
Die Angst zu sterben. Sie wird durch den Selbsterhaltungstrieb ersetzt, wenn du dich in einen rennenden, kriechenden, in ein Rettungserdloch untertauchenden automatischen Organismus verwandelst, der seine Arme, Beine, Eingeweide, Gehirn schont… Die Angst erzeugt eine rationale Handlung, einen Überlebensalgorithmus, eine Bewegungsrichtung… Wenn gekämpft wird oder du beschossen wirst, denkst du nicht über die Angst nach – du handelst. Wenn du dich schlafen legst, ziehst du deine Schuhe nicht aus, und machst deinen Schlafsack nicht bis zum Ende zu. Und immer weißt du genau, wohin man im Falle eines Beschusses laufen kann. Du weißt es einfach – siehst es mit deinem peripheren Sehen, spürst es mit deinem Rückenmark.
Die Angst, leidend zu sterben, verstümmelt zu werden, zu einem Invaliden zu werden. Sie kommt im Schlaf, wenn du zurück zuhause bist und den Schlafsack vorläufig gegen ein warmes ziviles Bett austauschst und mitten in der Nacht aufwachst, mit zitternden Händen deine Eingeweide zusammenhaltend, die in den dreckigen Sand herausfallen… Wenn du nicht aufstehen, keinen Finger rühren und auch nicht um letzte Gnade bitten kannst, zur lebenslangen Qual von einer verirrten Kugel verdammt, die deine Wirbelsäule zerschlagen hat…
Die Angst, in Gefangenschaft zu geraten. Diese wird mit einer RGD-5-Granate geheilt, die in der Brusttasche deiner Camouflagejacke versteckt ist. Du machst rechtzeitig die Telefone aus, änderst unerwartet deine Fahrroute, du fährst sehr schnell und vertraust nie der offiziellen Karte der ATO-Grenzzonen. Du vertraust niemandem.
Echte Angst. Sie fängt nachts auf dem Weg nach Krasnohoriwka an. Der Weg verläuft entlang der Front, geht in vielen Schleifen, sich der direkten Schützenwaffenschussweite mal annähernd, mal auf den Abstand eines effektiven Mörserbeschusses entfernend. Ringsherum ist Dunkelheit, die das dürftige Licht der Autoscheinwerfer nur ein wenig zur Seite rückt. Unweit flackern die raren Lichter von Donezk. Der Finger liegt am Abzug…
Die noch vor kurzem 16-tausendköpfige Stadt ist tot – es leuchten keine Fenster in den grauen Häuserschachteln, durch Haubitzengeschosse komplett zerschossen. Drumherum sind Glassplitter, Ziegelsteine, Bodentrichter, in Fetzen zerrissenes Metall… Minen und Geschosse kommen ununterbrochen angeflogen. Nachts haben die separatistischen Grade „abgearbeitet“: Zwei Salven haben ein Hochhaus zerstört und die Fenster in den anderen eingeschlagen, die drumherum stehen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne verlieren sich in leeren Öffnungen der Fensterrahmen. Eine Geisterstadt aus einem Hollywoodblockbuster über eine bevorstehende Götterdämmerung… Morgens kommen Hunde in die Ruinen – zu ihrem bereits traditionellen Frühstück.
Zurückgebliebene Einwohner – sie sind sehr wenige – bewegen sich argwöhnisch von Haus zu Haus, von Keller zu Keller, jederzeit bereit, sich unter der Erde zu verstecken.
Frontlinie… Und plötzlich tauchen in diesem Grauen, zwischen all dieser Zerstörung, Minenfeldern, Abspanndrähten und Blindgängern drei Kinder auf: zwei Jungs und ein Mädchen, so um die sieben Jahr alt, und ein Fahrrad. In einer bunten, grellen Kinderkleidung. Es scheint, als ob es normale sorglose Kinder wären, wie man sie in Kyjiw, Charkiw oder Dnipro treffen könnte. Aber sie sind anders. Ernst, vorsichtig, erwachsen… Ihre Nahestehenden verloren, der Liebe beraubt. Der Kindheit beraubt. Schauen Sie doch in ihre Augen. Darin ist das Grausamste, was in diesem Krieg gibt.
Quelle: Juri Kasjanow; übersetzt von Irina Schlegel.