Im November, am vierten Samstag des Monats, gedenkt die Ukraine der Opfer des Holodomor 1932-1933.
Entsprechend der letzten Berechnungen von Demographen sind infolge des künstlich erschaffenen Holodomor 1932-1934 ungefähr 3.900.000 Menschen gestorben. Weitere 600.000 sind indirekte Verluste, z.B. Ungeborene.
Am 26. November 2006 verabschiedete die Werchowna Rada ein Gesetz „Über den Holodomor 1932-1933 in der Ukraine“, in dem die damaligen Ereignisse offiziell als Genozid am ukrainischen Volke anerkannt wurden. Die öffentliche Leugnung des Holodomor 1932-33 in der Ukraine gilt als Verunglimpfung des Andenkens von Millionen seiner Opfer, Erniedrigung der Würde des ukrainischen Volkes und Rechtswidrigkeit.
Über 20 Länder haben diese tragischen Ereignisse als Genozid oder Verbrechen des stalinistischen Regimes anerkannt. Entsprechende Entschließungen wurden auch von internationalen Organisationen verabschiedet, darunter von der UNO, UNESCO, OSZE und vom Europaparlament. Die Russische Föderation, die sich als Rechtsnachfolger der Sowjetunion versteht, erkennt das Faktum des Genozids am ukrainischen Volke 1932-33 dagegen nicht an.
Interessanterweise bezeichnete gerade der Autor des Konzepts „Genozid“ und einer der Initiatoren der 1948 von der UNO verabschiedeten Konvention über die Prävention des Genozids und die Bestrafung für dieses Verbrechen, Dr. Raphael Lemkin, den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk.
Neben der Hungersnot, die weite Teile der Wolgaregion, Westsibiriens, des Südurals und Nordkasachstans umfasste, verwirklichte die stalinistische Führung ihren Plan zum zielgerichteten Mord an ukrainischen Bauern und entwendete ihnen jegliche Lebensmittel. Diese Politik wurde von Repressionen gegen die ukrainische Intelligenz, ukrainische Kirche, Industrielle und selbst gegen die ukrainische Sowjetführung begleitet. Auf diese Weise versuchte der Kreml, die ungehorsame Republik vor dem Hintergrund der Niederlagen des kommunistischen Aufbaus Anfang der 1930er Jahre und der Angst vor militärischen Invasion aus dem Westen zu zähmen.
Am Vorabend der Tragödie, im August 1932, schrieb Stalin an Kaganowitsch: „Das Wichtigste ist jetzt die Ukraine. Dort läuft alles ziemlich schlecht. Was die Parteilinie angeht. Es wird gesagt, dass in zwei Gebieten der Ukraine (ich glaube, im Kyjiwer und dem Dnipro-Gebiet) sich circa 50 Bezirkskomitees gegen den Plan zur Getreidebeschaffung aussprachen, da sie ihn für undurchführbar halten… Schlecht. Redens schafft es nicht, den Kampf gegen die Konterrevolution in einer so großen und eigentümlichen Republik wie die Ukraine anzuführen. Falls wir uns nicht jetzt sofort mit der Lageverbesserung in der Ukraine zu beschäftigen anfangen, könnten wir die Ukraine verlieren. Denken Sie daran, dass Pilsudski nicht ruht und seine Agentur in der Ukraine wesentlich stärker ist, als Redens oder Kossior es sich vorstellen. Denken Sie auch daran, das es in der ukrainischen kommunistischen Partei (Anm.d.Red.: nur 500.000 Mitglieder) ziemlich viele (ja, viele) faule Elemente gibt, bewusste oder unbewusste Petljura-Anhänger und schließlich auch direkte Agenten von Pilsudski. Sobald die Lage sich verschlechtert, werden diese Elemente nicht davor zögern, eine Front innerhalb (und außerhalb) der Partei gegen die Partei zu eröffnen. Das Schlimmste ist dabei die Tatsache, dass die ukrainische Führung diese Gefahren nicht wahrnimmt.“
Lange Zeit nach der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine existierten viele Mythen, die das Bild eines abgequälten, schwachen und todbereiten Ukrainers vermittelten, der sich mit den Repressionen abgefunden hätte, vor Hunger zwar aufgeschwollen war, sich der sowjetischen Macht aber nicht mehr widersetzte. Auf diese Weise wurden Angst und Hörigkeit vor dem allmächtigen Imperium geschürt, in dessen Rolle zu dem Zeitpunkt die UdSSR auftrat.
Auf dem Foto: Eine Waffe, die 1932 im Korjukowski-Bezirk des Gebiets Tschernihiw beschlagnahmt wurde. Laut den Archivdokumenten, gehörte die Waffe der „konterrevolutionären“ Organisation „Wilne Kosazstwo“ (zu dt. „Freies Kosakentum“).
In Wirklichkeit ging den tragischen Ereignissen 1932-33 ein aktiver Widerstand ukrainischer Bauern gegen die Kollektivierung voraus. Im Februar-März 1930 hatte die GPU (Geheimpolizei) der Ukraine „Unruhen“ in 1.895 ukrainischen Dörfern in 41 von 44 Landkreisen der ukrainischen Sowjetrepublik registriert. Friedliche Bauern-Kundgebungen verwandelten sich oft in Gewaltakten gegen lokale Vertreter der sowjetischen Führung und kommunistische Aktivisten. In diesem Jahr fanden in der Ukraine über 4.000 Massenkundgebungen statt, an denen, nach Schätzungen von Forschern, etwa 1.200.000 Menschen teilnahmen. In verschiedenen Regionen entstanden Partisanentrupps, Massenaufstände brachten aus. Der bekannteste Aufstand fand in Pawlohradske statt und umfasste Anfang April 1930 ein Dutzend Dörfer im Dnipro-Gebiet.
In den ersten sieben Monaten des Jahres 1932 hatte die Geheimpolizei um die 900 Kundgebungen in der Ukraine registriert, was 56% aller antikommunistischen Kundgebungen in der UdSSR ausmachte. Zugleich waren 41.200 Bauernhöfe aus den Kolchosen ausgetreten, etwa 500 Dorfräte weigerten sich, die undurchführbaren Pläne zur Getreidebeschaffung anzunehmen. 1931 hatten die Behörden der Geheimpolizei der Ukraine Aktivitäten von 28 „politischen Banden“ notiert.
Ein Archivfoto der festgenommenen ukrainischen Aufständischen, 1930. Das Foto wurde in Osinowski-Bezirk des Gebiets Donezk, Ukraine, aufgenommen.
Selbst als der Großteil dieser Widerstandsbrennpunkte erstickt worden war und die Obrigkeit den Bauern die Lebensmittel entwendet hatte, saßen sie nicht still herum. Die Hungernden griffen Getreidespeicher an, in denen das bei ihnen beschlagnahmte Getreide aufbewahrt wurde, warfen ihre Arbeit in den Kolchosen hin und griffen zu den Waffen. 1932 wurden über 1.000 Fälle eines bewaffneten Widerstands gegen das stalinistische Regime registriert.
Wenn wir der Opfer des Holodomors gedenken, so gedenken wir Menschen, die für ihre Freiheit und das Recht auf Leben kämpften und starben. Im XXI. Jahrhundert stehen wir vor einer neuen Aggression des alten Feindes. Wie vor 83 Jahren ist er gekommen, um die Ukrainer zu töten, ukrainisches Territorium zu besetzen, sein eigenes Regime darauf einzuführen und Regeln aufzustellen, die keinen Raum für Freiheit und Entwicklung lassen – dafür setzt dieses Regime aber Lebensmittelverbote und das Zerdrücken von Gänsen mit Schleppern als Methode ein, seinen Knechten die Unterwürfigkeit vor ihren Herren anzuerziehen.
Dieses Material wurde von Andrew Lyssytsky exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel.
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One Response to “Holodomor – ein stalinistischer Genozid am widerspenstigen ukrainischen Volke”
17/01/2017
Über das westeuropäische Verständnis von Osteuropa, oder wo enden die Grenzen Russlands? - InformNapalm.org (Deutsch)[…] der UdSSR, als welcher es sich verstand, Reparationen zahlt (oder zumindest ihre Verbrechen wie den Holodomor anerkennt) – nein. Im Gegensatz. Weder das Budapester Abkommen, noch die Annexion, die 2014 […]