von Mark Galeotti, 04.05.2016
Ausgelöst durch einen aktuellen RAND Bericht, gibt es zurzeit eine große alarmistische Besorgnis bezogen auf Russlands vermeintliche Fähigkeit, die drei ehemals sowjetischen Staaten des Baltikum, Estland, Lettland und Litauen zu erobern. Da sie Teil der NATO sind, würde ein Spaltkeil in die NATO getrieben, ohne dass der Westen in der Lage wäre, etwas dagegen zu tun. Bevor wir aber in Panik geraten, wäre es nicht nur wichtig, den wirklichen Willen Moskaus zur Durchführung einer solchen Operation zu erforschen, sondern auch die zahlreichen möglichen Gegenmaßnahmen, die der Westen neben dem Einsatz militärischer Gewalt noch hat. Man kann schließlich Kriege auch gewinnen, ohne Panzer und Kampfflugzeuge einzusetzen.
Realistisch betrachtet hat Russland wahrscheinlich keinerlei vorrangige Ambitionen die baltischen Staaten zu besetzen. Selbst wenn dem aber nicht so wäre, könnten die USA und die NATO mit einer ganzen Menge von Strafmaßnahmen dagegenhalten.
Es kommt von all dem Gerede von Russlands brillantem Einsatz der „asymmetrischen“ oder „hybriden“ Kriegführung, was so viel bedeutet wie Vermeidung des Kampfes auf dem regulären Schlachtfeld und Einsatz aller Arten von hinterhältigen und unkonventionellen Vorgehensweisen. Von der Informations- und Cyber-Kriegführung bis hin zur politischen Manipulation. Tatsache aber ist, dass, wenn irgendjemand einen „asymmetrischen“ oder „hybriden“ Vorteil hat, es aktuell der Westen ist.
Der RAND-Report: Russland erobert die baltischen Staaten mit einem Überraschungsangriff gegen die NATO
Die aktuelle Debatte wurde durch einen RAND Bericht Anfang dieses Jahres ausgelöst, der auf der Grundlage einer Reihe von Kriegs-Simulationen entstand, deren Ziel es war, „die Ausgestaltung und das wahrscheinliche Ergebnis einer kurzfristigen russischen Invasion der baltischen Staaten“ zu untersuchen. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass „die NATO, so wie sie sich gegenwärtig darstellt, nicht erfolgreich das Gebiet seiner exponierten Mitglieder verteidigen kann“. Er geht davon aus, dass Russland insbesondere die baltischen Staaten in 60 Stunden erobern könnte.
Zu den Zahlen und Annahmen, die der RAND-Studie zugrunde liegen, gibt es ernstzunehmende Zweifel. Nicht zuletzt was die Unterstellung betrifft, die Russen würden so ziemlich alles richtigmachen und die NATO würde überrascht werden. Nur weil die Russen die Krim (ohne jeden Widerstand) eingenommen und die Rebellen in Syrien (die keine ernsthafte Luftabwehr haben) bombardiert haben, sind sie nicht plötzlich 10 Meter hohe Riesen. Selbst unter der Tarnung eines militärischen Manövers wäre es heute unmöglich, eine Invasion vor dem Westen zu verbergen. Das hat einmal vor zweieinhalb Jahren funktioniert. Seit der Krim sind wir auf der Hut, was solche Schweinereien betrifft.
Darüber hinaus scheitert die Studie an der Beantwortung der allerwichtigsten Frage: Dem Vorsatz. Mit anderen Worten, will Russland überhaupt und vordringlich die baltischen Staaten einnehmen?
Die baltischen Staaten würden bei Putin ganz erhebliche Kopfschmerzen verursachen
Die Antwort ist, kurz gesagt, wahrscheinlich „Nein“. Selbstverständlich ist Wladimir Putin derzeit mit einer aggressiven Kampagne beschäftigt, das internationale Ansehen Russlands zu verbessern und das Vorhaben des Westens zu unterminieren, ihn für seine Taten auf der Krim und in der Ukraine zu bestrafen. Allerdings ist er weder ein Irrer noch irgendeine Art von verzweifeltem Imperialisten, der die alte Sowjetunion wiederherstellen will.
Die Eroberung der baltischen Staaten mag möglich sein, aber es würde ihm die offene Feindschaft des Westens, die Sorge seiner anderen Nachbarn und drei Territorien voller aufgebrachter Einheimischer mit historischen Erfahrungen im Guerillakrieg gegen die Moskowiter Eroberer bringen.
Und wofür? Es gibt keine Ressourcen, die Russland unmittelbar nutzen könnte (die realen Vermögenswerte sind ihre Menschen, die kaum über ihre neuen Herrscher begeistert sein würden). Anstatt die NATO zu teilen, würde sie vermutlich wachgerüttelt und ihr Zusammenhalt verstärkt. Moskau würde gefährlich unberechenbar aussehen. Auch wäre China alarmiert, wenn es plötzlich seinen Nachbarn und Quasi-Verbündeten als jemanden erlebt, der mit einem globalen Krieg flirtet.
Der Westen hat viele Möglichkeiten, Russland zahlen zu lassen, wenn es die baltischen Staaten einnehmen würde
Selbst wenn Russland die baltischen Staaten einnehmen würde, hätte der Westen trotzdem zahlreiche Möglichkeiten, Russland zu bestrafen ohne einen vollständigen militärischen Gegenangriff zu starten.
An erster Stelle stehen die finanziellen Mittel. Wenn Russland für seinen Angriff auf Panzer setzt, könnte der Westen als Gegenmaßnahme die Banken einsetzen.
Eine Invasion der baltischen Staaten wäre Anlass für die Anwendung des Artikel V des NATO-Vertrags. Dieser bestimmt, dass ein Angriff auf ein NATO-Mitglied als ein Angriff auf alle Mitglieder anzusehen ist. Damit befänden sich alle NATO-Mitglieder im Krieg mit Russland. Die Mitgliedstaaten könnten nicht nur russisches Staatsvermögen im Zuständigkeitsbereich ihrer Justiz beschlagnahmen, sondern könnten – und sollten – die Beschlagnahmung auch ausdehnen auf russische Unternehmen und das persönliche Vermögen jener Russen, die innerhalb des Staates eine bedeutende Rolle spielen.
Oligarchen und hohe Beamte gleichermaßen haben fröhlich die Vorteile der offenen westlichen Finanzwelt und Rechtsstaatlichkeit benutzt, um ihre in der Regel bösgläubig erworbenen Gewinne vor dem Kreml beiseite zu schaffen. Das legt eine Verwundbarkeit besonderer Art offen. Es besteht die Chance, Dissens und Spaltung in eine Elite zu treiben, die mehr daran interessiert ist, ihren eigenen kleptokratischen Opportunismus zu fördern als Putins historische Vision.
Der Westen könnte nicht nur seine Märkte gegenüber Russland schließen und zudem alle Exporte dorthin verbieten. Er könnte auch seine politischen und wirtschaftlichen Muskeln spielen lassen und versuchen, Russland von seinen anderen Handelspartnern zu isolieren. Russland importiert fast 40 Prozent der Nahrung für seine Bevölkerung. Während Länder wie Iran wahrscheinlich nicht bereit sein werden, ihre Ausfuhren nach Russland zu reduzieren, könnten andere Länder ohne gemeinsame Grenzen mit Russland durchaus davon abgehalten werden, zur Befriedigung der Bedürfnisse des Landes beizutragen.
Der Westen könnte auch den Zugang Russlands zum SWIFT-System, der Society of Worldwide Interbank Financial Telecommunication unterbinden. Dies würde die Möglichkeit der russischen Banken Geld zu bewegen und wirtschaftlich tätig zu werden stark einschränken. Obwohl dies wegen der Möglichkeit der teilweisen Umgehung nicht die „allesvernichtende Option“ (nuclear option) ist, für die einige sie halten, wäre es immer noch ein schwerer Schlag gegen die russische Wirtschaft.
Eine andere Möglichkeit des Westens, Russland zu schaden, besteht in Internet-Angriffen. Wenn bisher meistens russische Cyber-Angriffe vorkamen, so liegt das mehr daran, dass Moskau seine Hacker ermutigte, Schaden im Westen anzurichten, als etwa daran, dass es mehr Kapazität hätte, solches zu tun. Der Westen könnte auf gleiche Art zurückschlagen, wenn er bereit wäre, die Samthandschuhe auszuziehen.
Putin mag bereit sein, dem einfachen russischen Bürger im Namen der Geopolitik Opfer abzuverlangen. Aber nachdem der Rubel bereits um rund 50 Prozent abgewertet hat und mehr als die Hälfte aller Einnahmen der russischen Privathaushalte derzeit für Lebensmittel ausgegeben werden, muss man sich fragen wie lange sie noch bereit sind, das alles mitzumachen?
Das alte Klischee des fatalistischen russischen Bauern, der bereit ist, jede Art von Not für das Vaterland zu ertragen, ist längst verblasst. Die Popularität Putins im eigenen Land hängt von einfachen Siegen ab, wie auf der Krim oder in Syrien. Wie wird sich das Geschehen ändern, wenn zum Beispiel durch Cyber-Attacken die Handy-Netze, auf die die Russen angewiesen sind, zum Absturz gebracht werden? Wie wird das Land reagieren, wenn die Software der Eisenbahnen und Flughäfen gestört wird? Wie werden die Russen kaufen, verkaufen und arbeiten, wenn die Banksysteme angegriffen und die Geldautomaten abgeschaltet werden?
Es gibt auch weiche militärische Optionen, mit denen der Westen seine Stärken ausspielen und einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf Russland ausüben könnte. Die NATO ist besorgt über die Bedrohung durch „A2/AD“ (Anti-Access/Area-Denial), nachdem russische Raketen und U-Boote NATO-Flugzeuge in Mitteleuropa und NATO-Schiffe in der Ostsee behindern.
Umgekehrt kann die NATO die Dardanellen für jeden militärischen oder zivilen Schiffsverkehr Russlands schließen und es so aus dem Mittelmeer fernhalten. Zudem kann sie Russland auch die Ostsee versperren und vielleicht auch die Barentssee und das Ochotskische Meer im Norden und Osten. Darüber hinaus kontrolliert der Westen die globalen Seewege und könnte Moskaus Schiffe und ihre Ladungen beschlagnahmen, um Russlands Handel mit Drittstaaten zu unterbinden.
Natürlich gibt es Grenzen für solche indirekten Wege der Kriegführung. China wird dies kaum gutheißen, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass es mit einem Kreml gemeinsame Sache machen wird, der bereit ist, einen solch gefährlichen Pyrrhus-Krieg anzufangen. Auch wird nichts davon leicht oder billig zu machen sein.
Aber das ist Krieg und wenn der Westen das Leben seiner Soldaten schonen will, muss er Geld in die Hand nehmen.
Um Russland wirklich abzuschrecken, muss der Westen aufhören, liebenswert zu sein
Der Westen kann das trotz allem und Moskau weiß das. Während wir uns Sorgen machen über die Fähigkeiten Moskaus bezüglich einer sogenannten „hybriden Kriegsführung „, liegt die Wahrheit im Gegenteil. Diese Art der Kriegsführung ist nämlich tatsächlich eine westliche Stärke. Moskau hofft immer noch, dass wir das nicht bemerken.
Russland hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, sich gewichtiger darzustellen als es der Realität entspricht. Insbesondere weil es in der Lage war anzunehmen, dass der Westen sich bescheiden und gut erzogen benehmen wird. Es hat einen estnischen Sicherheitsbeauftragten über die Grenze entführt, Menschen, die ein Zivilflugzeug abgeschossen haben, Unterschlupf gewährt, US-Kriegsschiffe provoziert und in ein Nachbarland eingefallen.
Der Tag an dem der Westen entscheidet, genauso rücksichtslos zu sein wie Russland, wird ein sehr schwarzer Tag für den Kreml sein. Allerdings ist es nicht nur wichtig, dass der Westen beginnt, dies zu begreifen – denn, wenn wir uns selbst für machtlos halten, werden wir für Putins Gedanken- und Machtspiele verwundbar – sondern auch, dass wir das alles so umsetzen, dass der Kreml es als eine reale Bedrohung einschätzt.
So wie Moskau im Rahmen eines Manövers einen Angriff auf ein westliches Land simulieren oder über nukleare Angriffe sprechen kann um uns in Rage zu bringen, können wir ein Gleiches tun. Manövermäßig das Mittelmeer schließen oder eine offene Diskussion führen wie ein Wirtschaftskrieg einen ungenannten aber offensichtlichen Feind lähmen könnte, würde wütende Verurteilungen aus Moskau auslösen. Die Heftigkeit der Reaktionen würde zeigen, wie ernst der Kreml ein solches Risiko nimmt.
Tatsache ist, dass die russischen Sicherheits-Diskussionen geprägt sind von einem Bewusstsein für die Schwachstellen des Landes gegenüber einem stärkeren, reicheren, größeren und weiter fortgeschrittenen Westen. Bisher allerdings haben wir es nicht zugelassen, unsere eigenen Stärken anzuerkennen.
Nach allem ist das größte Risiko für den Westen nicht seine Schwäche der Mittel, sondern die Wahrnehmung seiner Willensschwäche. Sowohl zu Hause als auch in Moskau. Nach allem funktioniert Abschreckung nur dann, wenn sie angekündigt wird. Wenn die andere Seite erkennt, welches Elend und welchen Ruin sie riskiert.
- Lesen Sie zum Thema: „Mark Galeotti: Die „Gerassimow-Doktrin“ und Russlands nicht-linearer Krieg“
Mark Galeotti ist Professor für “Globale Politik” an der New York University, Gastreferent beim European Council on Foreign Relations und Direktor von Mayak Intelligence. Er bloggt bei „In Moscow’s Shadows” und ist bei Twitter unter @MarkGaleotti zu finden.
Mark Galeotti in vox.com; übersetzt von Kurt Becker
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