
von Vitaly Portnikov
Vor 60 Jahren hielt Nikita Chruschtschow von der Tribune des XX. Parteitags der KPdSU in der klingenden Stille des verschreckten Saals den Vortrag „Über den Personenkult und seine Folgen“. Die Geschichte, die bis zu diesem einen Tag die grimmigen Einwohner eines riesigen GULAG mit den trüben Augen eines pockennarbigen Ehrgeizlings anschaute, hat plötzlich eine scharfe Wendung gemacht.
Ab diesem Tag haben die Einwohner faktisch täglich auf die Wahrheit treffen müssen, auf ganz gewöhnliche Wahrheit. Dass Schalamow und Solschenizyn, „Feinde des Volkes“, gar keine Feinde sind. Die Wahrheit über die ersten, ruhmlosen und grauenhaften Monate des Krieges, Folter, Erschießungen auf Befehl der Troika. Und der wichtigste Satz, der wie eine Fahne über die Millionen von Lügnern, Verblendeten, Nicht-wissen-Wollenden und Vor-Angst-Paralysierten emporschwebte: „Wir haben doch nichts gewusst“.
Das war eine Lüge, eine ganz gewöhnliche sowjetische Lüge. Es wussten alle und über alles Bescheid. Unter den Wissenden waren nicht nur Parteimitglieder und kaputte Intelligente. Im Kriegstagebuch meiner Tante, einer gewöhnlichen Studentin aus der Provinz, entdeckte ich einen Satz über 1937, „als die besten Vertreter unseres Landes vernichtet wurden“. Draußen war 1942. Kann ich denn glauben, dass die Tante, die von ihrer Parteischwester von den Einzelheiten des Chruschtschow-Berichts erfuhr, schwer erstaunt war? Kann ich mir vorstellen, dass all die Menschen in ihrer Umgebung, die die Festnahmen und den Tod ihrer Verwandten, Freunde und Nachbarn überlebt haben, nicht verstanden hatten, was um sie herum geschah?
Haben sie. Nur fanden sie, dass das unvermeidlich sei. Im von den Bolschewiken eroberten Land war genau das die Hauptregel des Lebens – alles für unvermeidlich zu halten, was die irre, vom Blut und Eiter übergeschnappte Macht tut. Ihr Schrecken 1956 entstand nicht daraus, dass ihnen etwas erzählt wurde, was sie nicht wussten, sondern daraus, dass der neue Herrscher sie dazu zwang, all das, was sie für alltäglich und unvermeidlich hielten, als einen Alptraum anzuerkennen.
Sie befanden sich nicht lange in diesem Schockzustand. Jene, die alles wussten, durchblickten und sich schämten, haben durch Schlitze der Wahrheit wenigstens hineinsehen und diejenigen umarmen können, die überlebt hatten. Jene, die schon immer vor der Parteilokomotive liefen, stürzten sich um die Wette darauf, den krepierten Führer und seinen Personenkult zu bezichtigen. Darum war auch niemand verwundert, als fünf Jahre später die Leiche Stalins aus dem Mausoleum hinausgeholt und nebst Dserschynski, Swerdlow und anderen Werwölfen beerdigt wurde. Und die Mehrheit, die berühmte aggressiv-hörige Mehrheit, duckte sich währenddessen in der Hoffnung, dass auch dies vorbeigeht, dass das Herrenvolk wieder zu sich kommt und sich daran erinnert, wieviel Gutes der „Rote Imperator“ für das Land gemacht hatte, der Baumeister und Sieger.
Es schien, als ob es unmöglich sei, jemals wieder in solch eine ferne Vergangenheit zurückzukommen. Sogar der stalinistische Politführer Breschnew blieb auf dem halben Weg stehen und beauftragte den Genossen Syslow damit, sich eine unsterbliche Formel über die negative Seite auszudenken, die in der Tätigkeit des Genossen Stalin vorhanden war. Selbstverständlich, nebst der positiven.
Und dann überschlug sich alles, drehte durch: endlose kremlische Beerdigungen, Perestroika, die Rückkehr der 1960-ler, der Fernsehbildschirm überfüllt mit Wahrheit darüber, was zu Stalinzeiten gewesen war, Bücher von offenen Feinden des Regimes, der Solowezki-Stein, die GULAG-Museen…
Und die aggressiv-hörige Mehrheit wartete einfach darauf, dass dieser ganze Unfug irgendwann vorbei geht. Und endlich hat sie es bekommen.
Heute, zum 60. Jahrestag des Vortrags von Chruschtschow veröffentlicht der Junge aus dem Kreml-Pool, der dem modernen Halbstalin mit dem I-Phone hinterherrennt, in der populärsten Zeitung des Landes einen kleinen Artikel unter der Schlagzeile „Chruschtschow wälzte alle Repressionen auf Stalin ab, damit er selbst nicht entlarvt wird“. Und all das große Drama der Entlarvung von Stalinismus läuft dabei auf einen gewöhnlichen Nomenklatura-Kampf aus, auf ein Tauziehen zwischen Chruschtschow, Malenkow und Beria. Und natürlich wurde 1956 die „poststalinistische Perestroika“ beendet und es begann der Voluntarismus Chruschtschows.
Diesen ganzen Quatsch habe ich seit den Breschnew-Zeiten im Kopf, als der Satz „Es gab einen Kult, aber die Persönlichkeit gab es auch“ im Bewusstsein meiner damaligen Landsleute das übliche „Wir-wussten-doch-nichts“ ersetzte. Den Menschen wurde wieder angewöhnt, dass eine Übeltat groß sein kann, und derjenige, der sich daran vergreift, nur dazu fähig ist, Mais im hohen Norden zu züchten. „Chruschtschow blieb in der Erinnerung des Landes mit einigen Alltagsdetails: Mais, Witze, Jagd“, steht unter dem Bild des 1. Sekretärs in ebenjener Zeitung, die offensichtlich im Stande ist, die Satelliten und Gagarin zu vergessen, temporär zumindest.
Und es ist doch klar, warum all das geschieht: Weil all diese Jungs aus den Pools, all diese Historiker und Redakteure sich selbst davon überzeugen möchten, dass sie wieder in einer Welt der Großen Übeltat leben, die die Augen im Fernsehen rollt und blutige Böden sammelt. Und später, in ein paar Jahren, wird ein Junge aus ebendiesem Pool als Erster schreiben: „Wir-wussten-doch-nichts“, wenn ein neuer Präsident einen neuen Vortrag im Sicherheitsrat halten wird. Und dann werden alle herumlaufen und den Kopf schütteln: Wer hätte das gedacht? Die Boeing abgeschossen? Chodorkowski eingesperrt? Unsere Streitkräfte waren im Donbass? Krankenhäuser in Syrien zerbombt? Und das auch noch gestohlen? Und die Krim – verfassungswidrig? Und Nemzow auch?
WirWusstenDochNichts.
Wobei, man sollte sich nicht all zu viele Sorgen machen. Die aggressiv-hörige Mehrheit wird nirgendwohin verschwinden: Sie wird im Gedächtnis behalten, dass es zwar einen Kult, aber doch auch eine Persönlichkeit gab, und wird auf ihre Stunde warten und sie eines Tages bekommen. Der Junge, der in derselben Zeitung den Artikel „Medwedew wälzte alle Repressionen auf Putin ab, damit er selbst nicht entlarvt wird“ schreiben wird, bereitet sich gerade auf Aufnahmeprüfungen für die Fakultät Journalistik vor.
Vitaly Portnikov, übersetzt von Irina Schlegel
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