
Interview mit dem Regisseur Christian Jereghi, einem Teilnehmer des russisch-ukrainischen Konflikts.
– Du hast Russland verlassen und bist nach Kyjiw zum Maidan gefahren. Warum hast du beschlossen, dein Leben für einen Dokumentarfilm zu riskieren?
– Die Frage ist nicht ganz richtig gestellt. Ich habe tatsächlich Russland verlassen. Als ich wegfuhr, habe ich sehr gehofft, dass ich mich jetzt, bei diesem zweiten Versuch, endlich von Russland verabschiede.
Den ersten Versuch Russland zu verlassen, hatte ich schon 2010 unternommen. Als ich nun 2013 in die Ukraine kam, habe ich mit meinem Vater Waleriu Jereghi an einem Film gearbeitet. Das war Ende Sommer-Anfang Herbst 2013. Im Winter fing der Maidan an.
Ich denke, Moldau (der Regisseur ist aus Moldau, Anm.d.Übers.) ist dieses Gefühl sehr nah: Der Maidan und die Große Nationalversammlung sind sich irgendwie ähnlich. Es gibt viele veränderungssüchtige Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihren Wünschen.
Mir hat sich diese phänomenale Welt gleich am ersten Tag erschlossen. Sehr schnell habe ich die Kamera in die Hände genommen und angefangen, einen Film darüber zu drehen – er erschien im Zyklus Babylon’13 zusammen mit den Arbeiten von anderen bekannten Regisseuren in der Ukraine. Ihn haben sehr viele Ukrainer angeschaut, besonders solche, die im Ausland leben. Und dabei begann alles als eine informelle kleine Organisation – ein Internetkanal auf Youtube. Ich erinnere mich, wie wir uns gefreut haben, als es die ersten 50.000 Klicks gab… und bald waren es schon Hunderttausende. Nun ist Babylon’13 eine Marke. Und auch ein kommerzielles Projekt, es wird verkauft. Ich möchte nicht weiter in einer kommerziellen Struktur arbeiten, die ursprünglich eine freiwillige war, also mache ich jetzt meinen eigenen Film.
– Welche Botschaft enthält der Film, den du jetzt machst?
– Jetzt drehe ich eine Doku, in der Soldaten, die gerade an der vordersten Linie kämpfen, über ihr Leben erzählen, über ihre Wahl, über ihre Verpflichtung ihrem Land gegenüber. Sie sind alle keine professionellen Soldaten. Sie sind ganz normale Menschen. Viele sind schon über 50, aber sie sind beim ersten Aufruf aufgestanden und sind in den Krieg gezogen, und man muss sagen, in Anbetracht der technischen Überlegenheit der Gegnerseite, sind sie darin sehr erfolgreich geworden.
Die Front ist paradox. Die ATO-Zone ist nicht einfach nur ein Territorium auf der Landeskarte. Es ist wie ein anderes Land. Wenn du dahin kommst, verändert sich alles: dein Weltempfinden, deine Wahrnehmung, all deine Sinne fangen an, ganz anders zu arbeiten. Grausig ist es, einen Arm, Bein zu verlieren, verwundet zu werden. Der Mensch kann sich schwer vorstellen, was passiert, wenn er stirbt.
Da öffnen sich Seele und Herz ganz anders. Da gibt es keinen Platz für Falschheit, gar nicht. Die Menschen sind im Krieg äußerst offenherzig. Da sind ganz einfache Orientierungsmarken: „Unser“ und „Fremder“.
Ich denke, dass die Folgen für die ATO-Teilnehmer vieldeutig werden können. Es ist möglich, dass sich der Staat zu irgendeiner Zeit einfach von ihnen lossagt. Und wir verstehen es alle. Darum dreht sich dieser Film darum, wer sie waren, diese Menschen.
In meinen Bildern sind Armeeangehörige fast aller ATO-Abteilungen festgehalten worden. Ich bin viel durch die Front gereist, und habe mit jedem von ihnen gesprochen.
– Du hast mal im Interview gesagt, dass du den politischen Aspekt in deiner Doku nicht aufwerfen wirst. Warum?
– Die Politik ekelt mich an. Obwohl, wissen Sie, mir angeboten wurde, in die ukrainische Politik zu gehen, sich denjenigen anzuschließen, die sie sauber machen möchten. Es wäre aber komisch: ein Russe mit moldauischen Wurzeln steht an der Spitze irgendsoeiner gesellschaftlichen Bewegung in der Ukraine und zielt auf einen Platz im Parlament. Nein, das will ich nicht.
Ich mag nicht, wenn jemand auf meine Meinung und meine Empfindungen Druck ausübt, oder mich zwingt, mein Verhaltensmodell zu ändern. Auf dem Maidan waren wir Feinde des Staates. Dann sind wir plötzlich zu seinen Verbündeten geworden. Und sind es noch…
– Wie betrachtet ein Regisseur den russisch-ukrainischen Konflikt?
– Im Schachspiel gibt es eine Figurenstellung, die sich „fork“ nennt. Wenn eine Bewegung in eine beliebige vorhandene Richtung zum Verlust einer Figur führt. Nach der militärischen Invasion auf die Krim versucht Putin, ihm persönlich gefällige Grenzen der Ukraine aufzuzwingen. Sein Traum ist es, Erschaffer einer Formation wie „Neurussland“ zu werden. Meiner Meinung nach ist der Erhalt der territorialen Integrität der Ukraine die wichtigste Aufgabe.
– Wie rollen die Ereignisse nach Unterzeichnung der Waffenruhe im Osten der Ukraine ab?
– Zum jetzigen Zeitpunkt wurde eine „Waffenruhe“ ausgerufen, aber die russischen Streitkräfte greifen weiterhin an und bomben Mariupol, Schtschastja, Debalzewe… Die Zusammenstöße erfolgen mehr oder weniger regelmäßig, jeden Tag.
Erst vor drei Tagen habe ich meinen Freund beerdigt, einen Militärkorrespondenten und Kämpfer des Bataillons „Ajdar“. Er ist am Montag unter einem gut ausgerichteten Mörserbeschuss gefallen. Und Sie reden von „Waffenruhe“.
Ich glaube, dass sich die Grenzen der Kriegshandlungen in jede Richtung verschieben könnten. Polen, Rumänien sind nicht ausgeschlossen. Putin hat längst die Verbindung zur Realität verloren. Die russische Armeestärke ist in den Berichten seiner Ministern um ein Zehnfaches übertrieben. Wie apolitisch meine Meinung auch klingen mag, aber… je schneller die Partner der Ukraine, die EU-Länder, verstehen, dass wir es hier mit einem Psychopathen zu tun haben, um so besser ist es.
Was die reale Stärke der russischen Armee angeht, so ist es ein zutiefst, durch und durch korrumpiertes Land. Die russische Armee ist zwar vielköpfig, aber wirr, mit Ausnahme einer sehr begrenzten Anzahl von Stoßtruppen, die schon auf anderen Territorien Krieg geführt haben.
– Ist es wahr, dass die prorussischen Separatisten Gewalt provozieren und die russische Obrigkeit ihnen Waffen liefert?
– Es läuft ein Krieg. Man muss sich nicht wirklich anstrengen, um einen Trupp bewaffneter Armeeangehöriger in der ATO-Zone „zur Gewalt zu provozieren“. Man muss nur in ihre Richtung schießen.
Eine andere Sache ist es, und darin liegt das ganze grauenhafte Paradoxon der jetzigen Situation, dass unsere Seite (die ukrainische) einen Nichtangriffsbefehl hat. Man darf nicht mal das Feuer erwidern. Um nicht zu provozieren.
– Und russische Behörden beliefern die Terroristen mit Waffen?
– Der Personalbestand der bewaffneten Banden in der Ostukraine hat sich im Laufe des Konflikts verändert. Diesen Frühling, vor Beginn der Kriegshandlungen, reiste ich in die Ostukraine und unterhielt mich da mit der Bevölkerung, auch mit bewaffneten Separatisten.
Ursprünglich waren in den zwei Gebieten („DVR“ und „LVR“) Vertreter der russischen Geheimdienste und Gruppen der bewaffneten SEKs aufgetaucht, die Stadtverwaltungszentren und Polizeistationen unter ihre Kontrolle nahmen. Ende Frühling gab es dann spontan zusammengefundene Gruppen, hauptsächlich aus Kleinkriminellen, Lumpenproletariern und anderen „vom Leben benachteiligten“ Menschen. Hauptsächlich handelte es sich um arbeitslose Vertreter der minderbemittelten Bevölkerungsschichten, die der revolutionären Romantik nachgegeben haben und unter Kontrolle des tiefeinwirkenden Instruments der russischen (antiukrainischen) Fernsehpropaganda standen.
Später sind die Separatistengruppen viel heterogener geworden. Es handelt sich um Vertreter „kosakischer“ russischer Gemeinden, Tschetschenen von Kadyrow (Kadyrowzen), Söldner, russische Armeeangehörige, die ihre Schulterklappen abgelegt haben, und überzeugte Nationalisten, Nationalsozialisten, Vertreter von faschistischen Bewegungen, Anarchisten. Die Geheimdienste und die SEKs Russlands waren verschwunden. Dann wurde unter verschiedenen Vorwänden das Auftauchen der russischen Technik und Waffen bei den Separatisten gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigungen war die Story über sogenannte Eroberungen von Waffenlagern in der Ukraine, Eroberungen von Panzerübungsgeländern. Momentan sind russische reguläre Streitkräfte auf die Bühne der Kriegshandlungen gekommen. Aber im Laufe des ganzen Konflikts setzten die Separatisten schwere russische Artilleriegeschütze und Raketenwaffen, neue russische Panzer, Infanteriepanzerkraftwagen sowie Fernlenkflugzeuge der russischen Nachrichtendienste ein.
Die Schützenwaffen „fließen“ auch aus Russland herein: es handelt sich um die neuesten Gewehre AK-101, Scharfschützengewehre, die gerade in die Bewaffnung der russischen Armee eingeführt wurden. All das – Patronen, Blindgänger, zurückgelassene oder verbrannte Waffen – finden wir regelmäßig nach den Gefechten in der ATO-Zone. Denken Sie selbst…
– Was weißt Du über die sogenannten humanitären Konvois aus Russland?
– Es gab eine ganze Panikperiode, die mit den humanitären Konvois aus Russland verbunden war. Man sagte, sie bringen Waffen. Aber sie haben Menschen gebracht, frische Kräfte, und hinausgebracht haben sie das Wertvollste, was es in den Gebieten Luhansk und Donezk gibt: Fabrik-Aggregate zur Herstellung von Ersatzteilen für russische Waffen, unter anderem auch für strategische Raketentruppen (strategische Kernwaffen).
Es hat sich nunmal so ergeben, dass der Löwenanteil der russischen Waffen in der Ukraine produziert und bedient wurde.
– Wenn man die Situation in Transnistrien in Betracht zieht, wie werden deiner Meinung nach die Bürger Moldaus auf einen Konflikt wie den heutigen in der Ukraine reagieren?
– Transnistrien wurde nach einem ähnlichen Drehbuch erschaffen, wie die „neugegründeten Republiken“ auf dem Territorium der Ukraine: militärische Unterstützung Russlands und ein nachfolgendes Bandendiktat auf dem Territorium.
Transnistrien ist genau so eine kriminelle und gesetzwidrige Formation, wie die „DVR“ und „LVR“, und es stellt eine reale Bedrohung dar, im Falle einer Konfliktverschärfung und einem übermäßigen Zuwachs an Putins Interessenzonen. Moldau hat dieses Grauen schon überlebt, verdaut. Es gab auch „Faschisten“, „Nationalisten“, „Volkswehr“, „Friedensstifter“… Ich schäme mich für Moldau, dafür, dass man sich damit abgefunden, den Widerstand aufgegeben hat. Und auch dafür, dass als ein paar Jahre später genau das Gleiche mit der benachbarten Ukraine passiert ist, die Einwohner Moldaus sie nicht allerorts unterstützt haben. Sie haben zu viel Angst vor dem wirtschaftlichen Einfluss… Und die russischen Geheimdienste schlafen nicht, sie machen alles Mögliche, damit Moldau nicht nach Europa kommt. Denn daraufhin würde Transnistrien von allein absterben und zurück nach Moldau kommen.
Ich finde, dass man in Moldau die russischen Fernsehkanäle abschalten muss, genauso wie es in der Ukraine gemacht wurde.
– Dieses Jahr hast du deinen Geburtstag auf dem Maidan gefeiert. Und das hat bestimmt etwas für dich bedeutet. Wie ist jener Tag für dich verlaufen?
– Zu unserer Lebenszeit haben wir erst an einer Revolution teilgenommen, und sofort danach an einem Krieg. Wenn solche Ereignisse geschehen, vergisst du irgendwie dich selbst. Es gibt etwas Gemeinsames. Sogar Silvester haben wir da auf dem Maidan gefeiert. Dieses werden wir wohl in der ATO verbringen, Feuerwerk werden wir mit Artillerie machen…
An meinem Geburtstag war die härteste Phase des Maidan: der nächtliche Sturm, der sich am frühen Morgen in Morde, Schießerei und eine Tragödie mit150 Gefallenen verwandelte. Nachts wurde ich ein wenig durch den Einschlag einer Blendgranate verwundet, die mit Schrauben und Steinen gefüllt und mit Tesafilm umwickelt war (ich hatte wirklich Glück), und das hat mich kurzfristig außer Gefecht gesetzt.
Ich habe recht zivilisiert ein Stück Kuchen gegessen, habe deswegen eine „Pause“ für fünf Minuten gemacht, und dann bin ich arbeiten und meine Sache zu machen gegangen.
– Welches Land empfindest du als deine Heimat, und was bedeutet für dich Patriotismus?
– Der Begriff „Heimat“ ist für mich sehr schwierig. Ich wollte schon immer das fühlen, was in den Büchern, in den Filmen besungen wird: den Kampf um deine Heimat, diese besonderen Gefühle. Aber es gelang mir nie. Ich habe Russland, wo ich geboren und aufgewachsen bin, nie als das Land empfunden, für welches ich mich opfern möchte.
Wahrscheinlich sind wir zu einer sehr schwierigen Zeit geboren, sind in den 1990ern aufgewachsen… Wir alle, Kinder der 90er, sind Kinder ohne ein Heimatgefühl, so denke ich es mir… Moldau, das Land meines Vaters, war für mich immer, verstehen Sie, wie ein Ventil. Ein Ort, wo es schön ist, zu Gast zu sein. Wir sind jedes Jahr nach Moldau gefahren: im Sommer, im Herbst. Als ich 13 war, bin ich zum ersten Mal für längere Zeit aus Russland weggefahren. Habe in Kischinau gelebt, darum ist mir die Stadt auch nicht fremd. Mit 17 bin ich zurück nach Russland gekommen. Ich hatte meine Kindheitserinnerungen an das Land, und nun war ich erstmals allein geblieben, und nahm es als ein schon erwachsener Mensch wahr. Und natürlich, wenn man vom „schlechten“ Leben in Moldau nach Russland flüchtet, kann es auch ein gutes Land erscheinen. Aber ich bin ja nicht geflüchtet, ich bin dort ja aufgewachsen.
Was Patriotismus ist, ein echter, ein offenherziger, nicht „auf Bestellung“ – das habe ich hier in der Ukraine erfahren. Viele Begriffe sind in meinem Kopf erst hier aufgetaucht. Und jetzt will ich bleiben. Ich gehe nicht mehr nach Russland zurück, und dabei verliere ich nicht mal was, eigentlich habe ich nur gewonnen. Ich betrachte die Ukraine wie eine geliebte Frau, die man schützen muss. Ich kann nicht sagen, dass es meine Heimat ist, natürlich nicht. Aber ich kämpfe dafür genauso wie man für eine Heimat kämpft.
Wenn ich in den 1990ern gelebt hätte und Transnistrien liefe vor meinen Augen ab, wäre ich jetzt auch im Krieg.
Quelle: Christian Jereghi im Interview mit jurnal.md; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Christian Jereghi: „Dieser Krieg hat meine Lebenseinstellung verändert“”
29/03/2015
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