von Anatoli Schara
Wie man russischen Narrativen im Netz mit Hilfe von modernen Data-Science-Methoden und Machine-Learning-Algorithmen Paroli bieten kann.
Man kann mit absoluter Sicherheit behaupten, dass die Russen das ganze Spektrum ihrer Möglichkeiten ausnutzen, um ihre pragmatischen geopolitischen Ziele zu erreichen, darunter auch die modernsten IT-Entwicklungen – Big-Data-Verarbeitung, Machine-Learning- Algorithmen, neuronale Netzwerke. Moskau wird nicht grundlos beschuldigt, sich unter Verwendung dieser Technologien in die Präsidentschaftswahlen in den USA eingemischt zu haben. In diesem Kontext darf man auch den Skandal mit der britischen Firma Cambridge Analytica nicht vergessen, die Donald Trump dazu verholfen hat, den Zuspruch des launenhaften amerikanischen Publikums in sozialen Netzwerken zu gewinnen.
Wenn es aber um die allgegenwärtigen Russen geht, muss man betonen, dass sie sich nicht auf die Verunstaltung von amerikanischen oder ukrainischen medialen Räumen beschränken, sondern ihre Tentakel auch nach Deutschland ausbreiten, das schon seit Langem zum Moskauer Interessenkreis gehört. Die Suche nach russischen Spuren im deutschen Medienraum wurde zu meinem eigentlichen Thema im Rahmen des Kurses „Data Science. Verarbeitung natürlicher Sprachen“, organisisert von Lehrern des erfolgreichen ukrainischen Start-ups Grammarly.
Eines Tages las ich in einem Artikel des führenden deutschen Zeitungsverlags Zeit Online einen Bericht über den Verlauf der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine, und mir ist aufgefallen, dass der Journalist, obwohl er den Artikel relativ ausgewogen verfasst hatte, die Kommentare darunter wortwörtlich bestimmte Klischees russischer Propaganda über die Ukraine wiederholt hat. Und je weiter ich mich in diesen nicht besonders angenehmen Leseschund vertieft habe, desto offensichtlicher wurde mir die Tatsache, dass man hier die Ukraine in denselben Farben beschreibt wie für die Einwohner von Russland. Anschließend nahm ich mir einen anderen Artikel dieses Verlags über die Ukraine vor, und dann noch einen. Es handelte sich um verschiedene Autoren und verschiedene Ereignisse, unverändert blieb nur die betont anti-ukrainische Ausdrucksweise der absoluten Mehrheit von Kommentaren.
Um endlich verstehen zu können, wie genau Russland die Realität über die Ukraine für den deutschen Leser verzerrt, entschloss ich mich, systematisch vorzugehen. Für die Analyse schaute ich mir die Kommentare unter 22 Artikeln von Zeit Online an, von Anfang Januar bis März 2014 – der Zeit zwischen dem Höhepunkt der ukrainischen Revolution bis zur Annektierung von Krim. Diese Wahl war nicht zufällig, denn genau aus dieser Zeit stammt die gegenwärtige Dämonisierung der Ukraine in Deutschland. Mit über 1200 Kommentaren ergab sich ein bedeutender Datensatz, der für die Analyse mit Hilfe von modernen Data-Science- und Machine-Learning-Technologien absolut ausreichend war.
Zunächst habe ich den Vektor-Abstand zwischen dem Artikel „Sieben Irrtümer über die Revolution in Kyjiw“ und den Kommentaren darunter gemessen. In anderen Worten, ich habe ermittelt, inwiefern die Informationen im Artikel dem Kontext von Kommentaren entsprechen. Die Zahlen ergaben keine Wunder: die Mehrheit von Kommentaren hatten wenig mit dem Thema zu tun und hatten eine übertrieben negative Konnotation. Nach einer tieferen Analyse fand ich viele allzu bekannte Wortkombinationen: „bezahlte Demonstranten“, „Neonazis“, „vom State Department bezahlte Revolution“, „Wiederholung der Orangenen Revolution“, „bewaffnete Demonstranten greifen Berkut an“, etc. Ich möchte hier betonen, dass der Autor in seinem Artikel nur die in der deutschen Gesellschaft verbreiteten Irrtümer bezüglich der Revolution der Würde schildern wollte, jedoch wurde sein Vorhaben mit schon bekannten anti-ukrainischen Meme völlig zunichte gemacht.
Wie die vollständige Vektoranalyse gezeigt hat, waren die Unstimmigkeiten zwischen den Inhalten der Texte und Kommentaren einfach riesig. Trolle haben hartnäckig ihre Sichtweisen verbreitet, und dieselbe Geschichte wiederholte sich auch bei anderen Artikeln. Im Endeffekt haben wir eine Situation, in der Journalisten die Ereignisse in der Ukraine objektiv schilderten, jedoch kamen Horden von Trollen und änderten Akzente und Konnotationen von geschilderten Informationen in den Kommentaren. Anschließend führte ich eine Bigram-Analyse durch bezüglich der am meisten verwendeten Wortkombinationen in den Trollkommentaren. Und wenn „Faschisten“, „Putsch“, „Staatsstreich“ nicht unerwartet sind, erscheint „Kosovo“ zunächst unpassend und seltsam. Aber nur auf den ersten Blick. Nach der gründlichen Analyse des Kontextes, in dem das Wort verwendet wurde, wurde klar, dass russische Trolle die Situation der Unabhängigkeitserklärung von Kosovo als Rechtfertigung für die Annektierung der Krim benutzten.
Sie betonten, die USA hätten mit der Unabhängigkeit von Kosovo internationale Abkommen gebrochen, warum dürfe dann Russland sich nicht nehmen, was Russland gehören würde?! Interessant und selbst-beschuldigend zugleich ist die negative Verwendung des Wortes „Sanktionen“. Die Kommentatoren waren auch nicht besonders kreativ bezüglich russischer Sichtweisen der Krim-Situation, sie haben dem deutschen Publikum einfach die alten Mantras wiederholt: „Die Krim war schon immer russisch“, „Chruschtschow hat die Krim nur zeitweise an die Ukraine verliehen“, „die Bevölkerung der Krim ist pro-russisch“, „das Referendum hat die richtigen Stimmungen der Krim-Bewohner gezeigt“, „die Krim neigte sich schon immer Russland zu“. Nach einer zusätzlichen Textverarbeitung, wie Lemmatisierung, Stopwort-Bereinigung und Beseitigung von am meisten wiederholten Entitäten, wurden die 10 aktivsten Trolle identifiziert.
Als Nächstes wollte ich ermitteln, wie persönlich die Kommentare dieser Trolle waren. Ich wollte wissen, wie oft sie Wortkombinationen verwendeten, die eine persönliche Haltung zu Ereignissen oder Personen darstellen, z.B. „meiner Meinung nach“, „ich glaube“, „nach meiner Auffassung“, etc. Es stellte sich heraus, dass nur 6% der Kommentare solche Ausdrücke beinhalteten. Trolle stellten ihre Desinformationen immer als eindeutige, zweifelsfreie Tatsachen dar.
Zum Abschluss der Analyse bitte ich Sie, einen Blick auf die meistverwendeten Worte in den Kommentaren der besagten 10 Trolle zu werfen:
Die meistbenutzten Wörter in Troll-Kommentaren
Abgesehen von der typischen russischen Wortwahl wie „Referendum“, „Faschisten“, „Nationalisten“ findet man des Öfteren das Wort „Bürgerkrieg“ vor. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Analyseperiode Januar-März 2014 war. Noch lange vor den Kämpfen in Donbas verbreiteten die Russen unter deutschen Lesern den Gedanken, ein Bürgerkrieg würde in der Ukraine stattfinden. All dies wurde penibel geplant und im Voraus vorbereitet.
Und noch ein Schlusswort. Stellen sie sich das Ausmaß der anti-ukrainischen Desinformationskampagne in Deutschland nur vor. Die Schlüsselwörter, die Propagandisten zur Entflammung der Situation in der Ukraine verwendeten, stimmen mit den gefundenen in den Kommentaren von Zeit Online absolut überein. Hundertprozentige Übereinstimmung.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema: „Die Ukraine in den deutschen Medien“.
Autor: Anatoli Schara für tyzhden.ua; übersetzt von Volodymyr Cernenko; editiert von Klaus H. Walter.
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