Ich denke darüber nach, was wäre, wenn Voland heute nach Moskau kommen würde. Also, nicht nach Stalins Moskau, sondern nach Putins Moskau (Anm.d.Übers. Der Autor spielt auf den Roman von Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“ an, und auf einen seiner Haupthelden – Voland, den Teufel höchstpersönlich).
Wie Ihr euch erinnern könnt, macht der „Professor“ während des Auftritts seiner Gefolgschaft auf der Moskauer Bühne eine Art philosophischer Abschweifung, als er sich die Zuschauer genauer anschaut:
Na, was sonst: Menschen wie Menschen eben sind. Lieben das Geld, aber das gab es doch schon immer… Die Menschheit liebt das Geld, egal woraus es gemacht ist, ob aus Leder, Papier, Bronze oder Gold. Ja, sie sind leichtsinnig… aber naja… auch Mitleid klopft manchmal an ihr Herz…. gewöhnliche Menschen… erinnern mich im Grunde an die alten… nur die Wohnfrage hat sie ein wenig verdorben…
Wenn manche moderne Analytiker unsere Epoche mit den 1930ern vergleichen, liegen sie nicht ganz richtig. Jene Menschen, Menschen der 30er, erinnerten tatsächlich an die „alten“, an die vor-revolutionären. Durch ihre Manieren, ihren Alltag, ihre Vorstellungen. Bulgakow zeigt es sehr gut. Mit den heutigen Russen verbindet die Menschen der 1930er nur eins: Die Liebe zum Geld. Wieso das denn, wird mir jemand widersprechen. Was ist mit der Beziehung zur Macht, mit diesen lakaienhaften Lobgesängen, mit der allgemeinen Unterstützung der Führerpolitik? Ist all das nicht der heutigen 86% Unterstützung für Putin ähnlich?
Ich antworte: Ähnlich, aber nur äußerlich. Bei uns ist die Situation mit der allgemeinen Qualität der Bevölkerung unermesslich schlechter als in den 1930ern. Schlechter!
Wenn wir Bilder der Kinochronik schauen, in denen monolithische Kolonnen unter den Slogans „Ruhm dem großen Stalin!“, „Tod den Trotzki-Hunden!“ marschieren, müssen wir verstehen, was dahinter steckt. Und dahinter steckt der Bürgerkrieg, dahinter stecken Jahre des Genozid-Terrors und der sozialen Diskriminierung. Dahinter steckt die allgegenwärtige, wie das heutige Internet, Angst. Das muss man verstehen.
Als aber die heutige russische Mehrheit „KrimUnser!“ und „Neurussland“ unterstützt hat, hatte sie keine Erfahrung von Solowki ähnlichen Arbeitslagern hinter sich, keine Erfahrung der Besitzentfremdung, Massenerschießungen und keine Zwangsarbeiten am Belomorkanal. Der heutige Bürger weiss nicht, was das ist: NKWD-Schritte nachts, hinter deiner Tür. Ihm wurde nicht auf seine Geschlechtsorgane bei den Verhören eingeschlagen. Nein, die heutige Mehrheit hat eine ganz andere Lebenserfahrung hinter sich: Die Erfahrung des Lebens unter Demokratie der 1990er, wenn auch einer sehr unvollkommenen, ja, aber doch einer Demokratie. Unsere Mehrheit, die Putin so sehr anbetet, kannte keine Angst und keinen Eisernen Vorhang. Niemand hat die heutige Mehrheit eingeschüchtert und sie zu etwas genötigt. Als das sowjetische Volk 1939, nach dem Überfall auf Finnland, auf den Massenkundgebungen in Fabriken und Werken einstimmig bellte: „Es lebe die friedliche Politik der Sowjetunion! Es lebe der große Stalin! Wir heißen alle von der sowjetischen Regierung getroffenen Maßnahmen gut!“ – ich verstehe, dass es in einem GULAG-Land geschah. Versuch‘ nur, es nicht gutzuheißen. Wenn du nicht lautstark deine Zustimmung äußerst – stirbst du einen qualvollen Tod.
Aber jenen, die im März letzten Jahres der „Rückkehr der Krim“ applaudierten – ihnen hat ganz bestimmt niemand mit Stiefeln auf die Nieren eingeschlagen und GULAG drohte ihnen auch nicht. Wie auch den restlichen 86%. Gut, du gehst nicht auf die Demo zur Unterstützung von „KrimUnser!“ – verlierst vielleicht deinen Job (das ist das schlimmste, was passieren könnte), aber niemand würde dich erschiessen oder nach Kolyma per Etappe befördern. Und übrigens werden gar nicht alle zu diesen Kundgebungen genötigt. Die absolute Mehrheit sitzt zuhause und predigt „KrimUnser!“ absolut freiwillig, allein vor dem Fernseher sitzend, im Familienkreis, nach ihrem Herzenswunsch, ohne jeglichen Druck und jegliche stimulierende Angst. Sie, diese Menschen, sind durch keinen Fleischwolf des Terrors gegangen. Sie haben die Erfahrung eines ziemlich freien postsowjetischen Lebens, sie haben Reisepässe und einen Internetzugang, und dabei sind sie trotzdem bereit, über die Straßen Plakate mit „Ruhm dem großen Putin!“ und „Tod der fünften Kolonne!“ zu tragen. Im Prinzip hatten sie in den 1990ern die Chance, normale Menschen zu werden, sich dem Kreis der normalen Völker anzuschließen. Aber nein, sie haben freiwillig den Stalinismus 2.0 und das Gefasel über die neue Imperiumsgröße gewählt. Und das ist der Grundunterschied zwischen unseren Zeitgenossen und den Menschen der 1930er. Während sie ALLES über den Stalin-Terror wissen, befürworten, nach Angaben des Lewada-Zentrums, unsere Zeitgenossen diesen. Wohl in der Hoffnung, dass der neue Terror sie persönlich nicht betreffen wird. Also, stimmen diese Schweine den Repressionen zu, wenn ANDERE abgeschoben werden. Wenn ANDEREN das Schicksal gebrochen wird, wenn ANDERE gedemütigt, gefoltert und getötet werden. Solch eine fabelhafte Bevölkerung haben wir heute.
Die Sowjetunion hat eine grausame Sache vollbracht: Sie hat wohl in der Zeit ihres Bestehens fast jeden vernichtet, der die Freiheit versteht. Der letzte Ausbruch des Widerstands war der Nowotscherkassk-Aufstand zu Chruschtschow-Zeiten. Als später dann die Chance auf die Freiheit aufkam, gab es wohl niemanden mehr, der diese Chance nutzen könnte. Der Wille zur Freiheit blieb in der Ukraine, im Baltikum, in Georgien. Aber nicht bei uns, bei den Russen. Die Qualität unserer Bevölkerung ist grottenschlecht. Sie kann mit ihrer Qualität zu Stalin-Zeiten gar nicht verglichen werden. Denn damals musste das System doch noch gegen großen Widerstand kämpfen, ihn überwinden. Es gab Aufstände der Bauern, dann gab es die Wlasow-Anhänger. Es gab eine riesige Schicht an Menschen, die Stalin und die Sowjetunion im Ganzen hassten. Darum brauchte dieses System überhaupt GULAG. Nun braucht es diesen gar nicht. DIESES Volk liebt den Führer auch ohne GULAG. Es ist eine grausame Sache: Die Sklaverei unter der Peitsche. Noch grausamer ist aber eine ohne Peitsche. Schrecklich ist der Sowjet in einem Watnik (eine Jacke aus Watte, die Häftlinge trugen). Noch schrecklicher ist aber ein Sowjet in einem ausländischen Auto, in ausländischen Klamotten, der Urlaub in Europa verbringt und dabei den Westen hasst. Ich erinnere mich, dass unter der Sowjetregierung die Besitzer eigener Häuser gezwungen waren, an Feiertagen rote Flaggen aufzuhängen. Flaggst du nicht – bekommst du Schwierigkeiten. Heute zwingt niemand einen, das „Colorado“-Bändchen auf sein eigenes Auto zu hängen, aber alle tun es, sie hängen es selber aus, und merken dabei gar nicht, wie zweideutig und tragikomisch dieses ganzjährige „Siegessymbol“ auf einem Mercedes oder Volkswagen aussieht.
Dieser heutige freiwillige Neostalinismus, der freiwillige Verzicht auf die Möglichkeit, frei zu sein – das ist viel schrecklicher als die Atmosphäre der 1930er. Er bedeutet vollständige Degradierung, womöglich sogar eine unumkehrbare. Das ist ein Aussterben als Folge der gewaltigsten Antiselektion, der negativen Aussortierung. In der großen russischen Sprache gibt es das Wort „Menschen“ und „Bastarde“. Wie Sie sehen, klingen sie angeblich ähnlich (Anm.d.Übers. russ. „ljudi“ und „ubljudki“), es kann sogar einem vorkommen, als seien ihre Wurzeln gleich. Die Bedeutung dieser Worte ist aber gänzlich verschieden. Und die Wurzeln sind auch verschieden. Von „Ljud“ und „Blud“ („Leute“ und „Unzucht“). Zwischen diesen zwei Worten, bei all ihrem gewissen Gleichklang, ist eine Distanz riesigen Ausmaßes. Dieselbe, wie zwischen den Russen der 1930er und uns, den heutigen Russen. Damals, in den 1930ern, waren es doch noch Menschen.
Der Anfang von Perestroika wurde durch das Erscheinen eines bezeichnenden Films „Die Reue“ von Tengis Abuladze verkündet. Im Grunde begann die Perestroika-Kritik des Stalinismus mit diesem Film. Die Leitbotschaft dieses Films wurde nicht angenommen – er schien damals zu radikal und sogar nihilistisch zu sein. Der Sohn hebt die Leiche seines Vaters – eines Tyrannen – aus dem Grab aus und wirft ihn vom Berg irgendwohin in die weite Welt herunter – in den Wind, in die ewige Schande. Oh, wie damals, zu Zeiten des Erscheinens dieses Films, viele diese prägende Szene brandmarkten, wie entrüstet sie über diese waren! Der Film wurde zu einer Art Prüfung, Prüfung der gesellschaftlichen Bereitschaft zu Veränderungen, zur Verwandlung. Er hatte eine Botschaft, die nicht gehört wurde: Uns kann nur die totale Lossagung von Befleckung retten. Ähnlich jener, die Osteuropa vollbracht hatte. Das ist aber nie passiert. Die Sühne – und genau in dieser bestand der Sinn des Films – wurde nicht vollzogen. Der Film wurde nicht gehört, und das Wort selbst – „Die Sühne“ – rief größtenteils Verärgerung und Grimm hervor. Und je weiter, desto mehr.
Die Aufrufe zur Sühne begann man als Beleidigung der nationalen und persönlichen Würde wahrzunehmen: „Wer, WIR sollen büßen? Vor wem? Wir haben sie alle vor dem Faschismus gerettet!!“ Heute wurde das Thema der Buße, das zu Perestroika-Zeiten überall mitschwang, durch das Thema des „Aufstehens von den Knien“ durchkreuzt. Seine Krone ist der „KrimUnser!“. Ein vollendeter historischer Zyklus: vom Film „Die Reue“ zum Film „Der Weg in die Heimat“ (Anm.d.Übers. propagandistischer Kreml-Film über die Krim-Annexion, oder wie sie in Russland genannt wird: „Rückkehr in die Heimat“). Wir sind wohl tatsächlich in „die Heimat zurückgekehrt“. Jemand sagte bezüglich des Films von Abuladze, dass die übelriechende Leiche des Tyrannen nun aufgesammelt und auf den alten Thron gesetzt wurde. Stimmt nicht ganz. Diese halb verfaulte Leiche haben unsere Zeitgenossen zu sich nach Hause geschleppt und an ihren Familientisch gesetzt. In ihrer Gesellschaft trinken sie nun Tee. Kriecherisch führen sie mit ihr Gespräche, sie beraten sich mit dieser. Und wenn der Kopf der Leiche zufällig mal abfällt, bringen sie diesen mit Entschuldigungen wieder an seinen Platz an.
Also, was ist, Messire, Sie sagen, es sind Menschen wie Menschen eben sind? Nein, leider bezieht es sich nicht mehr auf uns. Das ist nicht über uns. Wir sind keine „Menschen wie Menschen“, sondern ein gewisses Produkt eines Systems der Entmenschlichung. Die Buße hätte etwas menschliches in uns wecken können, aber wir traten nur ein wenig am Scheideweg der Geschichte herum und verzichteten dann auf diese Chance. Die Menschen der 1930er hatten so eine Chance nicht, und das Einzige, was uns mit ihnen verbindet, das Einzige, was wir von ihnen vererbten, ist ihr Negatives: Die Bereitschaft unsere Nachbarn zu verpfeifen, die Pöbelei im Bus und eine Schwäche für alles, was gratis ist. Trotz der Tatsache, dass Moskau nun mit modischen Boutiques strahlt, ähnlich denen in Mailand und anderen, würde die heutige Gesellschaft den „Laden“ von Gella auf der Theaterbühne wohl auch heute stürmen (Szene im Roman von Bulgakow, in der der Teufel einen trügerischen Laden auf der Theaterbühne erschafft und das Publikum ihn daraufhin stürmt). Und nach teuflischen Geldscheinen, die von der Decke regnen, würde sie auch für ihr Leben gern schnappen. Putin bekam spitz, wie man diese „liebliche Seele“ erkaufen kann. Er versucht es Ihnen nachzumachen, Messire. „KrimUnser!“ ist das gleiche Geschäft von Gella auf der Bühne der Moderne. Hit der „Russischer Frühling“-Saison. Interessant ist nur, wer die Rolle von Gella spielt. Wahrscheinlich, die hurenhaften russischen Medien mit Leichenflecken auf ihren Händen. Das Volk probiert bereits seit über einem Jahr aktiv und selbstversunken die Krim an, wobei es flüstert: „Schick! Qualitativ! Patriotisch! Und wie operativ wir das abgewickelt haben! Ohne mit der Wimper zu zucken!“
Worauf hofft Putin? Darauf, dass die Illusion, die Vernebelung, zu einer ewigen Realität wird? Sogar Sie, Messire, vergriffen sich nicht daran. Der Nebel wird sich auflösen, und bleiben werden nur die Schande und das Massengekreisch. Für Sie ist es einfach, Messire: Sie können aufstehen und gehen. Putin ist in einer ausweglosen Lage: Er ist kein freier Künstler, im Unterschied zu Ihnen, er ist der Direktor-Besitzer dieses Varietés. Er ist dazu verdammt, in diesem zusammenfallenden Gebäude herumzutigern, unter dem enttäuschten, erbosten, zornigen Publikum, welches alle menschlichen Merkmale verliert. So ein Theater hier. „Die Vorstellung ist zu Ende! Maestro! Kürzen Sie den Marsch!“
Von Alexey Schiropajew in rufabula.com; übersetzt von Irina Schlegel; Titelbild: Kalinovsky „Voland schaut auf Moskau“
- Lesen Sie zum Thema auch: „Arkady Tigaj: Buße“
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