Der Autor, Dr. Mark Galeotti erforscht russischen Geschichte und Sicherheitsfragen seit den späten 1980er Jahren. Seine Ausbildung absolvierte er an der Universität Cambridge und der LSE. Heute ist er Professor für Global Affairs am „Center for Global Affairs“ der „School of Professional Studies“ an der New York University und ein assoziiertes Mitglied der NYU für Geschichte, Russisch und Slawistik. Bis 2008 war er Leiter der „History in the UK“ sowie Leiter der Abteilung für die Erforschung der „Organisierten Kriminalität in Russland und Eurasien“ an der Keele Universität.
Wie auch immer Sie es nennen, ob „nicht-linearer Krieg“ (was ich bevorzuge), „hybrider Krieg“ oder „spezieller Krieg“, die russischen Operationen, zunächst auf der Krim und im Osten der Ukraine, haben gezeigt, dass Moskau sich in Zukunft verstärkt auf neue Formen der Politik konzentriert. In vielerlei Hinsicht ist dies eine Erweiterung dessen, was ich an anderer Stelle als Russlands „Guerilla- Geopolitik“ bezeichnet habe. Sie geht von der Anerkennung der Tatsache aus, dass neue Taktiken benötigt werden, die sich auf die Schwächen des Gegners konzentrieren und direkte und offene Konfrontationen vermeiden. Um in einer Welt bestehen zu können, deren internationale Ordnung vom Kreml zunehmend als lästig empfunden wird und in Anbetracht der Mächte und Allianzen mit größerer rein militärischer, politischer und wirtschaftlicher Stärke. Um ehrlich zu sein, sind dies Taktiken, gegen welche die NATO – noch immer in letzter Konsequenz eine Allianz zur Bekämpfung und Abschreckung einer mit massenhaftem Panzereinsatz geführten sowjetischen Invasion – weder Wissen noch Erfahrung hat, damit umzugehen. (In der Tat könnte man den Standpunkt vertreten, dass das gar nicht Aufgabe der NATO ist, was allerdings auf einem anderen Blatt steht.)
Wie so oft weist uns die späte Einsicht eines raffiniert-scharfzüngigen Besserwissers dringend darauf hin, dass wir das hätten erwarten können wegen eines zu seiner Zeit unbemerkten Artikels des russischen Chefs des Generalstabs Valery Gerassimow (Anm.d.Red. Hier der Link zu diesem Artikel, aber wir lassen ihn inaktiv: http://vpk-news.ru/sites/default/files/pdf/VPK_08_476.pdf). Der Fairness halber sei angemerkt, dass er in der Zeitschrift „Wojenno-promyshlenny kurier“, also dem Kriegsindustrie-Kurier erschien, den zu lesen nur wenige Menschen in der Welt das Vergnügen haben. Nichtsdestotrotz, stellt er die beste und am höchsten autorisierte Aussage dessen dar, was wir, zumindest als Arbeitsbegriff, die „Gerassimow Doktrin“ nennen (was nicht heißen soll, dass es notwendigerweise seine Erfindung war). Ich und jeder andere an diesen Entwicklungen Interessierte verdanken es Rob Coalson von RFE/RL, der diesen Artikel bemerkte und in Umlauf gebracht hat. Die folgende Übersetzung stammt von ihm (Dank an Rob für seine Erlaubnis, es zu benutzen) versehen mit meinen verschiedenen Kommentaren und Interpretationen.
Military-Industrial Kurier, 27. Februar 2013
(Die Kommentare des Autors sind eingerückt. Die Hervorhebung durch Fettschrift im Gerassimov-Text stammt ebenfalls vom Autor)
Die Bedeutung der Wissenschaft für die Vorhersage
General Valery Gerasimov, Chef des Generalstabs der Russischen Föderation
Im 21. Jahrhundert gibt es eine Tendenz dahingehend, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen. Kriege werden nicht mehr erklärt und nachdem sie begonnen wurden entwickeln sie sich nach nicht vertrauten Schemata weiter. Die Erfahrungen mit militärischen Auseinandersetzungen – auch mit den sogenannten farbigen Revolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten – bestätigen, dass ein perfekt blühender Staat, in wenigen Monaten und sogar Tagen in eine Arena heftiger bewaffneter Konflikte verwandelt, ein Opfer ausländischer Intervention werden und versinken kann in einem Netz von Chaos, humanitärer Katastrophen und Bürgerkrieg.
Galeotti: Aus der alten Sowjet-Ära stammt ein rhetorisches Mittel, mit dem eine „Warnung “ oder eine „Lektion“ aus einer anderen Situation verwendet wird, um eine Absicht oder einen Plan zu skizzieren. Was angeblich als eine nachträgliche Ereignis-Analyse des Arabischen Frühling erscheinen soll, stimmt sehr eng mit dem überein, was in der Ukraine geschehen ist. Die – fälschliche – Darstellung des Arabischen Frühlings als das Ergebnis verdeckter westlicher Operationen gibt Gerassimow die Freiheit, das auszusprechen, was er denkt: Wie kann Russland Staaten untergraben und zerstören ohne direkte, offene und groß angelegte militärische Intervention.
Die Lehren aus dem ‚Arabischen Frühling‘
Natürlich wäre es am einfachsten zu sagen, dass die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ kein Krieg sind und deshalb nicht als Lehren für uns Militärs taugen. Aber vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Dass nämlich gerade diese Ereignisse typisch sind für die Kriegführung im 21. Jahrhundert. In Bezug auf das Ausmaß der Verluste und der Zerstörung, die katastrophalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen sind solche neuartigen Konflikte durchaus vergleichbar mit den Folgen eines richtigen Krieges.
Die grundsätzlichen „Regeln des Krieges“ haben sich geändert. Die Bedeutung der Rolle nicht-militärischer Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele hat zugenommen und in vielen Fällen haben sie die Wirkung der Durchschlagskraft der Waffen überschritten.
Galeotti: Für mich ist dies wahrscheinlich die wichtigste Aussage in dem ganzen Aufsatz. Gestatten Sie mir deshalb, sie zu wiederholen: Die Bedeutung der Rolle nicht-militärischer Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele hat zugenommen und in vielen Fällen haben sie die Wirkung der Durchschlagskraft der Waffen überschritten. Mit anderen Worten, dies ist eine ausdrückliche Anerkennung nicht nur, dass alle Konflikte – bei Irrelevanz der derzeitig verwendeten militärischen Kräfte – eigentlich Mittel sind, politische Ziele zu erreichen , sondern auch, dass in Anbetracht dieser modernen Gegebenheiten, Russland sich zunehmend auf nicht-militärische Instrumente konzentrieren muss.
Der Schwerpunkt der angewandten Methoden in einem Konflikt hat sich verlagert in Richtung einer breiten Anwendung politischer, wirtschaftlicher, informeller, humanitärer und anderer nichtmilitärischer Maßnahmen – abgestimmt auf das Protestpotential in der Bevölkerung.
All dies wird unterstützt mit militärischen Mitteln verdeckter Art, einschließlich der Durchführung von Maßnahmen des Cyber-Krieges und der Aktionen von Sondereinsatzkräften. Auf den offenen Einsatz von militärischen Kräften – oft getarnt als Friedenssicherung und Krisenregulierung – wird nur in einem bestimmten Stadium zurückgegriffen. In erster Linie für die Erreichung des endgültigen Erfolgs in einem Konflikt.
Galeotti: Dies ist, nach allem was wir wissen, genau das, was auf der Krim geschah, als die „kleinen grünen Männchen “ ohne Hoheitszeichen durch die unmaskierten und – Überraschung, Überraschung – ordnungsgemäß uniformierten russischen Spezialkräfte und Marineinfanteristen ersetzt wurden. Nachdem die Annexion tatsächlich vollzogen war.
Daraus ergeben sich logische Fragen: Was ist moderner Krieg? Auf was sollte die Armee vorbereitet werden? Wie sollte sie bewaffnet sein? Erst nach Beantwortung dieser Fragen können wir Gestaltung und Entwicklung der Streitkräfte langfristig festlegen. Um dies tun zu können ist es wichtig, eine klare Vorstellung von den Formen und Verfahren der Verwendung militärischer Mittel zu haben.
Galeotti: Was Gerasimov hier als einen möglicherweise wichtigen Punkt signalisiert ist, dass das russische Militär entsprechend nachgerüstet werden muss. Dies kann den Wiederbeginn der traditionellen Feindseligkeiten mit der politisch mächtigen Verteidigungsindustrie (die mehr Panzer und all die anderen Dinge, die sie erzeugen, ausstoßen wollen) bis hin zu der Art von Ausrüstung bedeuten, die das Militär bekommt. Als der ehemalige Verteidigungsminister Serdjukow ein Moratorium für den Kauf neuer Panzer angekündigte, stampfte ihn Putin in Grund und Boden und bekräftigt den Auftrag. Schoigu und Gerassimow sollten sich etwas schlauer anstellen, wenn sie Fortschritte mit dem da machen wollen.
Zurzeit werden die neuartigen Geräte zusammen mit den traditionellen Geräten entwickelt. Verstärkt wurde die Rolle von mobilen militärischen Gruppen mit gemischten Waffengattungen, die in einem einzigen Aufklärungs- und Informationsraum operieren können, weil sie von den neuen Möglichkeiten der Kommando und Kontrollsysteme Gebrauch machen. Militärische Operationen werden immer dynamischer, aktiver und wirkungsvoller. Taktische und operative Pausen, die der Feind ausnutzen könnte, verschwinden. Neue Informationstechnologien ermöglichen erhebliche Verkleinerungen der räumlichen, zeitlichen und informellen Lücken zwischen den operativen Einheiten und der Kommandostruktur. Das frontale Aufeinandertreffen großer militärischer Formationen auf strategischer und operativer Ebene gehört mehr und mehr der Vergangenheit an. Kontaktfreie Operationen über große Entfernungen gegen den Feind werden zum wichtigsten Mittel zur Erreichung von Kampf- und operativen Zielen.
Das Niederkämpfen der Ziele des Feindes wird über die gesamte Tiefe seines Territoriums durchgeführt. Es gibt keine Unterschiede mehr zwischen strategischer, operativer und taktischer Ebene einerseits, sowie zwischen offensiven und defensiven Operationen andererseits. Hochpräzise Waffen werden in Massen eingesetzt. Waffen auf der Grundlage neuer physikalischer Gesetze und automatisierte Systeme werden aktiv in die militärischen Aktivitäten einbezogen.
Galeotti: Alles richtig und werthaltig, aber nichts was wir nicht schon früher gehört haben.
Die Ausführung asymmetrischer Operationen haben weit verbreitete Anwendung gefunden, mit der Folge, dass die Vorteile eines Feindes in bewaffneten Konflikten zunichte gemacht wurden. Zu solchen Maßnahmen gehören die Verwendung von Spezialeinsatzkräften und die innere Opposition, um sowohl eine ständig aktive Front quer über das ganze Territorium des feindlichen Staates zu schaffen, als auch informelle Aktionen, Geräte und Mittel ständig zu perfektionieren.
Galeotti: Hier wird eine etwas andere Nuance sichtbar. Mit der neuerlichen Betonung einer „inneren Opposition“ wird eher auf die Drehbücher aus der Sowjet-Ära zurückgegriffen, denn auf die postsowjetische Militärdoktrin, die weitestgehend von solcher Sprache bereinigt wurde mit Ausnahme spezieller Themen wie die Aufstandsbekämpfung.
Diese laufenden Veränderungen finden sich in den Lehrmeinungen der weltweit führenden Staaten wieder und werden in militärischen Konflikten eingesetzt.
Bereits im Jahr 1991, während der Operation „Desert-Storm“ im Irak hat das US-Militär das Konzept „globale Verbreitung, globale Macht “ und „Luft-Boden-Operationen“ realisiert. Im Jahr 2003, während der Operation „Iraqi-Freedom“, wurden militärische Operationen im Einklang mit der sogenannten „Einzel-Perspektive 2020“ durchgeführt.
Inzwischen wurden die Konzepte „globaler Angriff“ und „globale Raketenabwehr “ ausgearbeitet. Sie sehen die Vernichtung feindlicher Objekte und militärischer Einheiten innerhalb von Stunden von fast jedem Punkt der Erde aus vor. Gleichzeitig sichern sie die Verhinderung inakzeptabler Schäden durch einen feindlichen Gegenschlag ab. Die Vereinigten Staaten führten auch die Prinzipien der global integrierten Operationen ein, die darauf abzielen, in einer sehr kurzen Zeit hochmobile militärische Einheiten bestehend aus verschiedenen Waffengattungen aufzustellen.
In den jüngsten Konflikten tauchten neue Mittel zur Durchführung von militärischen Operationen auf, die nicht als rein militärisch bezeichnet werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Operation in Libyen, wo eine Flugverbotszone geschaffen, eine Seeblockade verhängt und private Militärunternehmen in großem Stil zusammen mit den bewaffneten Formationen der Opposition eingesetzt wurden.
Galeotti: Ja, alles das wurde in Libyen angewendet. Ob das aber etwas Neues ist bleibt fraglich. Der entscheidende Punkt für Gerassimow, glaube ich, ist, dass Maßnahmen wie die Flugverbotszone, die als in den Bereich humanitärer Interventionen gehörend präsentiert wurde (und traditionell auch präsentiert wird), tatsächlich aber benutzt wurde um eine Seite des Konflikts, die Rebellen, zu unterstützen. In Kombination mit dem Einsatz von Söldnern zu ihrer Unterstützung wird aus Libyen eine passende Synekdoche (Umschreibung) für die Arten von Operationen, die die Russen wirklich interessieren. Bei denen nämlich die Maske der humanitären Intervention und Friedenssicherung aggressive Handlungen tarnen kann.
In dem Moment, in dem wir den Wesensgehalt traditioneller, von regulären Streitkräften durchgeführten Militäraktionen verstanden haben, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir nur ein oberflächliches Verständnis der asymmetrischen Formen und Mittel erworben haben. In diesem Zusammenhang gewinnt die Militärwissenschaft an Bedeutung. Sie muss eine umfassende Theorie solcher Maßnahmen erstellen. Die Forschungsarbeit der Akademie der Militärwissenschaften kann uns dabei helfen.
Die Aufgaben der Militärwissenschaft
Galeotti: Im Großen und Ganzen werde ich diesen Abschnitt weniger kommentieren. Weil er nicht wirklich klar mit dem ersten Teil zusammenhängt. Doch zusammengenommen ist erwähnenswert, dass hier ein ziemlich vernichtendes Bild des modernen russischen militärischen Denkens vorgestellt wird. Ich kann mir nicht helfen, aber ich frage mich, ob Generaloberst Sergej Makarow, erst seit letztem Jahr Leiter der Generalstabsakademie, sich nicht Sorgen machen muss um seine Zukunftsaussichten.
Wenn wir über die Formen und Mittel militärischer Konflikte diskutieren, dürfen wir unsere eigenen Erfahrungen nicht vergessen. Ich denke dabei an den Einsatz von Partisaneneinheiten während des Großen Vaterländischen Krieges und die Bekämpfung der irregulären Formationen in Afghanistan und im Nordkaukasus.
Galeotti: Interessante Beispiele insoweit, weil andere, ebenso oder noch mehr geeignete Beispiele weglassen werden. Das sind die sowjetischen Erfahrungen im Kampf gegen die Basmatschi Rebellen in den 1920er Jahren in Zentralasien und die Unterstützung der antikolonialen Aufstände in Afrika, Asien und Lateinamerika während des Kalten Krieges. Im letzten Fall beispielsweise, neigten die Sowjets dazu, militärische Unterstützung, eine Handvoll Spezialisten und Trainer, die Beteiligung Dritter und umfangreiche Propaganda, Einfluss- und Subversions-Operationen einzusetzen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Idealerweise mit so wenig direkten Konflikt wie möglich und ohne dass Moskaus Einfluss allzu offensichtlich wurde. Klingt irgendwie vertraut, oder?
Ich möchte betonen, dass im Afghanistan-Krieg spezielle Formen und Mittel zur Durchführung von militärischen Operationen ausgearbeitet wurden. Im Kern ging es dabei um Geschwindigkeit, schnelle Bewegungen, die intelligente Nutzung taktischer Fallschirmjäger und das Einkreisen gegnerischer Kräfte. Alle zusammen ermöglichten das Durchkreuzen der gegnerischen Pläne und brachten ihm erhebliche Verluste bei.
Ein weiterer Faktor, der die Grundlagen der modernen Mittel bewaffneter Konflikte bestimmt, ist die Verwendung der modernen automatisierten Strukturen militärischer Ausrüstung und Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Während wir heute fliegende Drohnen haben, werden die Schlachtfelder von morgen mit gehenden, kriechenden, springenden und fliegenden Robotern überfüllt sein. In naher Zukunft wird es möglich sein, dass eine voll automatisierte Robotereinheit hergestellt wird, die in der Lage ist, militärische Operationen auf sich allein gestellt durchzuführen.
Wie sollen wir unter solchen Bedingungen kämpfen? Welche Formen und Mittel sollten gegen einen feindlichen Roboter eingesetzt werden? Welche Art von Roboter brauchen wir, und wie können sie entwickelt werden? Bereits heute müssen unsere militärischen Vordenker über diese Fragen nachdenken.
Die wichtigste Gruppe von Problemen, die unsere intensive Aufmerksamkeit erfordert, ist verbunden mit der Perfektionierung der Formen und Mittel des Einsatzes von militärischen Einheiten in Gruppen. Dazu ist es notwendig, den Inhalt der strategischen Aktivitäten der Streitkräfte der Russischen Föderation zu überdenken. Bereits heute stellen sich Fragen: Ist eine solche Anzahl von strategischen Operationen erforderlich? Welche und wie viele von ihnen werden wir in der Zukunft benötigen? Bisher gibt es dazu keine Antworten.
Es gibt auch andere Probleme, die uns bei unserer täglichen Arbeit begegnen.
Wir sind derzeit in der letzten Phase der Bildung eines Systems zur Luftraumverteidigung (VKO). Aus diesem Grund ist die Frage nach der Entwicklung von Formen und Mitteln der Operationen von VKO-Einheiten und Instrumenten aktuell geworden. Der Generalstab arbeitet bereits daran. Ich schlage vor, dass auch die Akademie der Militärwissenschaften aktiv daran teilnimmt.
Der Informationsraum der asymmetrischen Möglichkeiten zur Reduzierung des feindlichen Kampfpotentials öffnet sich weit. In Nordafrika wurden wir Zeugen der Anwendung von Technologien zur Beeinflussung durch Informationsnetze sowohl staatlicher Strukturen als auch der Bevölkerung. Es ist notwendig, die Aktivitäten im Informationsraum zu perfektionieren, einschließlich der Verteidigung unserer eigenen Objekte.
Die Operation, mit der Georgien zum Frieden gezwungen wurde, machte den Mangel des Fehlens einheitlicher Ansätze zum Einsatz von Formationen der Streitkräfte außerhalb der Russischen Föderation. Der Angriff im September 2012 auf das US-Konsulat in der libyschen Stadt Bengasi, die Aktivierung der Piraterie, die jüngste Geiselnahme in Algerien alle bestätigen die Bedeutung der Schaffung eines Systems der bewaffneten Verteidigung der Interessen des Staates außerhalb der Grenzen des Territoriums.
Obwohl die Ergänzungen des Bundesgesetzes „Über die Verteidigung“ im Jahr 2009 verabschiedet wurden, die den operativen Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation außerhalb seiner Grenzen erlauben, werden die Formen und Mittel ihrer Tätigkeit nicht definiert. Darüber hinaus wurden Fragen der Erleichterung ihres operativen Einsatzes nicht auf der Ministerialebene verhandelt. Dazu gehören die Vereinfachung der Verfahren für die Überquerung der Staatsgrenzen, die Nutzung des Luftraums und der Hoheitsgewässer der ausländischen Staaten, die Verfahren für die Interaktion mit den Behörden des Bestimmungsstaates, und so weiter.
Es ist erforderlich ein gemeinsames Team der Forschungseinrichtungen und der relevanten, für solche Angelegenheiten zuständigen, Ministerien und Behörden einzuberufen.
Eine der Formen der Anwendung militärischer Gewalt außerhalb des Landes ist die Friedenssicherung. Neben den traditionellen Aufgaben können zu ihrer Zuständigkeit auch spezifischere Aufgaben gehören wie spezialisierte, humanitäre, Rettung, Evakuierung, Sanitätswesen und andere Aufgaben. Derzeit sind weder Einstufung, noch Wesen oder Inhalt definiert.
Außerdem setzen die komplexen und vielfältigen Aufgaben der Friedenssicherung, die möglicherweise reguläre Truppen wahrnehmen müssen, die Schaffung eines grundlegend neuen Systems zu deren Bereitstellung voraus. Immerhin ist es Aufgabe einer Friedenstruppe die Konfliktparteien zu trennen, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu retten, bei der Verringerung potenzieller Gewalt zusammenzuarbeiten und Frieden wieder herzustellen. All dies verlangt eine akademische Vorbereitung.
Kontrolle des Territoriums
In modernen Konflikten wird es immer wichtiger, in der Lage zu sein, die Bevölkerung eines Staates mit seinen Objekten und Kommunikationseinrichtungen vor den Operationen von Spezialeinsatzkräften insbesondere im Hinblick auf ihre zunehmende Verwendung zu verteidigen. Eine Lösung dieses Problems erfordert die Organisation und Einführung einer Territorialverteidigung.
Vor 2008, als die Armee in Kriegszeiten mehr als 4,5 Millionen Menschen zählte, wurden diese Aufgaben ausschließlich von den Streitkräften wahrgenommen. Aber die Bedingungen haben sich geändert. Heute kann die Abwehr von Ablenkungs-, Aufklärungs- und terroristischen Kräften nur durch die komplexe Einbindung aller Sicherheits- und Strafverfolgungskräfte des Landes organisiert werden.
Der Generalstab hat mit dieser Arbeit begonnen. Sie basiert auf der Definition der Lösungsvorschläge für die Organisation der Landesverteidigung, die in den Änderungen des Bundesgesetzes „Für die Verteidigung “ niedergelegt wurden. Seit der Verabschiedung dieses Gesetzes ist es erforderlich, das System der Führung der Territorialverteidigung zu definieren und rechtlich sowohl die Rolle als auch die Einordnung anderer Einheiten darin, militärischer Formationen und der Organe der anderen staatlichen Strukturen zu erzwingen.
Wir brauchen fundierte Empfehlungen über die Verwendung der ressortübergreifende Kräfte und Mittel für den Aufbau der Territorialverteidigung, über die Methoden zur Bekämpfung der terroristischen und Ablenkungskräfte des Feindes unter modernen Bedingungen.
Galeotti: Auch hier wird „Verteidigung“ als äsopischer (witziger) Begriff verwendet, um das Gegenteil, also „Angriff“ auszusprechen. Ich bestreite nicht, dass es einen echten Bedarf für diese Art der Koordination gibt und es kann dem Selbstvertrauen eines vor kurzem wieder ermächtigten Generalstabs bei dem Versuch zuzuschreiben sein, nach Jahren der Dominanz der Sicherheitsbehörden eine Art oberste Autorität über die nationale Verteidigung zurück erlangt zu haben. Aber in erster Linie lese ich hier eine Anerkennung der Bedeutung einer engen Abstimmung von Militär-, Geheimdienst- und Informations-Operationen in dieser neuen Art von Krieg. Wenn wir die Ukraine als ein Beispiel nehmen, hat die GRU (militärischer Geheimdienst) unterstützt von regulären militärischen Einheiten, die Krim übernommen. Im Osten der Ukraine hat der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) den ukrainischen Sicherheitsapparat gründlich durchdrungen, hat Überläufer ermutigt und die Pläne Kiews abgehört. Das Innenministerium (MVD) benutzte Kontakte zu ukrainischen Kollegen, um potentiellen Agenten und Quellen zu identifizieren. Das Militär wurde eingesetzt, um an der Grenze laut mit dem Säbel zu rasseln- und wird jetzt noch aggressiver eingesetzt. Derweil organisierte die GRU nicht nur den Strom von Freiwilligen und Material in den Osten, sondern stellte auch die wohl härteste Einheit im Donbas, das Wostok-Bataillion auf. Inzwischen haben russische Medien und diplomatische Quellen eine Dauerkampagne gestartet, um die ‚Banderite‘-Regierung in Kiew als illegitim und brutal zu verunglimpfen. Sogar der Cyberspace war betroffen, als „patriotische Hacker“ ukrainische Banken und Websites der Regierung angriffen. Der Kern dieses nicht-linearen Krieg ist, wie Gerassimow es ausdrückt, dass der Krieg überall ist.
Die Erfahrungen bei der Durchführung von militärischen Operationen in Afghanistan und im Irak hat die Notwendigkeit offengelegt, zusammen mit den Forschungseinrichtungen anderer Ministerien und Behörden der Russischen Föderation sowohl die Rolle und das Ausmaß der Beteiligung der Streitkräfte in Post-Konflikt-Regulierungen, als auch die Rangfolge von Aufgaben, die Methoden zur Aktivierung von Kräften und die Festlegung der Grenzen der Anwendung von Waffengewalt auszuarbeiten..
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Man kann Ideen nicht auf Befehl abrufen
Der heutige Zustand der russischen Militärwissenschaft kann nicht mit dem Aufblühen des militärisch-theoretischen Denkens in unserem Land am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verglichen werden.
Natürlich gibt es dafür objektive und subjektive Gründe und es ist unmöglich, irgendjemandem allein die Schuld dafür zu geben. Ich bin allerdings nicht derjenige, der behauptet hat, es sei möglich, Ideen auf Kommando abzurufen.
Ich stimme dem zu, muss aber auch etwas anderes anerkennen: Damals gab es keine Menschen mit höheren Bildungsgraden und es gab keine wissenschaftlichen Schulen oder Abteilungen. Es gab außergewöhnliche Persönlichkeiten mit brillanten Ideen. Ich würde sie als Fanatiker im besten Sinne des Wortes bezeichnen. Vielleicht haben wir heute einfach nicht genug Leute von diesem Schlag.
Galeotti: Ouch, wen watscht er denn hier ab?
Menschen wie zum Beispiel Georgy Isserson, der trotz seiner Ansichten aus den Vorkriegsjahren das Buch „Neue Formen des Kampfes“ veröffentlicht hat. Der sowjetischen Militärtheoretiker sagte voraus: „Krieg im Allgemeinen wird nicht erklärt. Es beginnt einfach mit bereits entwickelten Streitkräften. Mobilisierung und Konzentration findet nicht in der Zeit nach dem Ausbruch der Kriegszustand statt wie es im Jahr 1914 geschah, sondern vielmehr unbemerkt und schon lange vorher.“ Das Schicksal dieses „Propheten des Vaterlandes“ verlief tragisch. Unser Land bezahlte mit großen Mengen Blutes dafür, nicht auf die Schlussfolgerungen dieses Professors der Generalstabsakademie gehört zu haben.
Was können wir daraus schließen? Eine verächtliche Haltung gegenüber neuen Ideen, ungewöhnlichen Lösungsansätzen und anderen Sichtweisen ist in der Militärwissenschaft inakzeptabel. Und es ist noch weniger akzeptabel, wenn Praktiker diese Einstellung zur Wissenschaft haben.
Abschließend erlaube ich mir darauf hinzuweisen, dass egal, wie stark der Feind ist, egal wie gut entwickelt seine Kräfte und Mittel für den bewaffneten Konflikt sind, es können immer Formen und Methoden zu ihrer Überwindung gefunden werden. Er wird immer Schwachstellen haben und das bedeutet, dass es angemessene Mittel gibt sich ihm entgegenzustellen.
Galeotti: Dies ist eine eindeutige, wenn auch notwendigerweise verschleierte Anspielung auf die relative Schwäche Russlands im Vergleich mit dem Westen heute und wahrscheinlich mit China morgen. Die Antwort lautet nicht, dass man Konflikte vermeiden soll, sondern es ist sicherzustellen, dass der Konflikt die eigenen Bedürfnisse am Besten erfüllt.
Wir dürfen nicht ausländische Erfahrungen kopieren und führenden Ländern hinterher jagen. Wir müssen sie überholen und selbst führende Positionen einnehmen. Genau hier spielt die Militärwissenschaft eine entscheidende Rolle.
Der hervorragende sowjetische Militärwissenschaftler Aleksandr Svechin schrieb: „Es ist außerordentlich schwierig, die Bedingungen eines Krieges vorherzusagen. Für jeden Krieg ist es notwendig, eine besondere Linie für seine strategische Führung herauszufinden. Jeder Krieg ist ein einzigartiger Fall. Er erfordert die Erarbeitung einer besonderen Logik und nicht die Anwendung vorhandener Vorlagen.“
Dieser Ansatz gilt weiter als richtig. Jeder Krieg stellt sich als ein einzigartiger Fall dar, der das Verständnis seiner besonderen Logik und seiner Einzigartigkeit erfordert. Das kommt daher, weil der Charakter eines Krieges, in den Russland oder seine Verbündeten hineingezogen werden sehr schwer vorherzusagen ist. Nichtsdestotrotz müssen wir genau das tun. Alle Aussagen der Militärwissenschaft sind wertlos, wenn die militärische Theorie nicht durch die Funktion der Vorhersage abgesichert wird.
[…]
Autor: Dr. Mark Galeotti in inmoscowsshadows.wordpress.com; übersetzt von Kurt Becker.
5 Responses to “Mark Galeotti: Die „Gerassimow-Doktrin“ und Russlands nicht-linearer Krieg”
11/05/2016
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26/12/2016
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24/05/2017
Meinungsfreiheit vs. Informationskrieg: Zu ukrainischen Sanktionen gegen russische Internetdienste. - InformNapalm.org (Deutsch)[…] wissen über die berüchtigte russische „Gerasimow-Doktrin“, in der es unter anderem darum geht, dass es unter Bedingungen der modernen Realität unabdingbar […]
31/12/2017
InformNapalm-Bilanz 2017: Mehr Publikationen, mehr Beweise, mehr Anerkennung - InformNapalm (Deutsch)[…] Und am zehnten (aber ganz und gar nicht letzten) Platz steht ein Artikel, den wir noch im September 2015 aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hatten, und der seitdem jedes Jahr stets in unsere Top-10 gelangt. Das ist ein Artikel vom italienischen Politologen Mark Galeotti, in dem er die russische Gerassimow-Doktrin penibel auseinandernimmt. An der Stelle möchten wir anmerken, dass sich für diesen Artikel permanent Regierungsbehörden, Unis und Militärs aus deutschsprachigen Ländern interessieren: „Mark Galeotti: Die „Gerassimow-Doktrin“ und Russlands nicht-linearer Krieg“. […]
16/10/2018
Zum Tag des Verteidigers der Ukraine: Die neue ukrainische Armee am Beispiel der Saber Junction Manöver - InformNapalm (Deutsch)[…] der Kriegsführung zu tun. Der Westen scheint noch immer nicht ganz zu verstehen, was ein „hybrider Krieg“ sein soll, in dem nicht immer alles nach Plan läuft. Gut möglich, dass die Ukrainer dreist […]