
von Sergei Dzajuk
Sehr geehrte Russen! Als sich die ganze Welt am 8. Mai 2015 an das Ende des europäischen Teils des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren erinnert (Victory in Europe Day), feiern Sie am 9. Mai 2015 den 70. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Man möchte fragen: Was genau macht Sie so stolz?
Der Stolz auf einen Sieg vor 70 Jahren ist eh ziemlich verdächtig, denn nach so einer langen Zeit sollte man andere Anlässe zum Stolz-Sein bekommen haben, um sie genauso in den Rang von Symbolen und Orientierungspunkten der Staatspolitik zu erheben.
Aber die heutige russische Propaganda erhob ausgerechnet diesen Sieg in den Rang eines allgemeinen Volkskults und genau diesen Sieg nutzt sie für die Militarisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins Russlands aus, indem sie seine Aggressivität stimuliert und den Hass gegen den Westen und die Ukraine leitet, die sich in letzter Zeit immer stärker auf den Westen orientiert.
Man möchte Sie, Russen, daran erinnern, dass die UdSSR nicht der einzige Sieger im Zweiten Weltkrieg war, dass zusammen mit der Sowjetunion die Sieger auch die USA und Großbritannien waren, dass auch andere Länder Europas ihren Beitrag zum Sieg geleistet haben, einschließlich der antinational-sozialistischen Kräfte Deutschlands und der antifaschistischen Kräfte Italiens.
Unabhängig davon, was Ihnen die russische Propaganda erzählt, möchte man doch erklären, warum die Verbündeten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die Vertreter der Mehrheit der Länder der Welt, die gegen den Nationalsozialismus Deutschlands, den Faschismus Italiens und den Militarismus Japans 1939-1945 gekämpft hatten, nun den Tag des Sieges mit Ihnen in Moskau nicht feiern.
Die ganze Welt hat nämlich andere Gedächtnismethoden als Russland: Die Welt feiert das Andenken an das Ende des europäischen Teils des zweiten Weltkrieges, und Russland feiert aber den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, wobei es selektiv die Teilnehmer just seines Festes einlädt/empfängt, womit es die Weltaufteilung auf „unsere“ und „fremde“ durchführt.
Die stalinistische Propaganda nannte diesen Krieg den Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945, um die separatistische Zusammenarbeit und die Aufteilung von Besatzungszonen Europas zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistisch-sozialistischen Sowjetunion 1939-1941 zu verheimlichen, die im Ribbentrop-Molotow-Pakt 1939 festgehalten wurden, der nun in der russischen Wikipedia verschämt und verlogen als „Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR“ bezeichnet wird, und die Aufteilung der Besatzungszonen – als die „Demarkation von Zonen beiderseitiger Interessen für den Fall einer „territorial-politischen Umgestaltung“ im Osteuropa“.
Verstehen Sie denn, Russen, dass Sie, indem Sie heute den Sieg in einem durch die sowjetische Propaganda selektiv gewählten Teil des Zweiten Weltkrieges – dem sogenannten Großen Vaterländischen Krieg – feiern, im Grunde den Ribbentrop-Molotow-Pakt rechtfertigen? Verstehen Sie denn, dass indem Sie den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg feiern, Sie somit dieses Rudiment der stalinistischen Propaganda anerkennen, das die moderne russische Führung in ein Symbol ihres antiwestlichen Revanchismus verwandelt hat?
Wer von Ihnen, liebe Russen, erinnert sich daran, dass der Zweite Weltkrieg am 2. September 1945 beendet wurde? Und was denken Sie, warum feiern Sie ihn am 9. Mai, und nicht am 2. September? Warum ging die sowjetische Propaganda so selektiv an die Fixierung Ihres Bewusstseins ausgerechnet am europäischen Teil des Zweiten Weltkrieges heran? Weil unabhängig von der Kapitulation Japans und der Unterzeichnung der Deklaration über das Kriegsende, ein Friedensvertrag zwischen der UdSSR und Japan nie unterzeichnet wurde.
Anders ausgedrückt, feiert Russland den Tag der Besatzung von Osteuropa durch die UdSSR, die damals von diesen Ländern nicht bestritten wurde, aber schon bald begann angefochten zu werden. Die Okkupation der südlichen Kurilen wurde seit jener Zeit und bis zum heutigen Tag von Japan bestritten. Die USA haben die UdSSR im nacheuropäischen Teil des Zweiten Weltkrieges überspielt. Die USA verwirklichten die Okkupation von Japan, was ihnen erlaubte, eine Demokratisierung und Demilitarisierung Japans durchzuführen und was später zu einer freiwilligen Beendigung dieser Okkupation ihrerseits auf dem Weg der Unterzeichnung des Friedensvertrages von San Francisco führte. Die USA bekamen dafür ein ihnen freundschaftlich gesinntes Japan.
Nichts dergleichen verwirklichte die UdSSR in Osteuropa, dessen Okkupation erst mit dem Zerfall der UdSSR beendet wurde. Wobei Russland einen Nachlass der sowjetischen Okkupation in Form von osteuropäischen Ländern bekam, die Russland gegenüber immer auf der Hut, wenn nicht sogar feindlich gesinnt sind. Der Vergleich des politischen Klimas, wirtschaftlichen Zustands und der kulturellen Entwicklung der Länder, die sich in der Einflusszone der USA und Großbritanniens befanden, und der Länder, die in der Einflusszone der UdSSR waren, spricht deutlich zu Gunsten der Erstgenannten. Zu einer positiven Zivilisationsexpansion entpuppte sich die UdSSR als unfähig. Russlands Potenzial für eine positive Zivilisationsexpansion ist noch kleiner: man braucht sich nur den allgemeinen Zustand von Transnistrien, Abchasien und Südossetien anzuschauen.
Seien wir doch ehrlich: Wenn die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg Osteuropa bekam, so haben die USA nach dem Zweiten Weltkrieg faktisch die ganze restliche Welt bekommen. Also, wer ist denn nun der Sieger im Zweiten Weltkrieg? Offensichtlich derjenige, der auch im Dritten (dem Kalten) Weltkrieg gewann. Die heutige russische Führung kann sich noch immer nicht mit der Hegemonie der USA in der Welt abfinden. Eben darum trennte erst die sowjetische und nun auch die russische Propaganda einen Teil der Zeitdauer des Zweiten Weltkrieges, wie auch einen Teil des Territoriums Europas, der am Zweiten Weltkrieg teilnahm und gegen die UdSSR verlor, ab – für die Erschaffung eines beschränkten Stolzes der UdSSR/Russlands.
Faktisch die ganze restliche Welt betrachtet dagegen den Sieg der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg am 9. Mai 1945 als die Errichtung des sowjetischen Regimes, eines von seinem Wesen her imperialistischen Regimes, als eine Okkupation des Osteuropas. Russland demonstrierte der ganzen Welt seine imperialistischen Bestrebungen, indem es nun auf den Territorien Georgiens und der Ukraine imperialistische Kriege entfesselte. Da Russland in seinem Vorgehen, in der Rhetorik seiner Regierung und in der Wahrnehmung der Mehrheit der Russen seine Praxis des paneuropäischen Imperialismus fortsetzt, findet es unvermeidlich eine Rechtfertigung dieser imperialistischen Okkupation in der Vergangenheit.
Man möchte auch erklären, warum das Parlament Polens die Entscheidung traf, den Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg am 8. Mai zu feiern und sich somit vom Fest des 9. Mai zu distanzieren, das in der UdSSR üblich war und auch im modernen Russland beibehalten wird. Polen hat damit alle anderen europäischen Länder aufgerufen, seinem Beispiel zu folgen. Polens Senat merkte bei dieser Entschlussfassung an, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges im Falle der Länder, die durch die Sowjetunion befreit wurden und in welchen sich nachfolgend das nichtdemokratische politische System festsetzte, „schwerlich als ein Triumph der Freiheit anzuerkennen ist“.
Auf diese Weise wurde die sowjetische Befreiung Osteuropas von der nationalsozialistischen Versklavung zu einer neuen imperialistischen, kommunistisch-sozialistischen Unterdrückung. Polens Distanzierung von diesem Fest in Russland ist die Distanzierung vom imperialistischen Diskurs, der die heutige imperialistische Praxis Russlands begleitet.
Die imperialistische Unterdrückung Osteuropas nach dem Großen Vaterländischen Krieg unter der Ideologie des Kommunismus-Sozialismus führte nicht nur zum Zerfall des Kommunismus-Sozialismus selbst, sondern auch zu Osteuropas Ablösung von der Zone des russischen Einflusses in den 80-90er Jahren des XX. Jahrhunderts. Das heutige Projekt der Europäischen Union stellt ein ganz anderes Niveau der Freiheit, gleichberechtigter Vertragsbeziehungen und Zusammenarbeit dar, was dem postsowjetischen Russland anzubieten noch immer nicht gelungen ist. Eben darum ist die Ukraine gezwungen, auf die Herstellung engerer Beziehungen mit dem imperialistischen Russland zu verzichten.
Warum feiert die Ukraine den Tag des Sieges nicht zusammen mit Russland?
In Russland feiert man den Sieg eines Vaterlandes, das es längst nicht mehr gibt. Indem es diesen Sieg weiterhin „Vaterländisch“ nennt, nationalisiert Russland im Grunde diesen Sieg und versagt der Ukraine, Kasachstan, Belarus, Estland, Lettland, Litauen und anderen Ländern – ehemaligen sowjetischen Republiken, die bereits keinerlei Bezug zum Vaterland Sowjetunion mehr haben – das Recht auf diesen Sieg.
Der heutige Führer Russlands erklärte 2010 öffentlich und absolut ernst, dass Russland auch ohne die Ukraine diesen Krieg gewonnen hätte. Die Frage hier ist nicht nach einer Aufrechnung der demographischen Verluste der Ukraine und nicht nach einer Aufrechnung des wirtschaftlichen Potenzials der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs.
Es geht ums Prinzip: Die Russen haben diese Herangehensweise ihres Führers akzeptiert, die in der Russifizierung des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg besteht, indem es der Ukraine das Recht vorenthält, Sieger zu sein. Anders ausgedrückt, versucht Russland anderen Völkern der Sowjetunion den Sieg zu stehlen, es wünscht, als einziger Erbe dieses Sieges dazustehen.
Mehr noch, die russische Führung initiierte und bereitete 2014 einen Krieg gegen die Ukraine vor, indem es die Krim annektierte und den Aufstandskrieg im Donbas entfesselte, und weiterhin Militärtechnik, Munition wie auch russische Soldaten und Offiziere dahin einschleust, wobei es sein Vorgehen abstreitet, also öffentlich das eigene Volk und die Völker anderer Länder der Welt belügt. Auf diese Weise hat Russland durch seine Handlungen nicht nur das Vertrauen zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk untergraben, sondern auch das Andenken unserer Großväter verraten, die im Zweiten Weltkrieg Seite an Seite kämpften.
Die russische Führung verwirklichte einen allumfassenden Informationskrieg, in dem es die Ukrainer für ihren Wunsch, ihre geopolitische Ausrichtung selbst zu definieren, erniedrigt und verleumdet. Die Ukrainer unterstützen in ihrer absoluten Mehrheit weder den Nationalismus noch den Faschismus, was auch die Resultate der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2014 bestätigen, die russische Propaganda drängt aber weiterhin die Vorstellung über eine totale Faschisierung der Ukraine auf.
Heute bedroht Russland Europa und die ganze Welt mit seiner Aggression, und verwandelt sich dabei in jenen, gegen den es 1941-1945 kämpfte. Russland benutzt faschistische und nationalsozialistische Praktiken in seiner Politik, unterstützt sowohl extremistische als auch offen nationalistische Anführer Europas. Russland bedroht die ganze Welt mit Atomwaffen und zerstört dabei die Weltordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete. Indem es die Rhetorik des Sieges und Krieges aktualisiert, bereitet sich Russland im Grunde auf einen neuen Krieg vor.
Russland zog keine Lehren aus seinem Sieg 1945. Russland setzt exakt die gleiche imperialistische, militaristische Politik fort, wie Deutschland es in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts tat, was zu seiner Zeit auch zum Ersten, und dann zum Zweiten Weltkrieg führte.
Russland hat noch immer das Wesen des Zweiten Weltkrieges und das Wesen des Sieges in diesem Krieg nicht erfasst, hat diese gedankliche Verarbeitung in einen gesellschaftlichen Diskurs nicht ausgestaltet und berücksichtigt diese in der aktuellen Politik auch nicht.
Russland zog auch keinerlei Schlussfolgerungen aus seiner Niederlage 1991.
Der Verzicht der postsowjetischen Länder, Russland in seiner Zivilisationsfahrbahn zu folgen – genau das ist auch seine Niederlage. Die Zuspitzung der Situation bis zu einem Krieg gegen Georgien und die Ukraine – das ist die endgültige Niederlage des russischen Zivilisationsprojekts.
Wenn man den Dritten (Kalten) Weltkrieg verlor, ist es sinnlos, den Zweiten Weltkrieg erneut durchzuspielen, was Russland heute zu tun versucht.
Die Welt ist nicht berechtigt, Russland zu verbieten, seinen eigenen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg so zu feiern, wie das seine Führung und sein Volk verstehen. Aber die Welt kann und soll Russland das Recht auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg zumindest deswegen verweigern, weil das Resultat von diesem die Versklavung der osteuropäischen Völker war.
Den Sieg in einem Weltkrieg feiert man nicht alleine oder nur mit den Seinen.
Den Sieg in einem Weltkrieg feiert man mit der ganzen Welt. Wenn die Verbündeten in einem Weltkrieg keine Verbündeten mehr sind, wenn sich die Mehrheit der Welt gegen Russland erhob, so bedeutet es nur, dass irgendetwas in Russland selbst nicht stimmt.
Die Welt erkennt das Recht Russlands auf den Sieg im Vaterländischen Krieg an.
Die Welt verweigert Russland das moralische Recht auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Quelle: Sergei Dazjuk in pravda.com.ua; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf den Autor und unsere Quelle erforderlich.