Andrej Illarionows Auftritt im EU-Parlament in Brüssel am 19. November 2014
Sehr geehrte Damen und Herren, guten Tag!
Als Erstes möchte ich meine Dankbarkeit an die Organisatoren dieser Sitzung ausdrücken. Die Sitzung erscheint mir überaus rechtzeitig und notwendig. Ich bedanke mich auch für die Möglichkeit, an dieser Diskussion teilnehmen zu dürfen. Ich möchte Ihnen zehn Punkte erläutern, die nach meinen Möglichkeiten kurz formuliert wurden, faktisch im Telegrafenstil. Es sind Überlegungen bezüglich der Herangehensweise an das Problem, das als Thema der heutigen Sitzung angemeldet wurde. Also, fangen wir an.
1. Das Sitzungsthema ist „Wie geht man mit Russland um?“ Ich möchte mich getrauen, den Zielkurs des Problems ein wenig zu ändern und ihn umzuformulieren. Die Frage besteht meiner Meinung nach nicht darin, wie man mit Russland umgeht. Die Frage ist, wie man mit Putins Russland umgeht, mit Putins Regime, oder noch kürzer – mit „Putinismus“. Das ist eine sehr wichtige Präzisierung, obwohl es natürlich einfacher und kürzer ist, einfach nur „Russland“ zu sagen, als jedesmal erneut zu präzisieren: „Putins Russland“, „Putins Regime“ oder „Putinismus“. Nichtsdestotrotz erscheint es mir prinzipiell sehr wichtig, dass man eine Vermischung dieser Begriffe nicht zulässt. Man darf das Regime Putins mit Russlands Einwohnern und Bürgern nicht vermischen.
Ja, wir wissen, dass sehr viele Russen Opfer einer überaus effektiven Gehirnwäsche geworden sind. Gut möglich, dass die sakramentale Zahl der „84%-Unterstützung“ eine Übertreibung ist, aber die Tatsache bleibt bestehen.
Eine bedeutende Anzahl der Russen haben der putinschen Propaganda nachgegeben, und sind nun, wie man so sagt, effektive Zombies (im Sinne einer Gehirnwäsche, Anm. d. Red.). Wie schnell das erreicht wurde und die Tatsache, dass vor unseren Augen die Weltsicht von Millionen und Dutzenden Millionen Menschen radikal verändert wurde, kann einen schockieren.
Dennoch passierte etwas ähnliches zum Beispiel in Deutschland in den 30-40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Zentrum Europas wurde eine ganze zivilisierte Nation einer ideologischen Bearbeitung und Zombierung ausgesetzt. Und nicht nur sie allein. Diese Nationen, die von einer Hasspropaganda zombiert wurden, starteten eine aggressive Politik gegen ihre Nachbarn. Etwas ähnliches passiert leider gerade auch in Russland.
Wir müssen daran denken, dass das regierende russische Regime einen psychologischen Krieg sowohl gegen sein eigenes Volk, als auch gegen die Völker anderer Länder, Nachbarländer, Länder des Zentral- und Westeuropas, vieler Länder dieser Welt führt. Wir müssen das Regime und das Volk trennen. Das Volk kann von seiner temporären Geistesvernebelung geheilt werden, kann aus seinem zombierten Zustand herauskommen. Und früher oder später passiert das auch. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist so eine Heilung mit dem deutschen Volk, mit den anderen Völkern auch geschehen.
2. Mein zweiter Punkt ist dem wichtigsten Ereignis der letzten Monate gewidmet, das fehlerhaft, aber zum Glück immer seltener als die „ukrainische Krise“ oder „Krise in der Ukraine“ bezeichnet wird. Selbstverständlich ist es keine ukrainische Krise und auch keine Krise in der Ukraine. Dieses Geschehen hat zumindest zwei deutliche Charakteristiken.
Erstens, wenn es eine Krise ist, dann ist es eine russische Krise. Das ist eine Krise in der Beziehung zwischen Russland und der Ukraine. Das ist eine Krise in der Beziehung zwischen Russland und seinen angrenzenden Ländern. Und schließlich ist es eine Krise in der Beziehung Russlands zum Großteil seiner Umgebung.
Und zweitens ist das, was passiert, zum jetzigen Zeitpunkt längst keine Krise mehr. Das ist ein KRIEG. Ein Krieg im äußerst direkten und unmittelbaren Sinne dieses Wortes.
Und diese traurige Feststellung führt mich zum nächsten Punkt meiner Kommentare.
3. Wir müssen verstehen, in was für einen Krieg denn genau wir hineingezogen wurden. Gegen unseren Willen hineingezogen wurden. Russlands Bürger in ihrer Mehrheit wollten keinen Krieg gegen die Ukraine, das ukrainische Volk wollte auch keinen Krieg gegen Russland, die Bürger der europäischen Länder und USA wollten diesen Krieg auch nicht. Dieser Krieg wurde uns allen durch das jetzige russische Regime aufgezwungen, unter anderem auch dem russischen Volk. Und wir alle sind nun in diesen involviert.
Was ist das für ein Krieg?
In erster Linie ist es natürlich ein russisch-ukrainischer Krieg. Genauer: Ein putinscher Krieg gegen die Ukraine. Wie Andrej Piontkowski gerade anmerkte, unterstützt die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht. Russlands Bürger können verschiedene politische Ansichten haben, aber ich wiederhole mich: einen Krieg gegen die Ukraine akzeptiert die Mehrheit von ihnen nicht. Somit ist es in vielem ein persönlicher Krieg des Herren Putin gegen die Ukraine.
Man kann vieles über diesen Krieg sagen. Das Erste und Offensichtlichste ist, dass es ein langer Krieg ist.
In der Beurteilung dieses Krieges als eines langwierigen Krieges gibt es drei Hauptkomponenten.
Erstens ist es ein langwieriger Krieg, weil dieser Krieg mindestens 10 Jahre lang vorbereitet wurde, seine Vorbereitung hat nicht später als im Jahr 2003 angefangen. Manche Facetten des zukünftigen Krieges gegen die Ukraine wurden innerhalb der russischen Führung schon im Sommer 2003 ausdiskutiert. Zu jener Zeit war es unmöglich, sich vorzustellen, dass die wahnsinnigen Ideen, die damals ausdiskutiert wurden, mit der Zeit zu einem realen Krieg führen würden. Aber Tatsache bleibt bestehen: der Prolog für diesen Krieg liegt zumindest im Sommer 2003.
Im nächsten Jahr, in 2004, während der ukrainischen Orange Revolution war die Möglichkeit in Betracht gezogen worden, die zehn Jahre später tatsächlich realisiert wurde: die Okkupation und Annexion der Krim. Damals, in 2004, wurde der Versuch wegen unzureichender Vorbereitung zu dieser Operation auf einen späteren Zeitpunkt verlegt.
Anfang April 2008 erklärte Putin beim NATO-Gipfel in Bukarest, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ist und die Hälfte ihres Territoriums in Wirklichkeit Russland gehört. Diese Aussage wurde in Gegenwart des damaligen US-Präsidenten und der Spitzenvertreter vieler anderen Staaten gemacht.
Im selben April 2008 sickerte eine Version des Planes der russischen Kriegsführung gegen die Ukraine in den öffentlichen Raum durch. Sie wurde in der Zeitschrift „Russisches Journal“ veröffentlicht, und diejenigen, die sich für Einzelheiten interessieren, können diesen Artikel unter dem Namen „Operation „Clockwork Orange“ finden (Anmerkung der InformNapalmRedaktion: unter dem Link finden Sie eine deutsche Übersetzung dieses Artikels). Darin wird ein detaillierter Plan eines Krieges gegen die Ukraine ausgelegt, inklusive der Gefechtsaufgaben, die durch verschiedene Streitkräftearten gelöst werden müssen: Infanterie, Fallschirmspringer, Panzertruppen. Im genannten Text werden die Besetzungen der Krim, Ost- und Zentralukraine beschrieben. Im Laufe der Kampfhandlungen war auch ein Atomschlag gegen die ukrainischen Streitkräfte südöstlich von Kyjiw vorgesehen.
Im Jahr 2008 tauchte in Russland eine gewaltige Menge an Büchern auf, die dem „zukünftigen Krieg gegen die Ukraine“ gewidmet waren. Erstaunlich ist nicht nur ihre Anzahl, sondern auch wie detailliert dieses Thema darin ausgearbeitet wurde.
2009 wurde in einem Jugendcamp auf dem Seliger zum ersten Mal die Flagge der sogenannten „DVR“ gehisst, über die Tatsache deren Existenz die Mehrheit der Bürger erst vor ein paar Monaten erfahren hat. Bemerkenswerterweise ist es das gleiche Lager von jungen Pro-Putinisten, das Herr Putin regulär selbst besucht, der sich an der Gehirnwäsche der russischen Jugend aktiv persönlich beteiligt.
2009 begann auch der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) eine Aktivierung der subversiven Tätigkeit der zukünftigen (also der heutigen) Separatisten im Osten der Ukraine zu registrieren.
Wie wir sehen, wurde der Krieg des Herrn Putin gegen die Ukraine tatsächlich lange und sorgfältig vorbereitet.
Zweitens ist der heutige Krieg gegen die Ukraine ein langer Krieg, weil er schon seit 16 Monaten geführt wird. Er wurde offiziell am 27. Juli 2013 erklärt, und zwar in einer Rede, die Herr Putin anlässlich des 1025. Jahrestages der Taufe von Kyjiwskaja Rus in Kyjiw gehalten hat. Dieses Datum wurde zum Datum der Erklärung des sogenannten hybriden Krieges gegen die Ukraine, inklusive eines Informationskrieges. Zwei Tage nach dieser Rede erklärte der Hygiene-Chefarzt Russlands Herr Onischtschenko über den Beginn eines Sanitätskrieges gegen die Ukraine. Nachfolgend begann der wirtschaftliche, der finanzielle und der diplomatische Krieg.
Am 9. November 2013 wurden die bereits geführten Methoden des hybriden Krieges gegen die Ukraine mit einer banalen Erpressung ergänzt. Herr Janukowytsch, der nach Russland eingeladen und auf eine Militärbasis gebracht wurde, wurde einem beispiellosen Druck ausgesetzt – im Falle eines Abschlusses des Assoziierungsabkommens mit der EU versprach Putin, der Ukraine erst Sewastopol und dann die Krim abzunehmen, und später – acht Gebiete der südöstlichen Ukraine. Zwei Wochen später verzichtete der psychologisch gebrochene Janukowytsch auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU.
Der konventionelle Krieg gegen die Ukraine (unter Einsatz von konventionellen Waffen) begann im Januar 2014 mit den Morden an Maidan-Aktivisten. Offiziell begann er am 20. Februar 2014, vier Tage vor der Flucht des Herrn Janukowytsch aus der Ukraine. Dieses Datum wurde durch das Verteidigungsministerium Russlands bekanntgegeben, das die Medaille „Für die Rückkehr der Krim“ geprägt und darauf die Daten der militärischen Operation gegen die Ukraine „20. Februar -18. März 2014“ platziert hatte. Auf diese Weise begannen die konventionellen Kriegshandlungen gegen die Ukraine zwei Tage vor der Unterzeichnung des Abkommens von Janukowytsch mit den drei Oppositionsanführern in Gegenwart von drei europäischen Ministern und vier Tage bevor Janukowytsch vom Territorium der Ukraine mit einem russischen Kriegsschiff flüchtete. Folglich konnte die russische militärische Operation weder eine Reaktion auf die Maidan-Revolution noch eine auf die Flucht des ukrainischen Präsidenten sein. Ich wiederhole mich nochmal: die russische konventionelle militärische Aggression fing an, als Janukowytsch noch immer der legitime und bevollmächtigte Präsident der Ukraine war. Es war weder eine Operation „für Janukowytsch“ noch eine „gegen den Maidan“, es war eine Operation gegen Janukowytsch und gegen den Maidan, es war eine Operation gegen die Ukraine.
Und schließlich ist es ein langer Krieg von dem Standpunkt aus, dass das Ende dieses Krieges leider nicht in Sicht ist. Die Ziele, die von Herr Putin in der Ukraine verfolgt werden, sind noch immer nicht erreicht. Nach dem zu beurteilen, was Herr Putin sagt und tut, nach der Konzentration der russischen Streitkräfte im östlichen Donbas, gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieser Krieg bald zu Ende gehe. Offensichtlich wird dieser Krieg ein langer.
4. Man sollte besonders hervorheben, dass dieser Krieg ein putinscher Krieg nicht nur gegen die Ukraine ist. Man kann und soll auf diesen auch aus anderen Perspektiven schauen.
Dieser Krieg ist eine direkte Fortsetzung des russisch-georgischen Krieges, über den Petras in seiner Eröffnungsrede sprach. Die heiße Phase jenes Krieges begann 2008, aber sie kann noch immer nicht als abgeschlossen gelten, denn beträchtliche Territorien Georgiens sind noch immer von ausländischen Streitkräften besetzt und sind außerhalb der Kontrolle der georgischen Regierung. Bei den Prozessen, die zur jetzigen Zeit im politischen Leben Georgiens stattfinden, ist es auch nicht schwer, Spuren der russischen Einmischung zu entdecken, selbst in den letzten Wochen.
Und solche Spuren sind leider nicht nur in Georgien zu sehen.
Vor über einem Jahr wurde Armenien infolge des ungeheueren Drucks und Erpressung seitens Herrn Putin gezwungen, auf seine Absicht, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, zu verzichten.
Zurzeit führt die russische Obrigkeit im Schnelltempo den Bau einer Verkehrsstraße von Machatschkala bis nach Tbilisi durch (die sogenannte Awaro-Kachetinsk-Straße ): Die Arbeiten werden 24 Stunden am Tag geführt, ohne Pausen. Die Gesamtkosten dieses Projekts belaufen sich auf 1,5 Milliarden Dollar. Die Verkehrsstraße durchschneidet den Hochgebirgs-Kaukasus und geht auf seiner südlichen Seite in den Flusstälern von Alasani und Kura raus, in einer strategisch wichtigen Gegend an der Grenze Georgiens und Aserbaidschans, in unmittelbarer Nähe zu Tiflis, Armenien und Karabach. Indem auf diese Weise ein Landkorridor zwischen Russland und Armenien gebaut wird, bekommen russische motorisierte Schützenbrigaden und Panzertruppen die Möglichkeit für eine schnelle Verlegung. In diesem Fall wird nicht nur Aserbaidschan, sondern die ganze kaspische und mittelasiatische Region, die reich an Energieressourcen ist, vom Ausgang auf den Weltmarkt über Georgien und Türkei abgeschnitten sein. Die Fertigstellung ist für den März 2015 geplant. Ich erinnere noch einmal: die Arbeiten werden 24 Stunden am Tag geführt.
Hier wurde schon über Probleme in Moldau gesprochen, inklusive seiner Region Transnistrien.
Auch wurden potentielle Komplikationen mit Kasachstan erwähnt. Am 29. August erklärte Herr Putin, dass Kasachstan historisch gesehen nie eine Staatlichkeit besaß, die nämlich ausschließlich dank der Anstrengungen solch‘ eines einmaligen Menschen wie Präsident Nasarbajew erschaffen wurde. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl und bedeutet, dass Kasachstan seine jetzige Staatlichkeit auch verlieren kann, wenn es an der Spitze keinen Nasarbajew mehr gibt.
Noch ein Gebiet der aggressiven Ambitionen sind die baltischen Staaten, worüber heute auch schon gesprochen wurde. In den letzten Wochen wurden mehrere Versuche der Durchführung von Störmanövern in Lettgalen (Ostlettland) registriert. Die Mehrheit der Bevölkerung von diesen Gegenden sind ethnische Russen sowie Russischsprachige. Die genannten Provokationen und subversive Tätigkeiten laufen nach demselben Szenario ab, nach dem sie gerade auf der Krim und im Osten der Ukraine abgelaufen sind. Wenn wir vor ein paar Monaten über die Möglichkeit einer russischen Aggression in Lettgalen und nordwestlichem Estland vom rein hypothetischen Standpunkt aus sprachen, so haben diese Provokationen diese nun zur Realität gemacht. Das ist etwas, was direkt vor unseren Augen geschieht. Wenn auf den Territorien des östlichen Estlands und Lettlands plötzlich irgendwelche Quasi-Formationen wie „Volksrepublik Narwa“ und „Volksrepublik Lettgalen“ ausgerufen werden, so könnte die Frage, die Europa Ende der 30er des letzten Jahrhunderts quälte: „Sind Europäer bereit, für Danzig zu sterben?“, in neuen Formulierungen wiederbelebt werden: „Sind Europäer bereit, für Narwa, Lettgalen, Daugavpils zu sterben?“
Und schließlich ist es ein Krieg gegen Russland, gegen die russischen Bürger. Das ist ein russischer Bürgerkrieg. Das ist ein durch das Kremlregime organisierter Krieg des russischen Lumpenproletariats und Kriminellen gegen den zivilisierten Teil der russischen Gesellschaft. Die „heiße“ Phase dieses Krieges findet gerade im ukrainischen Donbas statt, seine „warme“ Phase begann bereits auf dem Territorium Russlands.
5. Die Herausforderung, um die es sich handelt, ist eine Herausforderung nicht nur für die Staaten, die auf dem postsowjetischen Raum entstanden sind. Das ist eine sehr ernsthafte Herausforderung für die EU und die NATO. Und diese Organisationen, wie Andrej Piontkowski zu Recht anmerkte, haben auf diese Herausforderungen keine fertigen Antworten.
Somit haben wir hier mit Revanchismus, Revisionismus und Aggression nicht nur auf dem Territorium des postsowjetischen Raumes zu tun, wie zum Beispiel im Fall der Ukraine und Russland, was viele von uns noch vor ein paar Monaten hätten denken können. Wir haben es mit einer Gefahr zu tun, vor welcher das gesamte Europa steht. Das ist eine Gefahr, vor welcher die Europäische Union und die NATO stehen. Offensichtlich ist eine der Ideen des Aggressors folgende: Indem man die Territorien Estlands und Lettlands als einen Destabilisierungshebel benutzt, erpresst man die europäischen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einrichtungen und versucht auch deren Ohnmacht zu demonstrieren, parallel noch das ganze Sicherheitssystem zerstörend, das in Europa im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte aufgebaut wurde, insbesondere angefangen mit der Berliner Krise von 1961 und der Karibik-Krise von 1962.
6. Aber das ist noch nicht alles. Ungefähr vor einem Monat trat Herr Putin bei der Versammlung des sogenannten Waldajski-Club mit einer Rede auf. Ich würde seinen Auftritt als eine Sotschi-Rede bezeichnen, deren Bedeutung schwer zu überschätzen ist und mit der sich jeder europäische Politiker, politischer Anführer und Experte vertraut machen sollte. Diese Rede sollte man aufmerksam lesen, und sie im modernen sowie im historischen Kontext begreifen.
Manche Experten, verbissen am vom Kreml ausgeworfenen propagandistischen Hacken, haben sich beeilt, diese Rede als ein Analogon zur Fulton-Rede zu bezeichnen. Dieser Vergleich ist von Grund auf falsch. Diese Rede hat nichts mit der Fulton-Rede von Winston Churchill gemeinsam. Weder vom ihren Inhalt her, noch vom Ort ihrer Äußerung, noch vom Charakter ihres Autors. Ich musste einen Vergleich dieser Rede mit ihrem historischen Analog durchführen. Das ist keine Fulton-Rede. Das ist die Ansprache aus Berchtesgaden.
Im August 1939 schrieb Adolf Hitler, der sich in Berchtesgaden befand, seinem Lieblingsruheort im Süddeutschland, zwei Briefe an den Premierminister von Großbritannien Neville Chamberlain. Diese Briefe sind mit dem 23. und dem 25. August datiert. Darin ging der deutsche Führer bedeutend weiter, als nur einen Anschluss von Österreich oder Sudeten zu fordern. Er bot Chamberlain einen Plan zur Neuverteilung der Welt zwischen dem Deutschen Reich und dem Britischen Imperium an.
Beim Vergleich der Sotschi-Rede von Herr Putin mit den zwei Berchtesgadener Briefen von Hitler ließen sich 25 faktisch identische Textübereinstimmungen finden: fast Wort für Wort, Satz für Satz, Idee für Idee.
Vor ein paar Monaten lenkte Putin die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf seine Pläne der Erschaffung einer gewissen „Russischen Welt“, die eine Wiedervereinigung der Landsleute und ihrer Nachfahren unter einem staatlichen Dach voraussetzte. Aber schon jetzt sehen diese Pläne etwas veraltet aus.
Jetzt wurden die Einsätze schlagartig erhöht. Nun bietet Putin an, die ganze Weltordnung zu ändern, das ganze Weltsystem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat, das im UN-Statut und in zahlreichen Dokumenten festgelegt wurde, das sich auf die Prinzipien von Nichtanwendung von Gewalt stützt, auf die Unverletzbarkeit der Grenzen, auf die Souveränität der Staaten, auf das souveräne Recht der Nationen auf einen Beitritt zu internationalen Bündnissen nach ihrem eigenen Willen.
Somit haben wir es nicht mehr mit einem regionalen Problem zu tun, unabhängig davon wie wichtig das Problem des putinschen Krieges gegen die Ukraine auch ist. Mehr noch, wir haben es heute nicht nur mit dem potentiellen Krieg Putins gegen die unmittelbaren russischen Nachbarn auf dem postsowjetischen Raum zu tun. Und – wie ungeheuerlich es auch klingen mag – es geht hier nicht mal um die Entstehung einer Bedrohung der Kriegsentfesselung in Europa gegen die Mitglieder der EU oder NATO. Heute treffen wir nicht einfach nur auf Revanchismus. Das ist eine Politik der Revision des ganzen Systems der internationalen Beziehungen und der Weltsicherheit.
Das ist ein Versuch, die Weltordnung zu ändern, die sich im Laufe der letzten sieben Jahrzehnte herausgebildet hat. Die Kremlpropagandisten formulieren das Wesen der Tätigkeit der russischen Obrigkeit absolut deutlich: das ist der Vierte Weltkrieg. In ihren Kalkulationen wird der Kalte als der Dritte Weltkrieg bezeichnet, und jetzige Kriegshandlungen nennen sie Vierter Weltkrieg, der mit dem Ziel, die existierenden Regeln der Weltbeziehungen zu ändern, geführt wird.
7. Nun kommen wir zum Diskurs über eine äußerst wichtige Frage: Wie realistisch ist das Ziel, das von Putin angegeben wurde? Ist es möglich, die weltlichen Spielregeln unter der Bedingung zu ändern, dass die Ressourcen, die zur Verfügung des Herrn Putin stehen, unvergleichbar kleiner als insbesondere die NATO-Ressourcen und die des Westens im Ganzen sind?
Auf welche Weise kann man eine Regelveränderung zu seinen Gunsten unter solchen Umständen erreichen? Die Mehrheit der Analytiker findet diese Absichten unrealistisch, unbegründet, sogar lächerlich. Der Vergleich von demografischen, wirtschaftlichen, militärischen und sonstigen Ressourcen, die zur Verfügung von beiden Lagern stehen, demonstriert eine gewaltige Überlegenheit des Westens. Es scheint, als ob es keinen Sinn zu denken hätte, dass bei so einem Rückstand irgendjemand auf einen Erfolg bei einer ernsthaften Konfrontation hoffen könnte.
Um diese Fragen zu beantworten, sollte man sich der militärischen Theorie und Praxis zuwenden. Der heute geführte Krieg nennt sich anders: „hybrid war“, „unkonventioneller Krieg“, „nichtlinearer Krieg“.
Eine der wichtigsten Charakteristika, die zurzeit benutzt wird, ist der sogenannte „asymmetrische Krieg“. Im gewöhnlichen militärischen Konflikt haben zwei Seiten vergleichbare Ressourcenvolumen und „Willenskräfte“ zur Verfügung. Aber man kann sich auch eine Situation vorstellen, bei der eine Seite viel mehr Ressourcen hat, aber einen schwächeren Willen als ihr Gegner besitzt. Und ihr Opponent hat weniger Ressourcen, aber eine stärkere Willenskraft. In diesem Fall bleibt der Konfrontationsausgang unklar. Die Geschichte hält nicht wenige Beispiele für uns parat, bei denen die eine Konfliktseite, die aggressiver, folgerichtiger, entschlossener war, Erfolg und sogar einen Sieg erreichen konnte. Diejenigen, die behaupten, dass so eine Konfrontation unmöglich sei, weil die Ressourcen unvergleichbar seien, müssen an den Faktor der Willenskraft denken.
Außerdem sind im Laufe dieser Konfrontation zumindest zwei Elemente wichtig, die man ununterbrochen im Auge behalten sollte. Eins von diesen Elementen wurde hier schon erwähnt. Das ist der Informationskrieg. Genauer gesagt: der Desinformationskrieg.
Dieser Krieg wird auf dem Territorium Russlands geführt, und auch außerhalb seines Territoriums; nicht nur auf dem Territorium des postsowjetischen Raumes, sondern auf der ganzen Welt. Die Verbreitung der Informationen und Desinformationen hat keine Grenzen. Der Desinformationskrieg wird nicht nur auf Russisch, sondern auch auf Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und in anderen Sprachen geführt.
In vielen sozialen Netzwerken in verschiedenen Ländern operieren Soldaten und Offiziere der Desinformationsstreitkräfte, die im Dienst des Kreml stehen und in Sprachen verschiedener Völker koordiniert operieren. Diese Desinformationsstreitkräfte versuchen eine andere Geschichte, ein anderes Weltbild, eine andere Vorstellung über die Weltordnung und die Welt an sich zu erschaffen. Leider muss man zugeben, dass sie darin einen gewissen Erfolg nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern erreicht haben. Das muss man im Auge behalten. Eine Gesellschaft, die sich gegen diese Desinformation nicht durchsetzen kann, wird früher oder später Opfer der Aggression. Zuerst der informativen Aggression, und dann – einer anderen.
Ein weiteres Element der neuen Konfrontation wurde schon von Andrej Piontkowski erwähnt. Das ist die nukleare Erpressung, die eine der gefährlichsten Komponenten des neuen Krieges ist. Jeder verantwortungsbewusste Politiker, alle ernstzunehmenden politischen Kräfte Europas, Nordamerikas, der restlichen Welt sind bereit, faktisch alles von ihnen Abhängige zu tun, um einen nuklearen Konflikt zu vermeiden. Und das verstehen ausgezeichnet und nutzen darum auch die Kremlrevanchisten und Revisionisten zynisch aus.
Eben darum wird die Abmachung, die dem Westen in der Sotschi-Rede sowie in anderen Auftritten angeboten wird, absolut deutlich formuliert: Entweder Ihr akzeptiert die neuen Regeln der Weltordnung oder Ihr werdet es mit einer „Atomwaffengroßmacht“ zu tun haben. Auf diese Art der Herausforderung hat die zivilisierte Welt noch keine fertige Antwort.
8. Was kann man denn tun?
Ich habe nicht mehr so viel Zeit, darum formuliere ich meine Gedanken bezüglich dessen äußerst kurz.
Es gibt drei mögliche Antworten auf die gemachten Angebote. Die erste ist: sich zu ergeben. Also, das Angebot von Herr Putin anzunehmen. Nehmen wir an, dass neue Regeln des Lebens der Weltöffentlichkeit nun aufgestellt werden, eine neue Weltordnung erschaffen wird, und dabei wird diese neue Weltordnung auf dem Recht des Stärkeren basieren, dem Schwächeren seinen Willen zu diktieren.
Existierende Fragen werden ausgehend von der Position der Stärke aus gelöst. So eine Herangehensweise werden insbesondere die schwächsten und kleinsten Staaten zu spüren bekommen.
Zweite Antwort: zu versuchen, einen Kompromiss zu finden. Dieses Szenario bieten einige russische Politiker an: „Ja, wir (Russland) waren womöglich im Unrecht, als wir die Krim annektiert und eine Intervention in die Ostukraine durchgeführt haben. Aber hier kann man nichts mehr ändern, darum muss man die Situation so akzeptieren, wie sie ist, und die neuen Grenzen und den neuen Status Quo festlegen.“ Diese Neue Ordnung nennen wir mal ein Kompromiss.
Und die dritte Antwort: dem Aggressor einen Widerstand zu leisten. Ich sehe keinen Sinn, die ersten zwei Szenarien zu besprechen, die sich im Grunde kaum von einander unterscheiden, denn das zweite Szenario führt am Ende zum selben Resultat wie das Erste: zur Kapitulation der zivilisierten Welt vor dem Aggressor. Die dritte Antwort – die Widerstandsvariante – verdient dagegen eine ernsthafte Diskussion.
9. Ich benenne die wichtigsten Elemente der dritten Antwort – des Widerstandes. Sie beinhalten Massnahmen auf mindestens sieben Ebenen der Tätigkeit auf fünf Kriegsschauplätzen.
Sieben Ebenen der Tätigkeit
Zuallererst muss man die Natur des entstandenen Problems verstehen, sich vom rein analytischen/wissenschaftlichen Standpunkt aus damit vertraut machen. Zweitens braucht man eine Informierung und Ausbildung sowohl der politischen Anführer als auch der breiten Gesellschaftsschichten, basierend auf den gewonnenen Forschungsergebnissen.
Drittens ist die Führung eines Anti-Desinformationskrieges notwendig, denn in der Atmosphäre der totalen Desinformation ist ein Sieg unmöglich. Das ukrainische Beispiel zeigt uns, dass dort sogar spezielle Organisationen erschaffen werden müssten, die sich ausschließlich mit Aufdeckung der Desinformationen beschäftigen sollten, die gegen die Ukraine gerichtet sind; damit, wie solche Desinformationen erschaffen, fabriziert und verbreitet werden. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nichts für Dilettanten ist, sie erfordert Fertigkeiten, Ressourcen und Konsequentheit.
Der vierte Punkt bezieht sich auf die Ebene des internationalen Rechts. Die existierenden Definitionen der Aggression, die Formulierungen der Prinzipien des Nichtangriffes und anderer Prinzipien entsprechen den neuen Realien nicht mehr. Unter den Bedingungen des hybriden Krieges nimmt die Aggression Formen an, die nicht mehr unter die standardisierten Definitionen fallen. Die Informationsaggression fällt nicht unter den Begriff, der von der UN-Generalversammlung festgelegt wurde. Die neuen Arten der Aggression fordern eine adäquate Abbildung im System des internationalen Rechts.
Die fünfte Ebene des Widerstandes ist die Wirtschaft.
Die sechste Form des Widerstandes ist die Energiewirtschaft. Ich möchte hier den soliden Schritt, den Litauen vor kurzem gemacht hat, erwähnen. Dort ist ein neues Gasterminal gebaut worden, und ab Dezember wird Litauen womöglich zum ersten europäischen Staat, der vollständig von der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen befreit ist. Das ist ein ernsthafter Schritt in richtige Richtung.
Und schließlich sollte man der Notwendigkeit einer adäquaten Antwort in rein militärischem Bereich größte Aufmerksamkeit schenken. Bei aller Aufmerksamkeit zu den unkonventionellen Elementen der hybriden Kriege sind die vorstoßenden Panzer unter Bedingungen eines konventionellen Konflikts schwer mit Hilfe von Decken aus humanitärer Hilfe und schön formulierten Resolutionen aufzuhalten.
Fünf Schauplätze der Kriegshandlungen
Erstens ist es das sogenannte „alte Europa“ (hauptsächlich die EU-Mitglieder).
Zweitens ist es das „neue Europa“, in erster Linie die „frontnahen Staaten“, die an den Aggressor grenzen (die baltischen Staaten und Polen).
Drittens ist es die Ukraine, die gerade die zentrale Position an der Frontlinie einnimmt. Die Ukraine braucht eine Unterstützung aller möglichen Art: politischer, wirtschaftlicher, technischer, Spezialisten, Bildung usw.
Viertens, andere Länder des postsowjetischen Raumes, die entweder schon ein Aggressionsopfer sind, oder es potentiell werden könnten.
Und schließlich Russland, russische Bürger, russische Gesellschaft, russisches Volk.
10. Das ist mein letzter Punkt.
Wir müssen verstehen, worin das strategische Ziel des zurzeit geführten Krieges besteht. Wir haben den Weg des Krieges nicht gewählt, wir wollten keinen Krieg, der Krieg wurde uns aufgezwungen.
Wir müssen in diesem Krieg siegen. Wir alle – freie russische Bürger, Bürger der an Russland angrenzenden Staaten, Bürger Europas und der ganzen zivilisierten Welt.
Strategisch kann dieser Krieg nur gewonnen werden, wenn Russland ein freier demokratischer Staat wird. Solange Russland eine autoritäre Diktatur ist, bleibt es eine Bedrohungsquelle für seine Bürger, für seine Nachbarn, für seine Umgebung. Einer der angesagtesten Leitsätze Europas ist der Leitsatz: „Europa muss frei, demokratisch, einig und friedlich sein.“ Dieses edle Ziel kann nur in dem Fall erreicht werden, wenn Russland frei und demokratisch wird, wenn es im Frieden mit all seinen Nachbarn im Rahmen der Grenzen leben wird, die von der Weltöffentlichkeit anerkannt wurden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Quelle: Auftritt von Andrej Illarionow im EU-Parlament am 19. November 2014, Abschrift seiner Rede in seinem Blog; übersetzt von Irina Schlegel
3 Responses to “Andrej Illarionow. Auftritt im EU-Parlament am 19.11.2014”
13/12/2014
Putins falscher Krim-Orden: Schon geprägt bevor der Krieg begann | EUROMAIDAN PRESS | News and Opinion from Across Ukraine[…] Wirtschaftsfachmann Andrej Illarionow hat das in seiner Rede vor dem EU-Parlament am 19. 11.14 – die gesamte Rede wurde dankenswerterweise von Irina Schlegel für Burkonews komplett übersetzt – so […]
18/12/2014
Operation "Clockwork Orange": wie der Krieg gegen die Ukraine schon in 2008 in Russland besprochen wurde. - InformNapalm.org (Deutsch)InformNapalm.org (Deutsch)[…] ist ein Artikel, erschienen auf der russischen Website russ.ru am 21. April 2008 (!). Davon hat Illarionow in seiner Rede im EU-Parlament am 19. November 2014 gesprochen. Wir haben beschlossen, den Artikel zu übersetzen, um dem breiten Publikum […]
28/12/2014
Putins falscher Krim-Orden: Schon geprägt bevor der Krieg begann | Euromaidan Press auf Deutsch | Unabhängige Informationsquelle über die aktuellen politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Ereignisse in der Ukraine[…] Wirtschaftsfachmann Andrej Illarionow hat das in seiner Rede vor dem EU-Parlament am 19. 11.14 – die gesamte Rede wurde dankenswerterweise von Irina Schlegel für InformNapalm komplett übersetzt – so […]