elitäre verschlossene Leben der Nomenklatur gesehen: die Sonderrationen, die Sonderdatschas, die Wohnungen in Sonderhäusern, Sondersanatorien und Sonderkrankenhäusern, die Klanverbindungen, die Sattheit und den Luxus für die Wenigen. In Wirklichkeit herrschte eine durchaus feudale Hierarchie. Die Sowjetunion verkündete Wohlstand, aber das Volk sah die leeren Geschäftsregale und hörte den Erzählungen jener Wenigen zu, die das Glück hatten, im Westen gewesen zu sein: Sie, die in einen europäischen Supermarkt kamen, fielen in Ohnmacht wegen Gefühlsüberschwang, wie einst Wladimir Wyssozki.
Die sowjetischen Kulturträger redeten hartnäckig von der Freiheit des Schaffens, aber unsere besten Schriftsteller, Regisseure, Maler, Schauspieler und Musiker erstickten in der Atmosphäre der Kontrolle und strebten nach Westen. Denn genau dort war die wahre Freiheit für das künstlerische Schaffen.
Der sowjetische Sozialismus und der kapitalistische Westen stritten hart und kollidierten. Aber dabei, wiederhole ich, befanden sie sich auf einer wertemäßigen „Linie“ des Progressismus. Der eine wie der andere sprach von Freiheit, Gleichheit, Wohlstand, und bewies sich gegenseitig auf alle möglichen Arten die Treue und Übereinstimmung mit diesen Werten. Wie das Leben gezeigt hat, war die bürgerliche Demokratie in diesem historischen Streit überzeugender und besser gestellt, als die „sozialistische Demokratie“.
Die Sowjetunion ist gerade wegen ihrer vollständigen und allen offensichtlichen Nichtübereinstimmung mit den verkündeten Werten zerfallen. Nach August 1991 haben sich zwei Tendenzen der weiteren russischen Entwicklung abgezeichnet. Die erste – westliche. Jelzin und sein Team führten Russland in den Kreis der europäischen Länder ein – im Bestreben, dieses zu einem normalen europäischen Land zu machen.
Aber sogar damals zeichnete sich, überdies in Jelzin selbst, eine andere, reaktionäre Tendenz ab. Infolge der Abstoßung von allem Sowjetischen, Kommunistischen hat sich die Idealisierung des vorrevolutionären Russlands hervorgetan, obendrein nicht in seinem späteren, bürgerlich-kapitalistischen Aspekt, sondern in dem archaischen, feudal-monarchischen und klerikalen Aspekt.
Zum Symbol des „neuen Russlands“ wurde die Wiederherstellung des Kirchenhauses „Christus der Erlöser“ – statt der Durchsetzung der modernen europäischen Werte: Weltlichkeit, Demokratie und Recht als Basis für eine neue Identität. Die russische orthodoxe Kirche verwandelte sich rapide in eine staatliche Kirche, und die Orthodoxie in der Ausführung des Moskauer Patriarchats durchdrang buchstäblich die russische Gesellschaft. Priester sind in Schulen gekommen, in wissenschaftliche Forschungsinstitute, in die Armee. Sie weihten Büros, Banken, U-Boote und Raketen ein. Die ideologische Nische des Marxismus wurde schnell mit einer offiziösen, abgestorbenen Orthodoxie gefüllt, die Gesellschaft wurde immer klerikaler.
Mit dem Machtantritt Putins wurde diese Tendenz nur verstärkt. Das Gerichtsverfahren gegen „Pussy Riot“ hat gezeigt, dass Russland dem „neuen Mittelalter“ schon ganz nah gekommen ist. Der Kurs auf den Traditionalismus wurde zur Generallinie der Obrigkeit, die westlerische, proeuropäische Tendenzen der Jelzin-Epoche endgültig unterdrückt hat. Die Befürchtungen von S. Huttington, die er 1993 äußerte, haben sich vollständig erfüllt.
Der westliche Demokrat hat statt eines sowjetischen Marxisten einen russischen Traditionalisten als Opponenten bekommen, bewaffnet mit Atomraketen. Putin zitiert jetzt schon den Reaktionär Konstantin Leontjew, stellt Überlegungen über „traditionelle Werte“ an und beabsichtigt tatsächlich, Russland zur Hochburg dieser Werte zu machen. Den Zeitgeist durchspürend äußerte sich auch schon der Vorsitzende des Verfassungsgerichts (!) W. Sorkin über die positive, „verbindende“ Rolle des Leibeigenschaftsrechts (zu Sowjetzeiten, sogar zu Stalin-Zeiten, war so etwas undenkbar).
Wenn in den 2000-er Jahren in Russland noch von irgendwelcher Demokratie gesprochen wurde (wenn auch einer „souveränen“), so bevorzugt man nun die Demokratie gar nicht erst zu erwähnen. Der Dialog des Kremls mit dem Westen, wie Huttington voraussagte, wird langsam unmöglich. Die traditionalistische und antiwestliche Ausrichtung Russlands unter Putin nähert sich an den islamischen Osten und China an (Putin mag es übrigens, sich über die „Nähe“ der Orthodoxie zum Islam zu auszulassen).
Putins Verachtung gegenüber dem internationalen Recht entspringt unter anderem auch den traditionalistischen Tendenzen seiner Politik.
Ganz und gar nicht zufällig werden in der Reihe der Faktoren, die eine Gefahr für die westliche Zivilisation darstellen, in erster Linie der IS und Russland genannt, wobei man sie gleichstellt. Die Islamisten unterminieren die Grundlagen der westlichen Welt, indem sie auf Freiheit, Weltlichkeit und Recht Anschlag verüben.
Nicht zu übersehen ist, dass diese Werte im putinschen Russland auch missachtet werden. Putin errichtet „Das Dritte Rom“, und das bestimmt nicht nur seine innere, sondern auch seine antiwestliche Außenpolitik, die das internationale Recht torpediert. Im Grunde tritt das putinsche Russland – das „traditionalistische, autoritäre, nationalistische“, das dem Westen den Krieg erklärte – in einer Einheitsfront mit dem radikalen Islam auf, der der Welt einen neuen Totalitarismus bringt (ich erinnere daran, dass „Charlie Hebdo“ schon 2006 ein Manifest von 12 Intellektuellen veröffentlicht hatte, das den Islamismus mit dem Stalinismus verglich).
Darum entsteht eine berechtigte Frage an Außenminister S. Lawrow, der sich nebst anderen Politikern an der Pariser Demonstration der Einigkeit am 11. Januar beteiligte: Kommt es denn für einen Vertreter eines Staates gelegen, der den Terrorismus im Osten der Ukraine nährt, an einer Kundgebung gegen den Terror teilzunehmen? Ob Sie für die Freiheit des Wortes eintreten dürfen, wenn sie in Russland mit Füßen getreten wird? Haben Sie nicht zufällig die Kolonne verfehlt? Vielleicht wäre es kleidsamer für Sie, an der obskuren Mahnwache an der französischen Botschaft in Moskau neben dem „orthodoxen Aktivisten“ Dmitrij Enteo zu stehen, der die islamistischen fanatischen Mörder unterstützte?
Autor: Alexej Schiropajew; Quelle: rufabula.com; übersetzt von Irina Schlegel.
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