von Andrei Mowtschan
Mein kleines Essay zum Thema der Vorstellungskraft und des Stalin-Regimes stieß auf eine viel grössere Resonanz, als ich erwartet habe.
Meiner Meinung nach hat die russische Gesellschaft die Zeit der stalinistischen Repressionen nicht vergessen und der Grad des Zorns bezüglich Stalin ist relativ hoch. Nichtsdestotrotz existiert in Russland nun die Bedrohung der ideologischen Rehabilitierung des Stalinismus und es gibt Kräfte, die danach streben- womöglich, um die Gesellschaft auf ihren Machtantritt vorzubereiten. Diese Rehabilitierung ist meiner Meinung nach der gefährlichste Prozess, der gerade im Land abläuft- unter Bedingungen der demonstrativen Nichteinmischung der Regierung, die fehlerhaft annimmt, dass sie auf diese Weise breitere Bevölkerungsschichten auf ihre Seite ziehen kann. Und schliesslich, urteilt man nach 95% antistalinistischen und 5% stalinistischen emotionalen Reaktionen meines Publikums, versteht die Gesellschaft die Situation durchaus und eine schleichende „Stalinisierung“ wird es nicht geben.
Um so wichtiger scheint es mir, sich mit dem Satz an Mythen und logischen Fehlern auseinanderzusetzen, die manchmal zufällig, manchmal aber auch absichtlich ins Bewusstsein der Menschen im Zusammenhang mit dieser traurigen Seite der Geschichte Russlands eingepflanzt wurden.
Zuerst möchte ich mich wiederholen und erklären, warum ich dieses Thema überhaupt anspreche. Die Gefahr der „Stalinisierung“ der Gesellschaft auf dem Hintergrund heutiger sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse ist sehr hoch. Russland entspricht allen Standardbedingungen der Entstehung eines totalitären Regimes: die Gesellschaft durchlebt noch immer den „Niederlage-Komplex“ in Verbindung mit dem Zerfall der UdSSR, der Niederlage im Kalten Krieg, der Enttäuschung in Pseudodemokratisierung der 1990er; in Russland begann ein allumfassender wirtschaftlicher Rückgang, der es vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zum Zustand des Anfangs 2000 bringen und es an den Rand der politischen Abhängigkeit von anderen Staaten stellen wird, ohne jegliche Progressperspektiven; die heutige Macht in Russland löst die wachsenden Widersprüche nicht, sondern konserviert diese; sie geht keinen Dialog mit Opponenten ein- und das führt zu einer Verarmung der gesellschaftlichen Farbpalette und der Erlahmung der natürlichen Systeme der gesellschaftlichen Abwehr gegen die Radikalisierung.
Meiner Ansicht nach besteht die Gefahr gar nicht in einer potentiellen Verwandlung der existierenden Staatsmacht in eine totalitär-repressive. Die Rhetorik über den Stalinismus ist für die heutige Macht nur eine Methode neue Anhänger anzulocken und gleichzeitig aber auch in den Augen der Alten günstig auszusehen. Aber das Flirten mit den „Idealen“ eines der unmenschlichsten Regime des 20. Jahrhunderts unter Bedingungen der heutigen totalen Propaganda und des vorhandenen bedeutenden Gesellschaftsteils, der für neue Formen des Konformismus bereit ist, kann zur Entstehung einer inneren Zustimmung zum „Abgang ins Totalitarismus“ bei der Gesellschaft führen, in einem Versuch die Probleme zu lösen, die durch die heutige Staatsmacht nicht gelöst werden.
Die Folge dieser Bereitschaft wird eine Blockierung der gesellschaftlichen Umkehrung zur Demokratie hin im Zuge der Schwächung des existierenden Regimes sein, und das Abfangen der Macht durch die Kräfte, die bereit sind, die Methoden des „Vaters der Völker“ in die Praxis umzusetzen. Die Geschichte kennt genau solche Wendungen; genau so bricht der Totalitarismus meistens zur Macht durch und nimmt die Geister der Nationen ein.
Die erste Frage, die mehrmals gestellt wurde, war gerade über die Rolle Stalins in der Erschaffung und Funktionsfähigkeit des grauenhaftesten Repressionsregimes der Mitte 20. Jahrhunderts. „Hätte Stalin das denn allein machen können?“, „Wer hat denn die 4 Millionen Denunziationen geschrieben?“- fragten mich die Kommentatoren. Das ist eine sehr gute, aber auch schwierige Frage. Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte wird seit Jahrtausenden gestritten, und eine deutliche Antwort gibt es trotzdem nicht. Um so schwieriger kann man darüber in Bezug auf die Situation in Russland- UdSSR der 1920-1950er sprechen: das sozialistische Regime hatte viele Väter, und jeder leistete seinen Beitrag der Unmenschlichkeit. Lenin, der Konzentrationslager propagierte und die Intelligenz und die Geistlichen zu vernichten aufforderte; Trotzki, mit seinen Ideen der Arbeitsarmeen; Anführer des „Roten Terrors“ Dserschinski und viele andere.
Es gibt keine Gewissheit, dass Stalin der Radikalste aus dieser Gruppe war. Andererseits war die Gesellschaft für den Terror bereits zu den 1920er Jahren anscheinend durchaus bereit. Tatsächlich haben sich auch Dutzende Tausende Ausführer und Millionen Denunzianten gefunden; tatsächlich explodierte das Land in einem Bürgerkrieg und die Mitglieder einer Familie töteten sich wegen der Chimären einer Ideologie. Also sollte man „Stalin“ eher als Erscheinung, als eine Persönlichkeit verstehen. Wir sprechen über den Stalinismus, wir verurteilen den Stalinismus, wir kämpfen gegen die Rückkehr des Stalinismus. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Stalin selbst ein Führer dieses Regimes war, und wenn auch die Millionen Opfer ohne seine persönliche Beteiligung gestorben sind, so ist es sicher, dass er den Mord an ihnen abgesegnet hatte. Nach dem Tod Stalins wurden die Repressionen faktisch beendet, das Regime wurde sozusagen fast grasfressend. Dieser Fakt lässt uns keine Illusionen übrig: Stalin (auch wenn nicht nur er allein) war persönlich Schuld daran, was im Land geschah.
Viele Fragen gab es darüber, woher die erzählte Geschichte stammt. Jemand interessierte sich für die Geschichtlichkeit, jemand beschuldigte mich einer Lüge. Die Geschichte wurde von mir natürlich von Anfang bis Ende ausgedacht. Mir war wichtig, in einem Essay das ganze Grauen des repressiven Regimes zusammenzufügen: wie die Abscheulichkeit der aggressiven, implantierten Freude über die Hinrichtungen der angeblich Schuldigen, so auch die unerwartete, gesichtslose und emotionslose Gewalt an unschuldigen Menschen; wie die Infamie, Primitivität der Motivation der Henker, so auch die Leichtigkeit, mit welcher der Mensch zusammenbricht, sich der Angst ergibt und Niederträchtigkeiten nicht nur unter realem Druck begeht, sondern auch aus Angst vor diesem, und sogar einfach nur, weil alle anderen es machen; und auch den Fluch des Kreises, wo Denunzianten zu Opfern ihrer Opfer werden; und die Unerträglichkeit des Überlebens in einer Welt, wo alles, was du nur lieben und respektieren könntest (unter anderem auch deine eigene Ehre) zertrampelt wird, nichts von dir abhängt, du selbst nichts bedeutest.
Nichtsdestotrotz hatte ich kein Recht zu „phantasieren“. In der beschriebenen Geschichte haben sich Ereignisse zusammengefügt, die in Form der realen Tatsachen von Solschenizyn, Dowlatow, Ginsburg, Rybakow und vielen anderen Lebens- und Schicksalsbeschreibern jener Zeit zur Sprache gebracht wurden. Nichts ausser der tatsächlich stattgefundenen Ereignissen (die aber verschiedenen Menschen passiert sind) gibt es in meiner Erzählung. Man kann auch nicht sagen, dass ich zu dick aufgetragen hätte- die realen Geschichten waren oftmals noch härter. Und schliesslich ist es völlig ausgeschlossen, die Autoren, denen ich dokumentarische Fakten entlehnte, der Übertreibung oder Phantasie zu verdächtigen: zu unserer Verfügung (elektronisch, gedruckt und im Videoformat) stehen Dutzende Tausende unabhängiger und nicht abgestimmter Zeugnisse verschiedener Teilnehmer und Opfer jener Ereignisse, aus allen Gesellschaftsschichten, aller ideologischen Überzeugungen, aller Bildungsstände. Diese Dutzende Tausende Zeugnisse stimmen in ihrer Beschreibung der Gründe und Anlässe für Inhaftierungen, für den Umgang mit den Arrestanten, für die Lage in den Gefängnissen und Lagern, für das Verhalten der politischen und kriminellen Gefangenen usw. absolut überein. Und zu guter Letzt gibt es noch die offizielle Statistik der UdSSR.
Unglaublich viele Fragen wurden zu den Zahlenangaben der Opfer im Text gestellt. Die Zahlen habe ich den Quellen entnommen, die durchaus Aufmerksamkeit verdienen- von den offiziellen Angaben der Statistik bis zu „Archipel GULAG“ von Solschenizyn. Die Zahlen sind ungefähr bekannt (genaue Zahlen, die sich auf jene Zeit beziehen, können in keinem Bereich bestimmt werden), die offiziellen Angaben sind offensichtlich zu niedrig angegeben, aber um wie viel- das wissen wir nicht, denn alle indirekten Methoden der Bestimmung (üblicherweise nach der Anzahl der „Plätze“ in GULAG, oder aber mithilfe einer Art Induktion, durchs Multiplizieren der bekannten Angaben über irgendeine Haftanstalt oder ein Ermittlungsverfahren mit der Anzahl solcher Haftanstalten, Angaben eines Jahres mit der Anzahl der Jahre) sind äusserst ungenau.
Und doch kennen wir die damaligen Umstände sehr genau: die Anzahl der Opfer nach dem politischen 58. Artikel übersteigt eine Million, die Anzahl der Repressionsopfer anderer Art beläuft sich auch auf Millionen. Ziemlich ausführlich sind die Opferzahlen hier angeführt (englisch) (meiner Meinung nach sind sie etwas zu hoch angegeben- wegen einer gewissen Doppelung, und beinhalten nicht nur die Repressionsopfer, sondern die Opfer des Systems als Ganzes und teilweise auch- Opfer der Umstände, die mit dem System gar nicht verbunden waren, nichtsdestotrotz sind da viele interessante Angaben). Aber meine Verwunderung hat die Wichtigkeit hervorgerufen, welche die Kommentatoren der meiner Meinung nach völlig sinnlosen Mathematik beimessen. Und was, wenn die Anzahl der unschuldigen Opfer (oder sogar schuldigen, aber mit einer barbarischen Grausamkeit zu Tode gequält) doppelt so klein wäre – hätte es was geändert? Kann denn eine „untere Grenze“ der Opferanzahl bestimmt werden, unter welcher die Unmenschlichkeit und Bestialität zur „einfachen Politik“ werden? Vaclav Havel sagte mal: „Sogar das vielversprechendste Projekt des „allgemeinen Wohlstands“ verurteilt sich selbst zur Unmenschlichkeit, sobald es wenigstens einen unfreiwilligen Tod fordert – einen Tod, der keine bewusste Selbstopferung um Lebenssinns willen ist.“
Manche Kommentatoren schlugen vor, die stalinistische Zeit mit den 1990er Jahren zu vergleichen: „Und warum schreiben Sie nicht darüber, welchen Schaden die Liberalen mit ihren Reformen anrichteten?“. Sehr kurze Antwort: ich werde unbedingt darüber schreiben. Beziehungsweise darüber, dass die zwei Hauptanschuldigungen gegen die „Liberalen“ (in Anführungszeichen, weil es Liberalismus in den 1990ern wenig gab, und die Macht keinen einzigen Tag den Liberalen gehörte)- in Zeiten der Kriminalitätsorgie und Bevölkerungsverarmung- gegenstandslos sind: beides geschah bereits zu den 1980er Jahren und in den 1990ern haben wir nur die Fruchte der insolventen sowjetischen Politik geerntet. Darüber aber mal in einem anderen Artikel. Hier muss man sagen, dass der Versuch, das Gespräch vom Stalinismus-Thema auf die 1990er abzulenken ein demagogisches Mittel ist. Stalinismus wird nicht besser oder schlechter davon, dass 50 Jahre später irgendjemand irgendetwas falsch machte.
Und wahrscheinlich sollte man auch anmerken, dass Pseudoliberale der 90er keine Millionen ihrer Mitbürger vernichteten, keinen Hunger mit Millionen Opfern hervorriefen, keine Bevölkerung gleich eines ganzen Volkes oder einer ganzen Gesellschaftsschicht liquidierten, keine Grenze für Ausreise schlossen, und schliesslich auch nichts zur Provokation eines Weltkrieges getan haben. Dabei war das Kriminalitätsniveau in den 1990ern niedriger, als sogar am Anfang der 1930er (von den 1920ern spreche ich gar nicht), und der wirtschaftliche Einsturz war wesentlich geringer, als nach der sozialistischen Revolution.
Manche Kommentatoren beriefen sich auf die Erfahrung anderer Länder. „Warum soll man denn alles auf Stalin schieben,- sagten sie, – solche Perioden und Opfer kann man in jedem Land finden.“ Dieser Kommentar ist genau so eine Provokation, eine Abdrift vom Gegenstand der Diskussion.
Stalinistische Bestialitäten kann man nicht mit den Fakten der Bestialitäten in anderen Ländern und Zeiten rechtfertigen, so wie auch niemand die Verbrecher mit Verweisen darauf rechtfertigt, dass irgendwo irgendjemand noch grausamer gewesen sei und noch mehr geklaut hat. Mann kann vielleicht nur vergleichen- mit einem nicht ganz klaren Ziel- um Ausmasse abzuschätzen und Parallele zu ziehen.
Die schrecklichsten Genozide und Demozide des 20. Jahrhunderts, die nicht mit zwischenstaatlichen Kriegen verbunden waren, also gegen die Bürger des eigenen Staates gerichtet waren, schliessen den armenischen Genozid ein, der von den Türken veranstaltet wurde (von 1 bis zu 1,5 Millionen Opfer); Repressionen in Mexiko in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (über 1 Million Opfer); innendeutscher Teil des Holocausts mit über 2 Millionen Opfer (die Anzahl der Deutschen – Opfer der national-sozialistischen Repressionen beträgt um die 100 000 Menschen); Zwangsumsiedlung der ethnischen Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg (über 500 000 Opfer); Genozid an Bengalen durch die Pakistaner (circa 1,5 Millionen Opfer); politische Gewalt in Vietnam (über 1,25 Millionen Opfer); Repressionen in der Zeit der Kulturrevolution in China (über 1 Million Hingerichtete und 5 Millionen Gefallene; ab 20 Millionen Betroffene); Genozid an Tutsis in Ruanda (circa 1 Million Menschen sind gestorben); Pol Pots Genozid (circa 2,5 Millionen Opfer) und Repressionen der vorigen Regime (noch mal 1,5 Millionen) in Kambodscha; noch 47 Regime sind an Massenrepressionen mit einer Anzahl der Opfer Schuld, die mehrere Hunderte Tausende Opfer betrug. Wie wir sehen, bestanden die Regierungen vieler Länder im 20. Jahrhundert aus internationalen Verbrechern (und wir haben hier keinen Krieg angerührt), aber das stalinistische Regime mit seinen über 10 Millionen Opfer zu Friedenszeiten nimmt entweder den grauenhaften ersten Platz in der Reihe blutiger Monster des 20. Jahrhunderts ein, oder teilt diesen mit den Regimes von Mao Zedong und Hitler; und sogar hier (verzeihen Sie mir meinen Zynismus) vernichtete das chinesische Regime (in der Gesamtsumme mit gewaltfreien und indirekten Toden) „nur“ 2% der Bevölkerung, die Nazis vernichteten die Bevölkerung der okkupierten Territorien und bei sich – nicht die Urbevölkerung, das stalinistische Regime dagegen repressierte über 10% und vernichtete nicht weniger als 5% seiner eigenen Bevölkerung. Dieser Rekord wurde nur in Kambodscha geschlagen.
Irgendjemand schrieb, dass es Opfer natürlich gab, aber dass das Land ohne diese die Industrialisierungshöhen niemals erreicht und am Ende auch dem Krieg nicht standhalten können hätte. Ich denke, es sind nicht nur keine kluge, sondern auch die gefährlichsten Opponenten, denn sie messen die Welt nicht mit einer Gut und Böse Messlatte, sondern mit irgendeiner mechanischen Messlatte, als ob sie mit einer unbelebten Materie zu tun hätten. „Er ist ein grauenhafter Mensch, für ihn sind Menschen- Müll“- sagte mal ein Filmheld. Und derjenige, über den er es sagte, war auch ein grauenhafter Mensch, auch wenn er offensichtlich an die „Vertretbarkeit der Mittel“ aufrichtig glaubte; wobei er sich nicht mit Repressionen beschäftigte- er fing nur Banditen ein und kannte tatsächlich keine besseren Methoden der Ermittlung. Im Unterschied zu ihm mussten die Anführer der UdSSR und Stalin persönlich wissen, dass Sklavenarbeit die ineffektivste ist und das Monopol auf die Betriebsmittel die Entwicklung der Wirtschaft ausbremst. Ausser dem „theoretischen“ Gepäck in Form der Werke von Wirtschaftlern und Historikern, die von den Kommunisten verehrt wurden, gab es noch eine praktische Erfahrung: die hohen Entwicklungstempos der 1907-1914 Jahre; die Katastrophe des Anfangs 20. Jahrhunderts mit einem Versuch die Wirtschaft auf den frühfeodalen natürlichen Steuern aufzubauen; der abrupte Wirtschaftswachstum in Zeiten der NEP. Und schliesslich die Erfahrung anderer Länder, die zu gleichen Zeiten viel schnellere Wachstumstempos und bedeutend grössere Konsolidierung der Gesellschaft ohne Repressionen erreichten.
Die Repressionen waren ein „Nebenprodukt“ der Bestrebungen von den Führern des bolschewistischen Umsturzes 1917 die Macht um jeden Preis festzuhalten, trotz einer Reihe politischer Täuschungen (angefangen bei den Versprechungen der Landprivatisierung und der breiten Übergabe des Eigentums an die Betriebe für die Arbeiter), Verbrechen und gröbster Fehler, jeder von welchen sie der Unterstützung der Gesellschaft hätte berauben können (und es auch tat), wie auch des ständigen Kampfes um die Macht auf Leben und Tod innerhalb dieser Gruppe selbst, in welchem sich Stalin zum Jahr 1925 einfach nur als durchtriebener, blutrünstiger und prinzipienloser als andere erwies (obwohl auch andere durchtrieben, blutrünstig und prinzipienlos waren).
Die Repressionen erschufen eine Atmosphäre der allgemeinen Angst, indem sie den gesellschaftlichen Gruppen nicht erlaubten, sich zu konsolidieren; die Repressionen haben die Gesellschaft primitiviert, indem sie diese in eine grosse Bandengruppe verwandelten und die Macht jener festigten, die genug Kraft hatten, wobei sie eine hörige Hierarchie der Bürokraten bildeten, die auf Kosten derselben Repressionen ihre Macht an den „Plätzen“ festhalten konnten, aber leicht austauschbar waren, in dem Fall, wenn ihre Ambitionen einem höhergestellten Bürokraten zu nah gingen. Die Idee aber, dass Repressionen der Entwicklung des Landes „geholfen“ hätten, ist absurd – wie theoretisch so auch praktisch. In der Basis so einer Idee liegt die in 100% historischer Erfahrungen bestreitbarer Gedanke, dass die Angst oder die Kontrolle die Menschen besser zu arbeiten oder das Gesetz zu vollziehen zwingen kann.
Ich wiederhole mich: zu Stalin-Zeiten war die reale Kriminalität der Gesellschaft (ohne Einbeziehung der gefälschten Verfahren über die Schädlinge und Spione) höher als nicht nur die zu frühen Breschnew-Zeiten, sondern auch höher als jene am Anfang der 1990er, und wenn man die Grundlagen adäquat vergleicht, so scheinbar auch höher als am Ende der 90er. Fand denn ein existenzieller Wachstum der Arbeitsergiebigkeit statt? Natürlich nicht – wir sehen die Angaben zu den Ernten, die wesentlich niedriger waren, als in Europa und Amerika: die Weizenernten überstiegen zum Ende der 1930er sogar in der fruchtbaren Ukraine keine 8-10 Zentner vom Hektar, und 5-6 Jahre nach der Kollektivierung waren sie nicht höher als 6-7 Zentner vom Hektar.
Zur gleichen Zeit waren die Ernten im weniger fruchtbaren Europa über 14 Zentner vom Hektar. Zum Jahr 1950 wird Europa bereits 18 Zentner ernten, und Russland in der Ukraine und Krasnodar- fast die gleichen 10-11 Zentner vom Hektar. Die Population des Viehs, die zum Jahr 1925 bedeutend niedriger als in 1913 sein wird, wird noch mehr schrumpfen, und bis zu den 1960ern wird der Stand von 1925 nicht wiederhergestellt sein. Wir sehen, dass 20 Jahre nach dem Umsturz 1917 die Kilometerzahl der in einem Jahr gebauten Eisenbahnwege den Tempos bis 1914 zweifach nachsteht, und dabei sind die Eisenbahnwege ein strategisch wichtiger Industrialisierungsfaktor.
Wir wissen, dass ab 1939-1940 eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für Verstösse gegen die Arbeitsdisziplin in Russland eingeführt wurde, und in 12 Jahren (bis zu ersten liberalen Veränderungen in diesen Gesetzen) 18 Millionen Menschen nach dieser verurteilt worden sind – circa 20% der Arbeitsressourcen. Womöglich war die Sklavenarbeit in den Lagern sehr billig und arbeitsergiebig? Nein und nein: die Unterhaltung eines Gefängnisinsassen kostete im Durchschnitt die Hälfte des Durchschnittslohns eines freien Bürgers, und die Arbeitsergiebigkeit eines Gefängnisinsassen war niedriger als die Arbeitsergiebigkeit der 50% freier Bürger UdSSR (die an sich schon niedrig war). War denn die Bevölkerung konsolidierter, disziplinierter, patriotischer geworden? Im Gegenteil: im Ersten Weltkrieg spricht die Statistik von einer umfassenden Freiwilligenbewegung und nur in Einzelfällen- von Wehrdienstentziehung. In 1941-1945 wurden um die 1 Million Menschen für die Wehrdienstentziehung verurteilt und fast 1 Million- für Fahnenflucht, und die Archivangaben sprechen von circa 2,5 Millionen (25% simultan aktiver Armee) der Entzieher und 1,7 Fahnenflüchtiger; über 1,5 Millionen Menschen haben in 1941-1942 auf die Seite des Gegners gewechselt.
Relative Errungenschaften der UdSSR hinsichtlich der Industrialisierung und Wissenschaftsentwicklung geschahen nicht dank, sondern trotz Repressionen und des sozialistischen Regimes. Gut möglich, dass auch wenn der Umsturz 1917 stattgefunden hätte und aber nach NEP marktwirtschaftliche Reformen anfingen, die Rezession Anfang der 1930er nicht so einschneidend gewesen wäre und die UdSSR ihre 10 Millionen arbeitsfähige und arbeitstüchtige Bürger behalten hätte, wie auch die Wachstumstempos viel grösser gewesen wären. Und als der Zweite Weltkrieg dann ausbrach, hätte die UdSSR womöglich keine zwei Drittel ihres europäischen Teils an den Feind abgegeben, keine 26 Millionen Menschen verloren und keine solch zerstörerische Verluste in der Infrastruktur getragen.
Wobei es auch möglich ist, dass es gar keinen Krieg gegeben hätte: gerade die Angst vor Kommunismus war ein wichtiger Faktor, der die Deutschen dazu trieb, für die national-sozialistische Partei bei den Wahlen abzustimmen, zu der Zeit als in der UdSSR Millionen Bauer an Hunger starben und in den Städten Repressionen entfaltet wurden. Wenn Hitler jene Wahlen verloren hätte- hätte es gar keinen Faschismus gegeben, und 60 Millionen Opfer wären am Leben geblieben.
Und schliesslich scheint mir eine gewisse Anzahl der Kommentare in der Art wichtig: „Das ist alles gelogen, so etwas gab es gar nicht.“ Die Kommentatoren schrieben entweder „So etwas konnte es gar nicht geben“ oder „Meine Verwandten haben jene Zeit überlebt und nichts davon bemerkt“. Auf „kann gar nicht sein“ muss ich leider antworten: es kann. Es ist nicht so lange her, als dass man es leugnen könnte. Zu viele, wie ich schon sagte, gibt es unabhängige Quellen, objektive Zeugnisse, corpus delicti und Dokumente, inklusive der Archive der Henker selbst wie auch die Staatsstatistik der UdSSR. Auf das „Vorfahren haben nichts davon bemerkt“ kann man auch leicht eine Antwort finden. In den 1930ern betrug die Bevölkerung der UdSSR 160 Millionen Menschen. Die Gesamtanzahl der Repressionsopfer überstieg anscheinend keine 12-13 Millionen Menschen, war also weniger als 10%.
Es ist leicht anzunehmen, dass wenn eine Familie keinen Erbadligen, Kosaken, Kulaken, Kapitalisten angehörte, keine Militärs, Intelligenz jeglicher Art, Geistliche miteinschloss, in keinen Grossstädten und Schwarzerdzonen lebte, keine Juden, Tataren, Inguschen, Tschetschenen, Balten, Deutsche darstellte – so konnte sie auch den Terror, der um sie herum geschah, vielleicht auch nicht bemerkt oder nicht erlebt haben, oder aber diesen Terror nicht bemerkt haben wollen (dieses Phänomen wurde übrigens auf der Grundlage Deutschlands ausgiebig untersucht- eine Vielzahl der Deutschen leugnete das Vorhandensein von Konzentrationslagern). Aber Schlussfolgerungen auf der Basis der Geschichte einer Familie aus den damaligen 30 Millionen Familien zu ziehen, die in der Sowjetunion lebten, ist natürlich ausgeschlossen. Im Gegenteil kenne ich wahrscheinlich keine einzige Familie, die durch Repressionen einen oder mehrere ihrer Mitglieder nicht verloren hätte. Aber auch daraus kann man keine Schlussfolgerungen ziehen.
Übrigens, und damit möchte ich auch enden: die „So etwas gab es gar nicht“- Kommentare sind gar nicht so schlecht, wie es scheint. Zumindest nehmen ihre Autoren Repressionen negativ wahr- warum würden sie sonst ihre Durchführung in der UdSSR leugnen? Scheinbar fällt es diesen Kommentatoren schwer, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Das Unheil dieser Herangehensweise besteht darin, dass man vom Versteckspiel mit der Geschichte sehr leicht zum Blindekuh-Spiel mit der Gegenwart übergehen kann. Zu Stalin-Zeiten gab es auch viele Menschen, die flüsternd einander sagten: „Sie können ja einen nicht für Nichts verhaftet haben!“ Und in unserer absehbaren Zukunft, wenn totalitäre Kräfte an die Macht kommen, werden sich auch solche finden, die bis zum Moment ihrer eigenen Verhaftung an Repressionen nicht glauben und behaupten werden: „Wenn jemand verhaftet wird, so hat er was getan!“ Schade, dass die Autoren dieser Worte, die durchaus auf der Seite der Kämpfer gegen den Totalitarismus stehen könnten, am Ende ihn nur rechtfertigen oder seiner Entwicklung behilflich sein werden. Ich hoffe, dass viele von denen, die heute die Leugnung bevorzugen, genug Mut haben werden die Wahrheit zu erkennen, bevor es für uns alle zu spät wird.
Quelle: Andrei Mowtschan in snob.ru; übersetzt von Irina Schlegel.
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