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Photo: Sturz des Lenin-Denkmals in Charkiw am 28. September 2014
von Timothy Snyder
Die Krise der Europäischen Union hat zwei Seiten. Eine ist politisch, über den Mangel an Demokratie in europäischen Institutionen; die andere ist philosophisch, über den Verfall Europas als Quelle und Heim für allgemeine Werte. Die politische Krise kann man in Deutschland und Griechenland beobachten. Wie wir heute beobachten, ist es nie sinnvoll, eine Währungsunion (die Euro-Zone) ohne Fiskalunion (einen wesentlichen gemeinsamen Haushalt) zu erschaffen. Eine Fiskalunion würde mehr europäische Demokratie erfordern, um Steuern und Ausgaben zu legitimieren. Als der Euro gegründet wurde, war die Hoffnung, dass die gemeinsame Währung eine politische Solidarität schaffen könnte, die die europäische Demokratie fördern würde; dies ist einfach nicht geschehen. Die griechische Krise hat sich zu einem Zusammenstoß von mehreren europäischen Demokratien entwickelt, in dem sich der Schwache dem Starken beugen muss. Die Griechen bekommen nicht die Politik, die sie gewählt haben; andererseits hätten die Deutschen und andere Europäer nicht für eine Rettung Griechenlands gestimmt, hätten sie die Chance dazu gehabt. Ohne einen europäischen Haushalt sind Krisen dieser Art unvermeidlich; ohne die europäische Demokratie fehlt allen Lösungen die politische Legitimation.
Die philosophische Krise sieht man in Russland und den östlichen Grenzgebieten der Ukraine. Die Ukrainer haben im Jahr 2013 während ihrer Revolution ein starkes Engagement für die Idee der europäischen Integration gezeigt. Aus der Perspektive derer, die ihr Leben auf dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, der das Zentrum des Aufstands war, riskierten, war die Zusammenarbeit mit Europa essentiell für die ukrainische Zivilgesellschaft, um in der Lage zu sein, den korrupten ukrainischen Staat flicken zu können. Andererseits ist das Wesen und das eindeutige Ziel von Russlands Krieg gegen die Ukraine die Zerstörung der Europäischen Union als ein allgemeines Projekt, dem die Ukraine beitreten könnte. An seiner Stelle will Moskau einen Rivalen der EU etablieren, bekannt als die Eurasische Union. Anstatt der allgemeinen Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Staaten und der Rechte der Bürger beinhaltet das Eurasische Projekt eine Hegemonie der Gebiete, die die russischen Führer als ihr historisches Eigen betrachten, so wie die Ukraine. Dessen moralische Prämisse ist, dass die Mitglieder der Europäischen Union die traditionelle europäische Kultur (gemeint ist religiöser, sexueller und politischer Exklusivismus) für eine „Dekadenz“ verlassen haben und nur Russland wahre Zivilisation darstellt.
Doch die russischen Bemühungen, den ukrainischen Staat durch militärische Besetzung und eurasische Propaganda zu brechen, sind, zumindest bisher, nicht gelungen. Nur sehr wenige Menschen in Europa würden tatsächlich lieber das russische Modell, dass man auf der Krim und im Donbass beobachten kann, vorziehen – Millionen von Flüchtlingen, eine tote Wirtschaft, alltägliche Gewalt, Tausende von Toten und allgemeine Gesetzlosigkeit. Andererseits, da eine große Anzahl von Ukrainern bereit war, Risiken einzugehen, zu leiden und im Namen Europas zu sterben – sogar während die EU selbst eine tiefe Identitätskrise erleidet – ist die Frage berechtigt, was sie denken, worauf sie zuarbeiten.
Geistesgeschichtlich gesehen, ist die Begegnung von russischer Disintegration und europäischer Integration etwas, das den Ukrainern ganz vertraut ist. Die ukrainische Stadt Charkiw, weniger als 20 Meilen von der russischen Grenze entfernt, war die Heimat von einem der Denker, der versuchte diesem langen Prozess eine Perspektive zu geben. Für George Schewelow (1908-2002), einen der großen Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts und Professor in Columbia und Harvard, war die ganze Geschichte der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland eine zwischen riskantem (ukrainischem) Universalismus und leistungsstarkem (russischem) Provinzialismus. Seine Essays, die 2013 auf Ukrainisch veröffentlicht wurden, bieten einen erlernten Führer für diese standhaltige Perspektive.
Im frühen achtzehnten Jahrhundert, in einer Zeit, als Religion als das Wesen der Kultur gesehen wurde, glaubten ukrainische Kirchenmänner, dass sie allgemeines Christentum ins russische Reich bringen. Aus der Perspektive von Kiew war das Christentum ein Glaube, der durch mehrere Krisen erprobt worden war, und das orthodoxe Christentum die richtige historische Verfeinerung. In Kiew war das orthodoxe Christentum universell in der Hinsicht, dass seine Denker Männer von breiter Kultur waren, und in der Hinsicht, dass sie glaubten, ihr Verständnis von Religion könnte erweitert werden, zum Beispiel nach Moskau. Die orthodoxe Kirche in der Ukraine hatte eine Tradition der barocken Ausbildung in Latein und Polnisch; ihre Kirchenmänner waren sich aller religiöser Kontroversen bewusst, die Europa während der Zeit der Reformation und Gegenreformation zerrissen hatten. Das Russland der damaligen Zeit hatte keine solchen Institutionen, Traditionen oder Kontakte. Moskau akzeptierte die Leistungen der Kirchenmänner, aber kehrte ihre Botschaft um: die orthodoxe Kirche würde als authentisch gesehen werden, nicht weil sie eine transzendentale Alternative zu säkularen Staaten darstellte, aber insoweit, dass sie Russlands politische Macht steigerte. Es ist kein Zufall, dass die russisch-orthodoxe Kirche heute ein starker Befürworter des russischen Militarismus ist.
Die nächste große Begegnung zwischen universellen und provinziellen Werten in der Ukraine und in Russland und ihren Grenzgebieten kam mit dem Aufstieg des Kommunismus im frühen 20. Jahrhundert. In Charkiw erlebte Schewelow den Versuch, den Kommunismus in eine Art globalen Projekts der Aufklärung der Völker zu verwandeln und wurde durch ihn geformt. Als die Sowjetunion gegründet wurde, war die Ukraine ihre zweitwichtigste Republik (nach Russland), und Charkiw war die erste Hauptstadt der sowjetischen Ukraine. Inspiriert durch die Schaffung der Sowjetunion als eine Vereinigung nationaler Republiken und unterstützt durch die frühe sowjetische Politik der positiven Diskriminierung nichtrussischer Nationen, nahmen viele ukrainische Kommunisten den internationalen Charakter der Revolution ernst und glaubten, dass alle Nationen jetzt Veränderungen in Gesellschaft und Kultur vollziehen würden, wenn sie sich in Richtung Sozialismus entwickeln werden. Wie sie die Dinge betrachteten, war die Ukraine eine der unzähligen Nationen, die diese Revolution durch Formung einer modernistischen Kunst und Literatur herbeiführen würde, die dem neuen sozialistischen Zeitalter angemessen sein würde.
In den 1920er Jahren gründeten ukrainische Kommunisten unter der Leitung des ukrainischen proletarischen Schriftstellers und Dichters Mykola Khvylovy eine beispielhafte Reihe von Kulturinstitutionen, um experimentelle Kultur zu fördern. Hauptidee Khvylovy als Kritiker und Unterstützer der neuen Literatur war, dass die Ukraine einen Sprung zu etwas machen könnte, was er als „psychologisches Europa“ bezeichnete, mithilfe einer neuen ukrainischen Hochkultur, die furchtlose Meditation über die Zwangslagen des modernen Lebens bot. Mit „Europa“ meinte er die Umarmung Europas, aber auch den Versuch, seine Genres zu überschreiten. Er sah dies als die angemessene Aufgabe der ukrainischen und russischen Literatur, getrennt voneinander, und lehnte die Idee ab, dass die russische Kultur Formen jenseits der europäischen habe und dass sie die ukrainischen Schriftsteller führen sollte. Einige der besten Romane der Zeit, wie „The City“ von Valerian Pidmohylny, handeln von der Erfahrung des Sozialismus in den großen Städten der Ukraine. Khvylovy selbst beschrieb das Leben in Charkiw in einer Weise, die schwer als romantisch erfahren werden kann: „In einer weit entfernten Kirche brennt Feuer und bildet ein Gedicht. Ich schweige. Maria ist still. “
Aber dann, wie Schewelow es sah, kam Joseph Stalin und eine neue Ideologie des russischen Provinzialismus. Der sowjetische Sozialismus war nicht mehr ein universelles Projekt, das durch Nationen, die eine neue europäische Kultur gründen wollten, beginnen konnte, sondern eine stark zentralisierte wirtschaftliche Transformation, aus Moskau gesteuert, für deren Fehler man Satellitenstaaten verantwortlich machen konnte, vor allen anderen die Ukraine. Die Kollektivierung der Landwirtschaft, im Jahr 1930 mit vollem Ernst begonnen, sollte die agrarische Bevölkerung von Ländern wie der Ukraine in eine moderne proletarische Gesellschaft umwandeln. Ihres Landes und seiner Früchte durch Kollektivierung und Requisitionen beraubt, hungerten die Bauern in der sowjetischen Ukraine und schickten ihre Kinder in die Städte, um zu betteln. Von der Polizei in Charkiw wurde Anfang 1933 erwartet, dass sie täglich zweitausend hungrige Kinder von den Straßen entfernen. Khvylovy und die anderen ukrainischen Schriftsteller sahen das mit eigenen Augen.
Stalin machte für die Ausfälle der Kollektivierung den ukrainischen Nationalismus verantwortlich und bestrafte die Führer der neuen ukrainischen Avantgarde. Im März 1933 tötete sich Khvylovy. Im Jahr 1934 wurde die Hauptstadt der sowjetischen Ukraine nach Kiew verlegt. 1937 und 1938 wurde Charkiw zu einem der Zentren von Stalins Großem Terror. Eine ganze Generation von Künstlern und Schriftstellern (einschließlich des Novelists Pidmohylnyi) wurde vom NKWD ermordet. Nachdem die Sowjetunion 1939 Polen überfiel, wurden polnische Häftlinge nach Charkiw transportiert, um erschossen zu werden. Die Idee des Kommunismus als einer internationalen Befreiung allerorts wurde durch die stalinistische Eitelkeit ersetzt, dass der Kommunismus ein spezifisches System der politischen Kontrolle – gesteuert aus Moskau – ist.
Aus dieser Perspektive ist es leichter zu sehen, wie viele Ukrainer heute ihre eigene jüngste Revolution 2013 und 2014 verstehen. Für die Ukrainer ist das Versprechen Europas nicht nur ein gemeinsamer Markt für ukrainische Waren und ein Ansporn für politische Reformen; es fungiert auch als Idee von gegenseitiger Anerkennung europäischer Staaten und Zivilgesellschaften, die die Ukraine aus dem Schatten des russischen Provinzialismus bringen könnte. Aber die Revolution war – obwohl ihre Aktivisten aus dem ganzen Land kamen – auf dem Maidan in Kiew konzentriert.
In den Nachkriegsjahrzehnten war die sowjetische Hauptstadt Kiew; in den postsowjetischen Jahrzehnten hat sich Kiew zu einer stolzen europäischen Metropole entwickelt. In der östlichen Stadt Charkiw, wo die Sowjetisierung nach 1930 Provinzialisierung bedeutete, ist die Atmosphäre deutlich postkolonialer. Während der Revolution waren die Meinungen in Charkiw sehr gespalten, mit einer großen Anzahl von Menschen, die sich einem „Anti-Maidan“ gegen die pro-europäische Bewegung anschlossen. Dies war eine Begegnung zwischen gewalttätigen und gewaltfreien Methoden des Protests, da sich der Anti-Maidan darauf spezialisierte, seine politischen Gegner zu schlagen und zu demütigen. Serhiy Schadan, Charkiw bekanntestem Dichter und Schriftsteller, wurde von den Anti-Europäern Anfang 2014 der Schädel gebrochen. Nach dem Sieg des Maidan und der darauffolgenden russischen Invasion im Frühjahr 2014, veränderte sich der Ton in Charkiw etwas. Die Lenin-Statue wurde schließlich im September 2014 gestürzt. Ein Schild verkündet, dass der Sockel, auf dem sie stand „im Bau befindlich“ ist, obwohl kein tatsächlicher Bau im Gange ist. (Die Art von Bau, der gemeint ist, ist vielleicht einer der kulturellen oder politischen Vielfalt). Die Politiker in Charkiw stellten sich allgemein gegen den Maidan, aber als die Zeit gekommen war, doch gegen den Separatismus und die russische Invasion. Auf den Straßen rekrutieren rechtsgerichtete Paramilitärs für die Verteidigung der Ukraine gegen Russland, obwohl die landläufige Meinung unsicher darüber ist, wie man über den Krieg denken solle. Im Februar marschierten die Bewohner von Charkiw, um den Jahrestag des Maidan zu feiern; jemand legte eine Bombe auf ihrem Weg, vier Menschen wurden getötet. Die Stadtbusse sind mit blau und gelb bemalt – den Nationalfarben, und mit der hoffnungsvollen Botschaft beschriftet – „Ein Land“, sowohl in Ukrainisch als auch Russisch geschrieben. Die jüngsten Bemühungen, Schewelow selbst zu gedenken haben die Teilung gezeigt. Eine Gedenktafel, die in Charkiw montiert wurde, um an sein Leben zu erinnern, wurde prompt von Menschen zerstört, die behaupten, dass sie Charkiw gegen den „Faschismus“ verteidigen.
Einer der Menschen, der versucht hat, die Erinnerung an Schewelow nach Charkiw zurückzubringen war Schadan, der Dichter, der im vergangenen Jahr angegriffen wurde. Das Thema, für das er am besten bekannt ist, ist die Erfahrung des postsowjetischen Lebens in großen Städten. In einer großen Prosasammlung „Hymnen der Demokratischen Jugend“, ein paar Jahre vor dem Maidan veröffentlicht, schildert er die Anfänge des jüngsten Charkiw, des postsowjetischen. Die erste Geschichte in der Sammlung, „Der Besitzer des besten homosexuellen Clubs“, ist wahrscheinlich nicht als Widerstand gegen die offizielle Homophobie der Russischen Föderation oder die antihomosexuellen Gefühle, die immer noch dominant in der Ukraine sind, zu lesen. In seiner Botschaft am Ende geht es weniger um die Besonderheiten der homosexuellen Erfahrung in Charkiw oder um die Tragikomödie derer, die versuchen daraus Geld zu machen, sondern um das Wesen der Liebe. Am Ende erfahren wir, dass die Hauptfigur, der Manager des besten homosexuellen Clubs und ein ehemaliger Straßenvollstrecker, insgeheim glaubt, dass Homosexuelle diejenigen sein müssen, die Sex wirklich verstehen. Letztendlich stellt sich heraus, dass sogar das nicht so einfach ist. Die Geschichte sublimiert die Besonderheiten des provinziellen postsowjetischen Charkiw in einer universellen Frage, ob die Liebe zwischen zwei Menschen eine Reaktion auf die überwältigende Verfremdung einer Gesellschaft in einem tief greifenden Wandel sein kann. Dies ist ein ernsthafter Zug, der schnell und geschickt vor einem komischen Hintergrund ausgeführt wird, sodass der Leser mehr will.
Damals in Charkiw der 1920er Jahre schrieb auch der kommunistische Führer Khvylovy über die Schwierigkeiten der Leidenschaft in der modernen Stadt neben vielen anderen Themen, die als Teil der neuen universalistischen Zukunft gedacht waren. Es mag auf den ersten Blick so wirken, obwohl die Schlussfolgerung zu einfach wäre, als ob Schadan, der 1974 geboren wurde, einfach eine Chronik des Niedergangs von Khvylovy’s Stadt und ihrer Mission verfasst hätte. Wonach Schadan tatsächlich zu streben scheint – und hier ist seine Bereitschaft, sein Leben für Europa zu riskieren ein Anhaltspunkt – ist das, was Khvylovy „psychologisches Europa“ nannte: die Akzeptanz von Konventionen, die Arbeit, sie zu überwinden, und die absolute Unverzichtbarkeit von Freiheit und Würde bei diesem Bestreben. Die Schläger brachen seinen Schädel, weil er sich weigerte, sich zu beugen. Schadans jüngste Arbeit, eine Gedichtsammlung, die in diesem Jahr unter dem Titel „Leben der Maria“ veröffentlicht wurde, ist ein Buch über den Krieg der Ukraine und über Schadans eigenes Überleben: „Du siehst, ich habe es erlebt, ich habe zwei Herzen / mach etwas aus beiden.“ Doch im Verlauf des Buchs werden die Meditationen zunehmend religiös, die Gedichte werden oft zu Gesprächen mit Maria selbst. Niemand in der östlichen slawischen Kultur oder irgendwo anders, kombiniert die Persönlichkeiten des Autors als harter Kerl und heiliger Narr, so wie Schadan es tut. Er rappt Hymnen.
An manchen Stellen in „Leben der Maria“, klingt Schadan wie Czeslaw Milosz, der polnische Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, der auch nach Europa strebte, sowohl durch sein lokales, als auch durch das Universale: „Ich wollte allem einen Namen geben.“ Miłosz war der herausragende Dichter eines Grenzlands, nördlich von Charkiw, war mehr litauisch-weißrussisch-polnisch (und jüdisch) als ukrainisch-russisch (und jüdisch). Seine Einstellung, womöglich gar nicht so anders als Schadans, war, dass Europa am besten an den Rändern zu erkennen ist, dass Unsicherheit und Risiko substantieller als Gemeinplätze und Gewissheit sind. Und in der Tat, der letzte Abschnitt von „Leben der Maria“ ist Schadans Übersetzungen von Miłosz gewidmet. Schadan beginnt mit zwei von Miłosz‘ Gedichten, „Ein Lied auf das Ende der Welt“ und „Ein armer christlicher Blick auf die Ghettos“, die die direktesten Fragen über das stellen, was die Europäer während des zwanzigsten Jahrhunderts getan haben und was sie vielleicht stattdessen tun könnten oder sollten. Das zweite Gedicht kommuniziert den Schmerz und die Schwierigkeit bei dem Versuch, den Holocaust wirklich zu sehen und aus ihm zu lernen, was eine zentrale Idee des europäischen Projekts war, oder zumindest einmal war. Das erste überträgt fast forsch, sicherlich unheimlich, wie sich eine europäische Katastrophe anfühlen könnte. Es kommt zu dem Schluss: „Niemand glaubt, dass es bereits begonnen hat / Nur ein runzliger alter Mann, der einmal ein Prophet gewesen sein könnte / Aber kein Prophet ist, weil er andere Dinge zu tun hat / Schaut auf, als er seine Tomaten bindet und sagt / Es wird kein anderes Ende der Welt geben. Es wird kein anderes Ende der Welt geben.“
Wo Miłosz auf Polnisch schrieb, dass der alte Mann andere Dinge zu tun habe, schreibt Schadan auf Ukrainisch, dass es bereits so viele Propheten da sind. Vielleicht. Pro-europäische Ukrainer ergreifen eine Chance, sie verlangen keine Zukunft. Sie beobachten auch die griechische Krise, und ihre Einstellung ist oft vernichtender als westliche Kritiker der EU es je vermögen könnten. Der Punkt ist dann nicht Sicherheit, sondern die Möglichkeit. Schadan könnte auch für eine Idee von Europa gestorben sein; andere Ukrainer sind es bereits. Doch die Risiken, die er eingegangen ist, sowohl physisch als auch literarisch, sind nicht im Dienst einer bestimmten Politik. Viele seiner Essays und Gedichte handeln von dem Versuch, Menschen, mit denen er nicht einverstanden ist, zu verstehen. Er ist ein ausgesprochener Kritiker der eigenen Regierung. Wie Miłosz, der Europa als „familiär“ bezeichnete, oder wie Khvylovy, der Europa als „psychologisch“ bezeichnete, geht Schadan einem Experiment und Aufklärung nach, einem Gefühl von „Europa“, das eher nach einem Engagement für die unreparierbare Vergangenheit verlangt, als nach einer Produktion und dem Konsum von hystorischen Mythen. „Freiheit“, schreibt Schadan in „Leben der Maria“, „besteht darin, freiwillig in die Konzentrationslager zurückzukehren.“
Niemand kann wissen, wohin diese Vision von Europa führen kann; das ist, in einem Sinn, der Punkt. Aber wir wissen, dass damit Europa als solches existieren kann, es auch in breiteren Institutionen existieren muss. Viele Ukrainer verstehen das, und darum war ihre Revolution um Europa selbst. Diese Institutionen müssen verbessert werden, was der Grund dafür ist, dass wir alle über Griechenland reden. Europa kann in Griechenland und der Ukraine scheitern, weshalb die russischen Medien in diesen Wochen voll von verfrühten festlichen Visionen einer zusammengebrochen Europäischen Union sind. Die zugrunde liegende Botschaft der russischen Propaganda ist, dass die Arbeit für Europa, ob in der Europäischen Union oder darüber hinaus, nicht sinnvoll ist, da Demokratie und Freiheit nichts anderes sind, als die Heuchelei der dem Untergang Geweihten, und die Geschichte bietet keine anderen Lektionen als die der Macht. Der russische Nihilismus jubelt über den europäischen Narzissmus.
Die Europäische Union wird ohne Zweifel die beiden Krisen überleben, zumindest für eine Zeit, aber in keiner der beiden hat es eine Antwort auf seine existentiellen und demokratischen Probleme geboten. Die Ukraine verdient Hilfe, wird aber weitgehend ignoriert, weil sie nicht ein Mitglied der Europäischen Union ist; die griechische Forderung für eine institutionelle Reform bleibt unbeachtet. Wo europäische Politiker kämpfen, um zu definieren, was Europa ist, ist es sinnvoll, zumindest ist es ermutigender, die düsteren Universalisten von Charkiw zu lesen, als den schadenfrohen Provinziellen von Moskau zuzuschauen.
Quelle: Timothy Synder in nybooks.com; übersetzt von Oleg Morosow; redaktiert von Irina Schlegel.
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