Dies ist eine Übersetzung des Artikels vom berühmten französischen Politikjournalisten, Philosophen und Schriftsteller – Bernard-Henri Lévy. Am 9. Februar 2014 ist er auf der Euromaidan-Bühne mit einer Rede aufgetreten, die am 10. Februar in der Zeitung «Le Monde» unter dem Titel „Wir sind alle Ukrainer“ veröffentlicht wurde. Am 18. Februar 2014 hat er europäische Athleten dazu aufgerufen, ihre Teilnahme an den Olympischen Winterspielen in Sotschi aus Protest gegen die Gewalt in Kiew abzubrechen.
Bernard-Henri Lévy war während der schicksalsschweren Stunden vor dem Minsk-Gipfel an Petro Poroschenkos Seite.
Unser Treffen am Vorabend des Minsk-Gipfels wurde im Präsidentenpalast in Kiew für den Abend angesetzt. Aber sobald wir mit Gilles Herzog in Boryspil landeten, rief mich Valery Chaly an, ein Berater des Präsidenten, der bereits in Minsk war. „Bleiben Sie, wo Sie sind, fahren Sie auf keinen Fall in die Stadt. Ich kann nichts am Telefon sagen. Aber gleich kommt der Protokolldienst auf Sie zu und wird Ihnen alles erklären“.
Wir warten in einer verlassenen Flughafenhalle, wo Duty-Free miesen Kaffee und die in der ganzen Ukraine berühmte Schokolade der Marke „Roshen“ anbietet, mit der Poroschenko sein Vermögen gemacht hat. Zwei Stunden später tauchen schwarz gekleidete Menschen auf, mit Kopfhörern und einem langen, flachen Koffer in der Hand. Nach mehreren Jahrzehnten in den Hot-Spots der Erde, habe ich gelernt, dass es ein sicheres Zeichen der Annäherung des Bosses ist. Alles kommt schnell in Bewegung: Hektik unter den Männern in Schwarz, schneller Rückzug wieder zum Flugplatz, wo auf uns ein Flugzeug mit zwei laufenden Turbinen wartet. Wir steigen ans Bord und gelangen in den hinteren Teil des Fliegers. Dann bittet uns der Sicherheitsbeauftragte, ihm die Handys auszuhändigen und führt uns in die vordere Kabine, wo wir von Poroschenko empfangen werden. Er ist nicht wieder zu erkennen: ein Hemd mit Tarnmuster, Camouflagehose, Kampfstiefel. Ungewöhnliche, besorgniserregende Blässe: ich habe ihn noch nie so gesehen. „Entschuldigen Sie diese Geheimmaßnahmen. Aber niemand außer ihm (er nickt auf den General Muschenko, den ukrainischen Armeebefehlshaber) weiß, wohin wir fliegen. Aus Sicherheitsgründen. Aber Sie werden sehen. Das ist schrecklich. Ich möchte, dass Sie Zeuge werden“.
Der Flug in Richtung Süd-Osten dauert eine Stunde. Wir fliegen nach Kramatorsk, wo eine Stunde zuvor, erzählt Poroschenko, einer blinden Bombardierung dutzende Zivilisten zu Opfer fielen. So fängt das Gespräch an:
-Morgen zur gleichen Zeit werden Sie von Angesicht zu Angesicht mit Putin stehen. Was werden Sie ihm sagen?
-Ich werde in nichts nachgeben. Weder die territoriale Integrität der Ukraine, noch das Recht, den europäischen Weg zu gehen, stehen zur Debatte.
-Und wenn er stur bleibt? Und wenn er sich an die Idee der Föderalisierung der Zone klammert, die sich in den Händen der Separatisten befindet?
-Dann werde ich die Verhandlungen abbrechen und die Frage zur öffentlichen Diskussion in der UNO stellen. Wir sind kein Äthiopien im Jahre 1935. Und auch keine Tschechoslowakei im Jahr 1938. Wir sind keine der kleinen Nationen, welche die Großmächte damals in Jalta geopfert haben. Ich bin auch nicht Ihr Freund Izetbegovic, der in Dayton der Zerstückelung Bosniens zugestimmt hat…
Ich sage ihm, dass Frankreich unter der Leitung von François Hollande solidarisch mit ihm ist, und dass es ein signifikanter Unterschied ist. Er weiß es. Ich erinnere ihn daran, dass Deutschland der Ukraine sehr viel schuldet (sieben Millionen Getötete während des Zweiten Weltkrieges!) und Bundeskanzlerin Merkel diese Schuld nicht ausklammern kann. Er schüttelt den Kopf, als wolle er sagen, dass er es auch weiss, aber nicht ganz sicher ist, dass es funktionieren wird. Auf jeden Fall ist er davon überzeugt, dass sein Land bereits einen zu grossen Preis für die Unabhängigkeit und Freiheit gezahlt hat, um den Diktat von jemandem zu akzeptieren.
-Ich hoffe, dass wir morgen ein Friedensabkommen unterzeichnen werden, aber der Krieg erschreckt uns nicht. Wie der General Charles de Gaulle einst sagte, haben die größten Völker in schweren Zeiten keine besseren Freunde, als sich selbst.
Dann erzählt Poroschenko bis zur Ankunft über eine feierliche Erklärung, mit der er bei der Eröffnung des Gipfels auftreten wird. Denn dort wird über die Zukunft seines Landes mehr denn je entschieden. Nach 10.00 Uhr abends landen wir in Charkiw. An der Landetreppe erwarten uns etwa dreißig gepanzerte Fahrzeuge.
Ich habe einen niedergeschlagenen Mann gesehen, der unermüdlich wiederholte: „Hier werden nur Zivilisten getötet. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Unser Konvoi fährt durch das menschenleere Flachland nach Kramatorsk, wo wir nach drei Stunden Fahrt über eine ziemlich gute Straße, die sich in ihren letzten 50 Kilometern in ein durch Militärtechnik zerrüttetes und eingefrorenes Brei verwandelte, ankommen. Kein Licht. Keine Menschenseele. Plötzlich sehen wir eine Gruppe von Unglücklichen, die sich am Lagerfeuer wärmen. Genau hier, im Zentrum der Stadt, ist vor wenigen Stunden eine Rakete eingeschlagen, die aus einem Raketenwerfer „Smertsch“ aus mehr als 50 Kilometer Entfernung abgefeuert wurde. Im Grunde genommen ist es eine riesige Streubombe, die beim Aufschlag ihre tödlichen Geschosse freisetzt: im Umkreis von 800 Metern starben 15 Menschen und 63 wurden verwundet.
Nun sehe ich vor mir einen anderen Poroschenko: er ist jetzt nicht der Oberbefehlshaber, den ich im Flugzeug sah; er ist nicht der Präsident-Oligarch, den ich vor einem Jahr zum Elysee-Palast begleitete. Nun sehe ich einen niedergeschlagenen Mann, der im Licht der Scheinwerfer, die den Platz beleuchten, im Gesicht tot bleich geworden ist. Er hört den Zeugen zu, sie berichten ihm über das höllische Zischen der Raketen, über die Hausfrauen, die vom Markt zurückkehrten und von einer Flut der kleinen Bomben niedergemetzelt wurden, über die Panik, über die Leichen, über die man stolperte, über eine mutige Mutter, die ihr Kind mit ihrem Körper zudeckte und dabei starb, über die Ankunft des Krankenwagens, über die Angst vor dem nächsten Beschuss…
„Was für ein Unheil.“- murmelt Poroschenko. Er wiederholt immer und immer wieder: „Das ist eine Katastrophe… wir sind weit weg von der Frontlinie. Hier sind nur Zivilisten. Das ist kein Krieg, sondern ein Massaker. Dies ist kein Kriegsverbrechen, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit„. Dann bleibt er am Rand eines Kraters stehen, wo ein Blindgänger liegt. Wegen der kugelsicheren Weste, die er unter der Jacke trägt, wirkt er wie ein seltsamer Koloss. Er zeigt auf die todbringende Bombe und fügt hinzu: „Die Separatisten verfügen über Monster dieser Größe nicht, die von der Genfer Konvention verboten sind, es kann nur das Werk der Russen sein“. Ein schiefes Lächeln verzerrt sein Gesicht: „Die Russen… Wenn ich darüber nachdenke, dass sie in wenigen Stunden in Minsk sein werden und dass sie es wagen werden, über den Frieden zu sprechen…“
Auf uns kommt ein Arzt mit hochgekrempelten Ärmeln zu (draußen ist -10°C!), um uns in die Notaufnahme des Krankenhauses zu begleiten. Der Präsident hält an jedem Krankenbett an – fragt die Verwundeten aus, drückt ihnen sein Mitgefühl aus und versucht mit den Mutigsten gar zu scherzen.
Ich glaube, er bedankte sich demütig bei einer älteren Frau, die ihm die Splitter gab, die ihr aus den Beinen herausoperiert wurden: „Nimm‘, Petro, gib’s an Putin weiter. Sag‘ ihm, es ist von Zoe aus Kramatorsk“. Unser letzter Halt – am Stadtrand, wo sich der Militärstab befindet: im riesigen Gebäude, das mit Tarnnetz vollständig bedeckt ist, befinden sich Dutzende Offiziere, Krieger in Helmen, mit ernsten und müden Gesichtern, Einige schlafen im Stehen, an die Wand gelehnt, aber ohne die Waffe aus den Händen loszulassen. Und hier wird der Präsident wieder zum Oberbefehlshaber. Zurückgezogen in einen Raum gibt er mehreren Offizieren Anweisungen für den Gegenangriff, sollten die Verhandlungen in Minsk scheitern.
Poroschenko: „Unsere Armee wird zu der besten, zu der mutigsten und der erfahrensten in der ganzen Region“
Drei Uhr morgens. Die Militär-Aufklärung fürchtet einen neuen Beschuss mit „Smertsch“ oder vielleicht „Tornado“. In jedem Fall ist es Zeit für die Rückkehr. Auf dem Rückweg scheint die Straße noch öder zu sein… Im Flugzeug erzähle ich Poroschenko über das Abendessen mit dem ehemaligen US-Botschafter in Kiew, der sich für die Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt und glaubt, die ukrainische Armee sei in einer schwierigen Situation, vor allem in Debalzewe. „Er irrt sich nicht, – antwortet der Präsident mit einem Lächeln und nimmt eine Scheibe Schinken vom Teller, den eine Flugbegleiterin anbietet. – Aber Sie müssen auch wissen, dass die Zeiten, als sich unsere Matrosen in Sewastopol oder Soldaten in den Kasernen in Belbek oder Novofedoriwka kampflos ergaben, vorbei sind. Das ist der einzige Vorteil des Krieges – man gewinnt an Erfahrung… “ Ich sage ihm auch, dass viele in den Vereinigten Staaten und im Europa zweifeln, dass seine Militärs in der Lage sein werden, mit den modernen Waffensystemen umzugehen zu lernen. Aber er lacht nur und tauscht ein paar Sätze auf Ukrainisch mit dem Generalstabschef aus. „Sagen Sie ihnen, dass sie nichts verstanden haben. Wir brauchen genau acht Tage und keinen Tag länger, um den Umgang mit neuen Waffensystemen zu lernen. Wussten Sie, dass unsere Armee notgedrungen dabei ist, zu der besten, der mutigsten und der erfahrensten in der ganzen Region zu werden?“
Sein Gesicht trübt sich wieder, wenn ich erwähne, welch‘ einen schwierigen Weg die amerikanischen Freunde der Ukraine gehen müssen, damit die Waffen geliefert werden: da ist die erneute Bestätigung des Aktes über die Unterstützung der Freiheit der Ukraine im Kongress vom 11. Dezember 2014; die Notwendigkeit der Gesetzverabschiedung über die Bewilligung, um die 350 Millionen Dollar für die Militärhilfe zu verwenden, für die der Kongress bereits abgestimmt hat; die endgültige Genehmigung von Obama, wobei seine Gewohnheit bekannt ist, bei solchen Fragen zögerlich zu sein, und schließlich muss man noch erfahren, ob diese Waffen aus den Lagerbeständen geliefert werden oder noch produziert werden müssen, was einige Monate dauern könnte… „Ich weiß das alles. – sagt er kaum hörbar mit geschlossenen Augen…- Ich weiß… Aber vielleicht geschieht ein Wunder… Ja, ein Wunder…“
Als ich das höre, erinnere ich mich daran, dass Petro Poroschenko ein Christ, ein Diakon im Zivilleben ist. In Dnipropetrowsk und anderen Städten sah ich während des Wahlkampfes, wie er vor jeder Massenkundgebung in die nächstgelegene Kirche zum Beten ging. Nun kommt mir die Idee in den Kopf, dass dieser Stratege, der er nicht aus eigenem Willen geworden ist, diese große Persönlichkeit, die in die Kohorte von Anti-Helden gekommen ist, die den Krieg nicht mögen, vielleicht darüber nachdenkt, dass er Zeit gewinnen muss, wenigstens ein paar Wochen, und dass darin der eigentliche Sinn der Vereinbarungen bestehen wird, die er zu unterzeichnen beabsichtigt, auch wenn er für keine Sekunde Putins Worten vertraut. In der Morgendämmerung kommen wir in Kiew an. Ihm bleiben nur ein paar Stunden bis zum Abflug nach Minsk, wo ihm in der einen oder anderen Form das Treffen mit der Geschichte bevorsteht.
Fotos aus dem persönlichen Archiv von Bernard-Henri Lévy: www.bernard-henri-levy.com
Original auf Französisch: www.parismatch.com; übersetzt von Andrij Topchan; redaktiert von Irina Schlegel