
von Andrei Illarionow
Anmerkung der InformNapalmRedaktion: Andrei Illarionow analysiert hier den Dokumentarfilm „Krim. Der Weg in die Heimat“, der am 15. März 2015 im russischen TV-Kanal „Rossija-1“ ausgestrahlt wurde.
Was hat Putin uns erzählt?
Den zentralen Platz im Film nahm die Erzählung Putins darüber ein, wie er die Okkupation und Annexion der Krim persönlich leitete. Da der Trailer zum Film bereits einige Tage zuvor gezeigt wurde, war die Hauptidee der Erzählung von Putin bereits gut bekannt. Was kann man dem hinzufügen?
Zuallererst- die Einzelheiten. Über manche davon war es mehr oder weniger auch früher schon bekannt. Über andere konnte man nur Vermutungen anstellen. Die dritten Einzelheiten sind aber erst jetzt im öffentlichen Raum aufgetaucht. Nun ist das Bild der Einnahme der ukrainischen Halbinsel, dass detailliert von seinem Hauptorganisator kommentiert wurde, weitaus umfassender. Hier gibt es alle Elemente aus dem Arsenal des militärischen Überfalls auf einen unabhängigen Staat, die unter die Definition des schwersten internationalen Verbrechens fallen- der Aggression: Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine; Verletzung ihrer Luft-, See- und Landesgrenzen; Invasion der russischen Streitkräfte, darunter auch der Gruppen der Spezialeinheiten des GRU, der Luftlandetruppen-Unterabteilungen, der Marineinfanterie, unter anderem, nach einem direkten Geständnis von Putin, „unter dem Deckmantel der Verstärkung“ von Truppen, die nach dem Vertrag mit der Ukraine auf ihrem Territorium stationiert waren; das Einschleusen der Truppen von Terski und Kubanski- Kosakenarmeen; die Einnahme der Gebäuden des Parlaments, der Regierung der Autonomen Republik Krim und des Flughafens in Simferopol durch russische Streitkräfte; der Überfall auf die ukrainischen militärischen Stützpunkte; Verhinderung der Schiffsbewegung der Seekräfte der Ukraine; Erpressung, Bestechung, Drohungen, Kidnapping der ukrainischen Offiziere; Störung der Kommunikationssysteme der ukrainischen Streitkräfte; Überfälle auf die ukrainischen Bürger, die keine ukrainischen Militärs waren; einmalige Komplexität und Abstimmung der realisierten Operation zur Einnahme der Krim usw.
Somit hat sich der Aktenteil für das zukünftige Tribunal über die Organisatoren und Ausführer der Aggression gegen die Ukraine mit wichtigen Materialien gefüllt.
Was haben Putin und die Erschaffer des Films erfunden?
Neben der Information, die man ihrem Charakter nach als bedingungslose Aussagen für das zukünftige Tribunal wahrnehmen kann, enthält der Film auch Erklärungen, die keinerlei Bestätigungen aus anderen Quellen haben, und zum jetzigen Zeitpunkt als eine offensichtliche Desinformation aussehen. Im besonderen kann man dazu folgende Behauptungen hinzuzählen:
8’00: „Auf Janukowitschs Ehrengeleit wurde geschossen“.
1’20“, 9’40“: „Auf Janukowitsch wartete ein Hinterhalt mit grosskalibrigen Maschinengewehren. Es wurde geplant, Janukowitsch zu liquidieren“.
16’05“: „Der Busfahrer wurde erschossen…“
17’10“: „Da lagen 6 erschossene Menschen. Den siebten- den Fahrer- hat man daneben gelegt“.
20’40“: „Das Korsunski Gemetzel nahm Leben von 7 Menschen mit. Über 20 Menschen sind verschwunden“.
21’25“: „Kiew setzte Simferopol ein Ultimatum: das Lenin-Denkmal niederzureissen“.
29’10“: „Wir haben sehr gut gewusst- wir waren uns nicht einfach nur bewusst, sondern wir wussten es- dass die realen Strippenzieher unsere amerikanischen Partner-Freunde waren. Genau sie haben geholfen, Nationalisten vorzubereiten, Kampftruppen im Westen der Ukraine aufzustellen. Auch in Polen wurde eine Vorbereitung durchgeführt, teilweise auch in Litauen. Wie haben unsere Partner sich verhalten? Sie haben zu einem Putsch beigetragen, haben also vom Standpunkt der Macht aus agiert.“
50’30“- 55’30“: „Am 27. Februar machte sich auf den Weg nach Krim ein „Freundschaftszug“ mit Banderowyzen, der durch den „Rechten Sektor“ unter der Leitung von Mosijtschuk formiert wurde“.
Die Abwesenheit jeglicher Zeugnisse zu angegebenen Behauptungen erlaubt es, diese als Falsifikationen einzuordnen.
Was die Opfer des sogenannten „Korsunski-Gemetzels“ angeht, so haben sogar die offen antiukrainischen Autoren, die einen Extra-Film zu diesem Ereignis gedreht haben, ganz andere Information angegeben: der Fahrer ist nicht gestorben, sondern wurde verletzt (8’15“, 16’50“). Es gab auch keine bestätigten Toten infolge dieses Zwischenfalls, verschollen sind auch nicht 20 Menschen, sondern 7 (20’00“), die Verschollenen konnten auch aus Chersones oder Mykolajiw sein, und Weiteres über ihr Schicksal fand man auch nicht heraus (20’25“).
Wie hat Putin versucht, sich zu rechtfertigen?
Putin hat versucht, die „Legitimität“ der Machtübernahme durch seine Marionetten zu begründen:
„Also haben sich diese Menschen versammelt, haben abgestimmt und einen neuen Vorsitzenden der Krimer Regierung gewählt – Aksjenow… Und der juristisch gültige Präsident Janukowitsch hat ihn bewilligt. Vom Standpunkt der ukrainischen Gesetzgebung aus ist alles absolut eingehalten worden… Wenn man das alles vom Standpunkt der juristischen Komponente aus anschaut, so ist das hieb- und stichfest.“ ( 1 Stunde 09’00“).
Aber diese Behauptungen entsprechen in keinster Weise der Realität.
Erstens war die Geschichte mit der Bewilligung von Aksjenow durch Janukowitsch vor dem Auftauchen dieses Films am 15. März 2015 absolut unbekannt. Sieht aus, als ob sie komplett post factum erfunden wurde.
Zweitens, am 27. Februar 2014 war Janukowitsch bereits kein gültiger Präsident der Ukraine. Er wurde durch eine Entscheidung von Werchowna Rada der Ukraine am 22. Februar dieses Amtes enthoben, mit Stimmen von 328 Abgeordneten, inklusive der Stimmen von Abgeordneten seiner eigenen „Partei der Regionen“. Ausserdem befand er sich zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr auf dem Territorium der Ukraine.
Drittens, entsprechend dem ukrainischen Recht muss der Premier der Regierung der Krim gar nicht durch den Präsidenten der Ukraine bewilligt werden. Entsprechend dem Artikel 37, Punkt 1 der Verfassung der Autonomen Republik Krim wird der „Vorsitzende des Ministerrates der Autonomen Republik Krim durch die Werchowna Rada der Autonomen Republik Krim nach einer Vorstellung des Vorsitzenden der Werchowna Rada der AR Krim und nach einer Abstimmung mit dem Präsidenten der Ukraine auf seinen Posten befördert wie auch von diesem befreit“.
Mit anderen Worten, für die Einhaltung der ukrainischen Gesetzgebung musste die Kandidatur von Aksjenow bei einer Eintragung ins Parlament gar nicht durch Janukowitsch bewilligt, sondern mit dem stellvertretenden Präsidenten der Ukraine A. Turtschinow abgestimmt werden. Dieses wurde, wie bekannt, nicht gemacht. Somit erfolgte die „Beförderung“ von Aksjenow mit groben Verstössen gegen die Gesetzgebung der Ukraine und AR Krim, und kann darum als nichts anderes wie als eine illegale Einnahme der Macht in der Autonomie, als ein Coup d’Etat qualifiziert werden.
Ferner verdient eine besondere Aufmerksamkeit der Zuschauer die Antwort von S. Aksjenow auf die Frage, ob er schon vorher wusste, dass die Gebäuden der Werchowna Rada und der Regierung der AR Krim durch bewaffnete Menschen eingenommen werden: „Nein, wusste ich nicht. Ich wurde um halb sechs Uhr morgens angerufen und darüber informiert.“ (1 Stunde 08 Min). Zum Vergleich: im Unterschied zur Putins Marionette, die früher niemandem bekannt war und keinerlei Gewicht besass, wusste Konrad Henlein 1938 in Sudeten ganz genau, wann die Wehrmacht-Kolonnen in dieses Gebiet einfallen.
Wozu ist Putin aus sich herausgegangen?
Wie bereits bemerkt, sogar auf dem Hintergrund der vorigen Erklärungen Putins ist seine heutige Offenheit absolut beispiellos.
Es kommt die Frage auf: wozu wurde es gemacht? Mögliche Antworten sehen folgendermassen aus:
Erstens, um erneut (und diesmal auf einer prinzipiell neuen Ebene) seine persönliche Teilnahme an der Besetzung der Krim festzulegen (die Frage darüber wurde mehrmals gestellt und wurde jedesmal bereitwillig bestätigt) und somit seinen eigenen Beitrag zur ideologischen Begründung der Alternativlosigkeit seiner eigenen persönlichen Macht in Russland zu leisten:
„Unser Vorteil besteht darin, dass ich mich damit persönlich beschäftigte… Denn wenn es die Hauptpersonen des Staates machen, können die Ausführer leichter arbeiten.“; „Das ist unmöglich gewesen, dies auf eine Entscheidung von irgendjemandem sonst hin zu machen, ausser auf die Entscheidung des Oberbefehlshabers hin.“
Zweitens, um noch einmal öffentlich über die Bereitschaft zu erklären, Nachbarstaaten von Russland, Europa, die ganze Welt mit der Möglichkeit der Anwendung der russischen Atomwaffen zu erpressen.
Drittens, um den Westen (im besonderen die USA) noch einmal an die vorher gemachten Angebote zur gemeinsamen Mitwirkung an der Bildung des neuen (post-krimer) Systems der internationalen Beziehungen mit einer faktischen Anerkennung der Zone der privilegierten Interessen des Kremls durch den Westen zu erinnern.
Das Kainzeichen
Und schliesslich gibt es noch eine Besonderheit des vorgeführten Films.
In den Annalen der propagandistisch-informativen Firmen kann man wohl schwer ein Beispiel finden, das mit diesem in dem Mass des beispiellosen offenen Zynismus vergleichbar wäre. In der Geschichte der Mehrheit der Weltländer gibt es Episoden, welche man in modernen Gesellschaften mit überflüssig detaillierten Erinnerungen und Diskussionen zu umgehen bevorzugt. Diese misslichen Geschichten hat man nirgendwo und nie lobzupreisen versucht. Sogar in der Geschichte der UdSSR packten die kommunistischen Propagandisten die gegen die Nachbarn geführten Aggressionen in moralisch rechtfertigende Verpackungen wie „Befreiender Feldzug der Roten Armee nach westliches Belarus und westliche Ukraine“ oder „Ausführung der internationalen Verpflichtung gegenüber dem afghanischen Volk“ ein.
Der heutige Film aber zerreisst mit der Tradition des Verschweigens und der Deckung der schwersten Verbrechen mithilfe der propagandistischen Feigenblätter. Er erhebt absolut offenherzig in den Rang eines besonderen Heldentums solche Eigenschaften, die faktisch immer, in allen Gesellschaften, in allen religiösen und rechtlichen Systemen als schwerste Verbrechen, als abscheulichste, grässlichste amoralische Taten verdammt wurden: Lüge, Pharisäertum, Hinterhältigkeit, Niederträchtigkeit, Verrat, Schwurbruch.
Dazu auch noch zu den nächsten Menschen, zu jenen, die man im Laufe der Jahrhunderte nicht grundlos als ein den Russen engstes Volk wahrnahm (und das von vielen noch immer so wahrgenommen wird)- als Brüder. Und dabei wurde ihnen der Dolchstoss in den Rücken in der Minute gegeben, als die Brüder geschwächt waren, als es für sie am schwersten war.
Somit hat die Leitung des jetzigen Regimes die russische Gesellschaft (oder was davon übrig geblieben ist) auf ein prinzipiell neues Qualitätsniveau gebracht. Nun geht es gar nicht mehr um die Liquidation der politischen Rechte russischer Bürger – sie sind längst vernichtet worden.
Nun geht es nicht mal mehr um die Einschränkung ihrer Bürgerrechte – davon ist noch kaum etwas übrig. Nun hat sich das Regime an die Zerstörung in der russischen Gesellschaft der Grundlagen von menschlicher Moral an sich gemacht: an die Vernichtung der absolut grundlegenden, fundamentalen Vorstellungen darüber, was „gut“ und was „schlecht“ sei, an die feierliche Rechtfertigung des kriegerischen Amoralismus, an die grenzenlose Lobpreisung von Kain und seinen „Heldentaten“.
Quelle: Andrei Illarionow in glavpost.com; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “A.Illarionow: Die Lobpreisung des Kains”
03/04/2015
Ukraine: ein europäisches Déjà-vu - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Im russischen Dokumentarfilm über die Krim-Annexion gesteht Putin die begangenen Verbrechen: „Ja, meine Herrschaften, ich habe Sie angelogen! Ja, die Annexion der Krim wurde seit langem vorbereitet. Janukowitsch ist mein Projekt zur Vernichtung der Ukraine. Die Krim wurde von den Streitkräften Russlands besetzt.“ Eigentlich so eine richtige Selbstanzeige beim Haager Kriegsverbrechentribunal. Die Krimer Rede von Putin ist eine wortgetreue Übersetzung der Hitler-Rede zur Annexion von Sudeten. […]