von Irina Schlegel
Am 15. Juni hat der amerikanische Senat die Sanktionen gegen Russland erneut erweitert. Trotz der Hysterie deutscher Politiker und Medien, die seit einem halben Jahr den Eindruck vermitteln, als ob sie nie an das amerikanische System geglaubt hätten und denken, ein einziger nicht sonderlich mit Wissen beladener Präsident könnte das Land, das seit Jahrhunderten als ein Symbol der Freiheit gilt, mit einem Fingerschnips in eine Autokratie verwandeln, arbeitet das amerikanische System weiterhin auf die Aufrechterhaltung von Prinzipien der Demokratie und fundamentaler Gesetzmäßigkeiten hin, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Welt gelten.
Seltsam sah die Reaktion von deutschen Politikern auf diese Nachricht aus. Besonders kritisch äußerte sich darüber auch der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der behauptete, „Europas Energieversorgung ist eine Angelegenheit Europas, und nicht der Vereinigten Staaten von Amerika!“
Vergessen wird dabei die Tatsache, dass die europäische Energieversorgung, von der der deutsche Außenminister spricht, in diesem Zusammenhang einen Handel mit einer Diktatur und dem faschistischen Kremlregime Russlands bedeutet. Selbst wenn man ethische Fragen an der Stelle beiseite lässt, ist Nordstream-2 nichts anderes, als Europa bewusst in die totale Abhängigkeit von Russland zu treiben. Was Gas- und Energieerpressung seitens dieses Staates bedeuten, hat die Ukraine an eigenem Leibe erfahren müssen. Und sie hat es in den letzten drei Jahren geschafft, sich von dieser gefährlichen Droge zu lösen und frei zu werden. Warum Deutschland trotz dieses aktuellen Beispiels versucht, sich in der gleichen Situation wiederzufinden, ist eine Frage sowohl an deutsche Unternehmer als auch seine Politiker.
Dabei blieb es aber nicht, und eine andere deutsche Partei, die besonders gern gegen Amerika hetzt, Russlands Verbrechen gegenüber aber blind bleibt, die AFD, bewies auf ihrem Parteitag nicht nur eine völlige Empathielosigkeit gegenüber dem Leid der Krim-Bevölkerung und die Abwesenheit jeglichen Rechtsverständnisses, sondern auch das Fehlen jeglicher Geschichtskenntnisse. Unter anderem behauptete ihr Spitzenkandidat, Alexander Gauland, laut Die Welt folgendes: „Sanktionen sind immer falsch, sie sind politisch falsch. Und sie werden keinen Krümel Krim zurückbringen. Die Krim ist nun einmal ur-russisches Territorium, und sie kann nicht zurück zur Ukraine“, sagte er.
Abgesehen davon, dass Sanktionen gegen Russland ihre Wirkung schon deutlich genug zeigten, wovon man sich anhand wirtschaftlicher Statistiken und der Berichte russischer Medien in ein paar Minuten vergewissern kann, ist nicht ganz klar, wie der „Spitzenkandidat“ auf die Idee kam, die Krim als „ur-rusisch“ zu bezeichnen und weshalb sie „nicht zur Ukraine kann“. Da ich ebenfalls keine Historikerin bin, führe ich einen Auszug aus einem Artikel des russischen Historikers Andrej Subow an, der noch 2014 in der russischen Zeitung Wedomosti erschien:
„… Im Altertum und im Mittelalter beherrschten viele verschiedene Staaten die Krimer Halbinsel, auf ihrem Territorium wechselten sich viele Völker ab. Russland gab es noch gar nicht, und Rusen und Slawen tauchten auf der Krim in sehr kleiner Anzahl auf. Im 11. Jahrhundert existierte in Taman (Kuban) das Fürstentum Tmutarakan, das von Rurikiden regiert wurde. Dieses besaß wohl irgendeinen Teil der östlichen Krim und befand sich in einer Art Vasallenabhängigkeit von Konstantinopel. Eine tiefere Beschäftigung mit dem Altertum spricht aber eher für Kyjiws Rechte als Moskaus. Denn Moskau gab es damals gar nicht, und Kyjiw war „die Mutter aller russischen Städte“, genau dort war der Thron von Rurikiden.
Danach beherrschten Byzanz, die Mongolen und die Goldene Horde die Krim. Die Krimer Südküste übergab Konstantinopel in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an Genua, die Genuesen gründeten auch das Fürstentum Theodoro. Im Sommer 1475 eroberte das Osmanische Imperium die Krim. Im Steppengebiet der Halbinsel und im Priazowje behielten die Osmanen Khanat der Krim als Vasallenstaat, die Südküste nahmen sie unmittelbar in Besitz. Die Bevölkerung der Krim war damals kunterbunt: es blieben noch immer viele Griechen, Italiener, Armenier, Juden, Slawen. Die Steppenbevölkerung war zum größten Teil mongolischer Abstammung, die Berg- und Seebevölkerung – europäisch. Krimtatarisch war allmählich zur gemeinsamen Sprache der zwischennationalen Kommunikation geworden. Auf der Halbinsel lebten Moslems, Christen verschiedener Bekenntnisse und Juden Schulter an Schulter. Aber russisch war diese wunderbare Welt bis zum April 1783 definitiv nicht.
Genau dann wurde die Krim an das Russische Imperium angeschlossen. Die Besatzung des Krimer Khanats war blutrünstig. Krimer Urbevölkerung schrumpfte wegen der Emigration in die monotheistische Türkei und der Grausamkeiten der neuen Obrigkeit zum Ende des 18. Jahrhunderts auf ein Fünftel. Die Krimer Christen siedelte Fürst Potemkin gewaltsam ins nordische Pritschernomorje (Steppen im Norden des Schwarzen Meeres) um. So hatte er das von Russland nach dem Friede von Küçük Kaynarca 1774 erhaltene Recht auf Schutz der Krimer Monotheisten verstanden. Viele von ihnen konvertierten zum Islam, um die Deportation zu vermeiden… Die russische Regierung auf der Krim war keine Wohltat für die Urbevölkerung. Die moslemischen Gemeinden verloren ihr Wasser- und Landeigentum, das an den russischen Adel oder den Staat übergegangen war. Von Landbesitzern wurden die Ureinwohner zu Pächtern. In 100 Jahren russischer Obrigkeit, von Katharina II. bis zu Alexander II. einschliesslich, verließen ca. 900.000 Moslems die Krim. An ihrer Stelle kamen Christen des Osmanischen Imperiums: Griechen, Bulgaren, Armenier. Aus Russland, Deutschland und Österreich kamen deutsche Kolonisten. Die Gutsherren siedelten ukrainische Ackerbauern und großrussische Bauern in die verlassenen Territorien… Auf der Krim betrug der tatarische Bevölkerungsanteil 87,6% in 1795, 35,6% in 1897, 25% in 1925, und in 1939 – 19,4%.
Außerdem muss man sich immer vor Augen halten, dass das Russische Imperium des 18.-19. Jahrhunderts und das jetzige Russland nicht ein- und derselbe Staat sind. Denn zum Imperium gehörte nicht nur das Territorium des jetzigen Russlands, sondern auch ein großer Teil der Ukraine, Belarus, Kasachstan, der Kaukasus, die baltischen Staaten, sogar ein Teil Polens und Finnlands. Und alle Völker erschlossen die Krimer Erde, begossen es mit ihrem Schweiß und Blut. Gab es denn während des Krim-Krieges 1853-1856 keine Ukrainer, Belarussen, Georgier, Ostseedeutschen, Polen in der russischen Armee?
Das russische Imperium war ein Land vieler Völker, und das jetzige Russland kann wohl kaum einen Anspruch auf irgendwelche Territorien nur aufgrund dessen erheben, dass diese mal ein Teil des Romanow Imperiums waren. Die Bolschewiken legten den Nachlass des Russischen Imperiums ab und erklärten, dass sie einen neuen Staat der Arbeiter und Bauer aufbauen, sie zerteilten den von ihnen eroberten Raum in mehrere formal unabhängige Staaten, die sich zu einer angeblich freiwilligen Union zusammenschlossen…
Die Grenzen, so provisorisch wie sie in der UdSSR auch waren, wurden nach dem Zerfall der UdSSR durch internationale Verträge genauso bestätigt, wie die Verkündung der Unabhängigkeit Russlands selbst. Das von der ganzen Welt anerkannte Beloweschskoje Abkommen und der Große Vertrag Russlands mit der Ukraine von 1997 legten die Grenzen fest und die Krim wurde der Ukraine überlassen. Was die formale Jahresanzahl des Besitzes angeht, so war das Russische Imperium, sowie das Osmanische eine andere Welt. Und sogar in jener Welt besaß das Osmanische Imperium die Krim drei Jahrhunderte lang, und das Russische – 134 Jahre. Die russische Sowjetrepublik, zu deren Nachfolger sich das heutige Russland erklärte, besaß die Krim von 1920 bis 1954, also 34 Jahre. Und die ukrainische Sowjetrepublik und die heutige Ukraine – 60 Jahre lang (von 1954 bis 2014)“.
- Den vollständigen Artikel in deutscher Übersetzung finden Sie hier: „Andrej Subow: Die Krim ist unser?“
Was die Rechtslage bezüglich der Krim und die zahlreichen Verträge angeht, die die ukrainische territoriale Integrität sicherstellen sollten und in denen Russland stets als ein Unterzeichner auftritt, so kann man folgende internationale Verträge nennen, gegen die Russland im März 2014 verstoßen hat, als es die Krim besetzt und annektiert hat:
- Helsinki-Schlussakte der KSZE
- Artikel 5 des Abkommens über die Bildung der GUS (1991)
- Punkt 2 des Budapester Abkommens über Sicherheitsgarantien in Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung der Atomwaffen (1994)
- Artikel 2 des Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation (1997)
- Vertrag über die ukrainisch-russische Staatsgrenze (2003).
Deutsche Politiker scheinen des Öfteren russischer Propaganda nachzuplappern, ohne sich mit dem Thema tatsächlich auseinandergesetzt zu haben. Noch im März dieses Jahres besuchten einige Vertreter der Partei Die Linke und selbst der CDU die annektierte Krim und verstießen dabei gegen ukrainisches Recht, was einem von ihnen, Willy Wimmer, nun ein 5-Jahre-Einreiseverbot in die Ukraine beschert hat.
Zu mehr Sorgfalt möchte man auch deutsche Journalisten mahnen, die in ihren Artikeln behaupten, die Krim sei der Ukraine „geschenkt“ worden. Auch das ist nur ein Nachhall der russischen Propaganda, denn die Krim wurde 1954 tatsächlich aus dem Bestand der Russischen Sowjetischen Republik an die Ukrainische Sowjetische Republik übergeben, es gab aber auch Beispiele für entgegengesetzte Übergabe der Territorien. Zum Beispiel, wurden 1925 die Territorien des Ostdonbas und um Taganrog, die zur Ukrainischen Sowjetischen Republik gehörten, an die Russische Sowjetische Republik übergeben. Im Gegenzug erwartete die ukrainische Führung die Territorien um Belgorod und die Östliche Sloboda-Ukraine, die mit Ukrainern bevölkert waren, zu bekommen – ihre Hoffnungen auf einen fairen Austausch blieben aber vergeblich. Die Krim war dabei nach der 1941-1944 stattgefundenen Deportation der Krimer Urbevölkerung zum Jahr 1954 völlig kaputt. Als ein „Geschenk“ kann man diesen in der Zeit verlegten Tausch jedenfalls nicht bezeichnen.
Wenn wir anfangen, diese Verträge und die internationalen Gesetze, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Welt gelten, zu ignorieren und anzuzweifeln – wo führt uns das hin? Wird Deutschland morgen ein Referendum in Königsberg organisieren? Denn im Gegensatz zur angeblich „russischen“ Krim ist Königsberg zum Beispiel tatsächlich urdeutsches Territorium. Wollen wir uns wirklich auf dieses gefährliche Glatteis begeben oder versuchen wir doch diejenigen zu unterstützen, die die fundamentalen Prinzipien des Rechts noch immer aufrechterhalten wollen?
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet; deutsche Version editiert von Klaus H.Walter.
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6 Responses to “Die Krim, ihre Geschichte und falsche Behauptungen der deutschen Politiker”
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06/12/2017
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