Den nachfolgenden Text hat der Petersburger Regisseur und Drehbuchautor Arkadij Tigaj geschrieben. Wir denken, dass dieser Text kaum jemanden unberührt lassen kann.
„Wir, Ukrainer, sind INSCHI (ukr. „anders“)!“ sagte mir einst mein ukrainischer Freund: „Siehst Du es denn nicht?“. Ich erinnere mich, wie ich damals widersprochen habe: „Zwei Arme, zwei Beine… was ist denn da „anders“?“ Und jetzt stimme ich dem wohl zu – ja, anders. Allen Zweifelnden rate ich die Maidan-Chronik anzuschauen, ohne die Kommentare des Ersten TV-Kanals. Erinnert Ihr Euch, wie sie da standen? Mehrere Monate, Tag und Nacht, in grausamer Kälte, auf vereisten Barrikaden… Erinnert Ihr Euch, wie sie mit Stöcken in den Händen, mit hölzernen Schildern gegen die Kugeln der „unbekannten Scharfschützen“ Deckung suchten, und auf diese Scharfschützen losliefen und tot umfielen? Und hinter den Getöteten liefen schon die Nächsten und die Nächsten – solange bis die Scharfschützen auseinanderliefen… Und jetzt erinnert Euch an unsere „Maidans“. Ist das ähnlich?
Gerecht ist auch, die jetzige Revolution in der Ukraine als eine Revolution der Würde zu bezeichnen. Die zu weit gegangenen Diebe zu verscheuchen, die korrupte Obrigkeit zu liquidieren ist eine Sache, die eines Menschen von Ehre würdig ist. Heute stellen sich diese würdevollen Bürger der Ukraine in lange Reihen auf, um zur Verteidigung des Donezker Flughafens zu fahren – die schwerste und blutigste Stelle des ukrainischen vaterländischen Krieges.
Es wäre interessant zu wissen, was die Generäle der russischen Armee darüber denken, wenn sie ihre zahlreichen Sterne und Orden für unbekannte Heldentaten entgegennehmen, die an „niemandem bekannten“ Kriegsschauplätzen vollbracht wurden. Zur Kenntnis für diese glorreichen Krieger: Gerade wurde in der Ukraine ein Lehrbuch unter dem Titel „Kleine Kampfeinheiten. Allgemeine militärische Vorbereitung. Partisanenpraxis“ herausgegeben. Das ist die Realität, auf die sich die Ukraine vorbereitet. Das ist gegen uns, russische Brüder – gegen uns bereitet sich die Ukraine auf einen Partisanenkrieg vor. Null Illusionen. Ich denke, die russischen Generäle sollten sich nicht mit Orden behängen sondern ihren Schulterriemen enger festziehen.
Wobei die russische Propaganda noch immer behauptet, dass „wir nichts damit zu tun haben!“ Schreit, jammert, fordert: „Beweist es!“, „Wo sind die Beweise?“ Unsere Forderungen nach Beweisen sind der Forderung einer schwangeren Frau gleich, sie als Jungfrau anzuerkennen. Und ihrer Forderung nach Beweisen des Gegenteils von denjenigen, die ihr widersprechen. „Beweist es!“, schreit sie, mit ihrem dicken Bauch aufdrängend: „Wer hat es gesehen? Wer stand daneben?“ Und wir, die Wahnsinnigen, schreien: „Beweist es!“ – in den Pausen zwischen den Beerdigungen unserer in der Ukraine gefallenen Soldaten. Welche Beweise brauchen wir noch? Wieviele Soldatengräber brauchen wir noch, um diese Flut schamloser Lügen aufzuhalten? Heute läuft es schon auf Tausende hinaus.
In seinen Erinnerungen an den Aufenthalt im Irrenhaus erzählte der Maler Schemjakin über die Methoden, mit denen die sowjetische Strafmedizin versucht hatte, aus ihm, einem gesunden Menschen, einen Wahnsinnigen zu machen. Die Technologie war folgende: Aus dem Nachbarzimmer erklang permanent eine Stimme, die immer die gleichen pathetischen Slogans wie Zaubersprüche wiederholte: „Heimat ist unsere Mutter!“, „Sowjetunion!“, „Vaterland!“… Dann begann dieselbe Stimme, aber im Tonfall der Abscheu, widerlich zu quietschen, die „Feinde“ aufzählend: „Van Gogh“, „Matisse“, „Picasso“… Und das Tag und Nacht. Erinnert Euch an nichts? Da wurden also die Technologien abgeschliffen, wie man ein ganzes Volk mit Fernsehen und Presse wahnsinnig macht. Es hat geklappt. Das Volk hat einen hysterischen Anfall. In unserem entzündeten Geist schielen die verdammten Amis, Ukrofaschisten und Schidobanderowzy um alle Ecken. Auch ich, ein eingefleischter Schidobanderowez, beeile mich, meine Ansicht zumindest deswegen kundzutun, damit wenigstens eine Einzelstimme durch das hysterische Gebrüll der Propaganda durchsickert.
Nein, ich glaube keinen Meinungsumfragen. Ich glaube deshalb nicht, weil ich sehe, um welchen Preis die Obrigkeit diese vorgetäuschte Einigkeit erreicht. Die Dummen wurden belogen, die Geizigen gekauft, die Feigen eingeschüchtert, die Mutigen ins Gefängnis gesteckt, und die Schurken haben im richtigen Moment von allein „KrimUnser!“ geschrien – da habt Ihr Eure 85% der Unterstützung. Und die restlichen 15% wurden zur fünften Kolonne ernannt, Renegaten, Volksfeinden… zum ersten Mal, oder was? In Wirklichkeit wurden wir mit diesen Umfragen zu Komplizen des verbrecherischen Mordes an mehreren Tausenden Menschen gemacht. Mit diesem Kainszeichen möchte man das ganze Volk abstempeln. Alle 140 Millionen Bürger. Entsprechend dem Gesetz einer Verbrecherbande streben die Führer danach, ihre persönliche Verantwortung dünn über die ganze Bevölkerung zu verstreichen, um dann der Behauptung „Das Volk hat immer Recht“ zu folgen und den dreckigen Krieg zu rechtfertigen, den sie auf dem Territorium eines souveränes Landes entfesselt haben. Gott, welche Verbrechen nur im Namen unseres unglückseligen Volkes nicht alles begangen wurden!
Dabei hat Berdjajew irgendwann geschrieben: „Nicht im Volk ist das Zentrum des Gewissens, denn das Volk schrie: Kreuzige ihn!“ Und hier sind wir alle, belogen, übertölpelt, besoffen vom Bruderblut, schreien „Kreuzigt!“, die geschwächte Ukraine kreuzigend, womöglich in den schwersten Tagen ihrer Geschichte. Na gut, das Volk ist ein Einfaltspinsel, es wurde belogen, benebelt, wahnsinnig gemacht, um den Finger gewickelt… Aber Ihr, Ihr? Gebildete, geistig Reiche, alle-Bücher-Gelesen-Habende? Alle humanen Wahrheiten erkannt? An Gott Glaubende, verdammt noch mal, findet Ihr auch, dass ein Dieb im Recht sein kann, und das Raubopfer – schuldig? Und dass wenn man eine schamlose Lüge über Faschismus und Banderowzy nur laut und lange genug schreit, die Wahrheit nicht siegen wird? Vielleicht glaubt Ihr wirklich, dass man das, was schlecht liegt, ungestraft abnehmen kann? Und wenn sie es selber nicht hergeben, so darf man es mit Gewalt tun? Und wenn sie widersprechen, darf man ihnen in die Fresse schlagen? Und dass man die Sich-Wehrenden töten und dann sagen kann, sie seien es selbst gewesen?… Wo seid Ihr denn, Ihr geistigen Väter der Nation? „Kunstmeister“, die sich in ihren kulturellen Stammgütern verschanzt haben, in Theatern, Verlagen, Museen? Was versteckt Ihr denn die Augen? Was murmelt ihr Unverständliches in die TV-Mikrofone, Euer graues Haar entehrend? „Wissen Sie, ich verstehe nichts von Politik…“ Was genau versteht Ihr nicht? Dass wenn jemand ein Portemonnaie klaut, er ein Dieb ist? Und derjenige, dem es geklaut wurde – ein Opfer? Was für eine Weisheit!
„Das Schicksal kümmert sich darum, dass es kein Glück für etwas gibt, was um den Preis eines Verbrechens ergattert wurde,“ – dieses Naturgesetz wurde vom italienischen Dramaturgen Vittorio Alfieri schon im 18. Jahrhundert entdeckt. Kann es jemand auch nur mit einem historischen Beispiel widerlegen? Oder erinnern wir uns nicht mehr, wie das sowjetische Imperium unter der Last der eigenen Verbrechen wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist? Damals schien es uns, dass wir nun eines Besseren belehrt worden sind – einen Scheiß sind wir das. Wir sind wieder im gleichen Diebesparadies. Wir sind wieder bereit, Nachbarvölker mit der Abpressung von Territorien zu retten und zu beglücken. Wie bei den Finnen – Karelien, bei den Japanern – die Kurilen, bei den Georgiern – Abchasien und Südossetien, bei den Moldauern – Transnistrien… Und so weiter der Liste nach, mit wem haben wir noch eine gemeinsame Grenze? Mit Estland? Litauen? Mit China? Man kann ja gar nicht mehr auf die Krim fahren, ohne sich wie ein Schieber zu fühlen, der das Geklaute aufkauft….
Ja, ich hör‘ schon, ich höre die gerechtfertigten Fragen: Wer bist du denn, um ein ganzes Land zu verurteilen? Dem eine Note fürs Benehmen zu geben? Wirst du uns vielleicht noch zu büßen befehlen? Nein, werde ich nicht. Es gibt gar keine kollektive Buße, weil eine Herde mit ihrer unbarmherzigen, arithmetischen Richtigkeit tatsächlich immer Recht hat – ist es nicht der Grund dafür, warum jedes Unding immer versucht, sich in einem Kollektiv zu verstecken? Wie es scheint, haben sich in der ganzen Menschheitsgeschichte zu einer gesamtnationalen Buße nur Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg erhoben.
Wobei Sünden immer die Einen begehen, Buße tun aber in der Regel gänzlich Andere. Erinnert Ihr Euch an so einen „Anderen“- einen Journalisten-Adoptivvater? Vor ein Paar Jahren ist er während eines süßlichen „TV-Dialog-Putins-mit-dem-Volk“ aufgetreten, und hat das Gesetz „Dima Jakowlew“ als menschenfressend bezeichnet? Der nationale Führer hat damals reagiert: „…Gefällt es Ihnen, wenn Sie erniedrigt werden?“, empörte er sich: „Sind Sie ein Masochist?“… Dem ist nichts hinzuzufügen. Der gehemmte KGB-Oberst, der sich Dank einer Schicksalsfügung auf dem Gipfel der Machtpyramide wiedergefunden hat, kann einen Vergleich zwischen der Nichtigkeit der politischen Ambitionen und dem Leben eines Kindes nicht ziehen.
Und über das Leben mehrerer Tausende braucht man gar nicht zu reden. Wahr ist auch, dass er an die berühmten Halsabschneider Stalin, Hitler, Pol Pot gar nicht heranreicht – da auf dem Konto sind Millionen Getötete. Aber auch diese Tausende, schon Gefallenen, im von Putin entfesselten Brudergemetzel, werden reichen, um ihn auf die Liste der Schurken des 21. Jahrhunderts zu setzen. Eine Liste, die heute mit dem Namen unseres nationalen Führers eröffnet wird, unter dem begeisterten Applaus der verdummten blind-taubstummen Wählerschaft.
Und es ist ja keine einzige Witwe zu einer Einzelmahnwache gekommen. Keine einzige Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Kein einziger Vater, oder Kind… Das ist die Messeinheit unseres Sklaventums: Die schweigende Mutter, deren Kind in einen ungerechten, unerklärten Krieg geschickt und dort getötet wurde, und ihr aber „nicht aufzutreten, sonst wird es schlimmer“ befohlen wurde. Als ob es für die Eltern irgendetwas Schlimmeres als die Beerdigung des eigenen Sohnes gibt. Aber sie „treten nicht auf“, sie schweigen, weiterhin die Ukrofaschisten patriotisch hassend.
Übrigens, wegen Hass – das ist das wahre Stigma eines Sklaven. Der mentale Sklave hasst immer jemanden: Das Herrchen, die Intellektuellen, die Amis, die Juden, die Reichen, die Schwarzen, die Schwulen… Aber am meisten hasst der Sklave die fremde Freiheit, die fremde Unabhängigkeit – so wie wir, die im Sklaventum leben, sie hassen. Hassen aus dem gleichen Grund, aus welchem ein Impotenter die Frauen zu hassen anfängt, das Glück der Liebe unfähig zu erleben.
Mir wird widersprochen, mir wird vorgehalten, mir wird zornig ins Gesicht geworfen, dass die Mutter des gefallenen Soldaten eine Patriotin ist, und darum mit einem für mich, den Abtrünnigen, unbekannten Stolz ihr Kind um die Verteidigung des Vaterlandes willen abgibt. In diesem Fall antwortet mir, dem Abtrünnigen, doch: Wovor verteidigen wir uns? Wer ist dieser schreckliche Feind, der unsere Heimat bedroht? Die Ukrainer? Sind sie etwa auf das Territorium Russlands eingedrungen? Haben sie etwa einen Teil unseres Territoriums annektiert und bedrohen die Integrität unseres Landes? Vielleicht haben sie ihre grüne Männchen unter der Führung von Girkins, Borodajs und Tausenden anderer Meistergauner in unser Rostower Gebiet hingeschickt und eine unabhängige Republik ausgerufen? Quatsch.
Nein, weder die Liebe zum Vaterland noch die Treue zur Heimat oder der Russischen Welt, hastig von den Kremlideologen zusammengeschustert, sind Gründe für diesen Krieg. Einst sagte Golda Meir, dass der Krieg im Nahen Osten dann enden wird, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben werden, als sie die Juden hassen. Das ist die ganze Erklärung hier: Der Hass auf die ukrainische Freiheit hat uns zu dieser Schande geführt, in welcher das Große Russland Tausende Söhne „leichten Herzens“ zum Schlachten abschickt, die stickige palästinensische Kufiya anprobierend.
Was ist mit den Ukrainern? Die Ukrainer waren und bleiben frei, mit all ihren Maidans, Demonstrationen, Raufbolden-Abgeordneten, schelmischen Beamten, die von Zeit zu Zeit in die Müllcontainer fliegen… Mit all dieser politischen „Rumschieberei“, die durch Fehler und Verwehungen früher oder später das Land nicht zu unserer verfaulten, friedhofartigen Stabilität führen wird, sondern zu einem normalen europäischen, menschlichen Leben. Sie, die Ukrainer, stellt Euch nur vor, sind dermaßen frei, dass sie sich erlauben, uns zu bemitleiden und uns zu danken – unserem Russland.
„Das putinsche Russland hat uns zum Volk gemacht“, erklärte mir unerwartet mein Kyjiwer Freund.
Und das ist die Wahrheit: Ein gemeinsames bitteres Schicksal, eine gemeinsame Bedrohung, ein gemeinsamer Feind macht eine Bevölkerung zum Volk. Über 20 Jahre schwammen wir wie Scheiße im Eisloch, ohne verstehen zu können, wie man über Freiheit verfügt. Ohne Sinn und Ziel. Nun weiß jedes Kind in der Ukraine ganz genau, dass es Jäger auf seine Ehre und Würde gibt, vor welchen man sich verteidigen muss, und darum braucht man eine kontrollierte Regierung und eine Armee. Und für die Armee – eine Wirtschaft. Und für die Wirtschaft – moderne Technologien…
Wahrlich bekommt man „die beste Bildung im Kampf ums Überleben“. Vielleicht besteht unser russisches Unheil genau darin, dass die nicht erkämpfte Freiheit keinen Preis hat? Dass es die gleiche Chimäre ist, wie „von oben angeordnete“ Demokratie oder vererbtes Reichtum? Haben wir alle nicht gerade deswegen auf die Freiheit verzichtet, die uns gratis zuteil wurde? Und wir brauchen gar kein unabhängiges Gericht, keine freien Medien, keine ehrlichen Wahlen… Brauchen gar nichts, außer Almosen vom Herrchentisch? Einst sprach ein unbekannter Weise eine für unsere verklemmte nationale Würde kränkende Wahrheit: „Was auch immer die Russen tun, man hat immer Mitleid mit ihnen“.
In der Tat: Es wird einem elendig und grausig, wenn man nur bedenkt, wie wir zu leben vorhaben, nach all dem, was wir in der Ukraine veranstaltet haben. Die Antwort ist vermutlich diese: Im heute existierenden Regime werden wir schlecht leben, dreckig. Ein lügenhaftes und ungerechtes Leben, verachtet von unseren Nachfahren. Und beenden werden wir dieses niederträchtige Leben ohne Buße und Abendmahl in einem zerfetzten, verwüsteten Land.
Quelle: Arkadij Tigaj; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Arkadij Tigaj: Buße”
03/01/2016
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