Gestern fand in einer Berufsschule in der Stadt Kertsch auf der von Russland besetzten Krim ein Massaker statt. Russische Staatsmedien versuchten gewohnheitsmäßig, diese schreckliche Tat, der mindestens 20 Menschen zum Opfer gefallen und bei der weitere 40 verletzt worden sind, der Ukraine in die Schuhe zu schieben. Nach ein paar Stunden wurde aber klar, dass die Tat von einem 18-jährigen Schüler dieses technischen Colleges begangen wurde, der sich später erschoss.
Um 11:45 Uhr Ortszeit hörte man die ersten Schüsse im ersten Stock des Schulgebäudes – ein Student des 4. Jahrganges namens Wladislaw Rosljakow eröffnete wahllos das Feuer auf Menschen, die sich im Flur befanden. Darunter waren seine Mitschüler und Lehrer sowie Personal der Schule. Als ihm seine Patronen ausgingen, ging er ins Erdgeschoss und zündete einen selbstgebastelten Sprengsatz und erschoss sich danach in der Bibliothek der Berufsschule. In seiner Tasche wurden weitere selbstgemachte Sprengsätze gefunden.
Seine Mitschüler beschreiben ihn als sehr verschlossen und wortkarg, er habe kaum Kontakte gehabt und sich für Waffen interessiert, von Terroranschlägen und Legalisierung der Waffen gesprochen, er sei drei Jahre lang mit einem Messer in der Tasche herumgelaufen, letztes Jahr habe er mit Pfefferspray um sich gespritzt und sich dafür entschuldigen müssen.
Einen Waffenschein hat Wladislaw am 8. September bekommen, also vor anderthalb Monaten. Daraufhin kaufte er sich ein 12-mm-Kaliber-Gewehr und 150 Patronen Munition. Und Mittwoch morgen kam er dann in seine Schule, lief in das erste Stock und eröffnete das Feuer.
Journalisten der russischen Zeitung Novaya Gazeta ziehen Parallelen mit dem Massaker in Columbine: Auf Bildern der Schulkameras sieht man Wladislaw in einem weißen T-Shirt mit einer schwarzen Aufschrift und in einer schwarzen engen Hose, seine Haare sind nach hinten gekämmt, das Gewehr hängt über der Schulter. So wird Eric David Harris, der Amokläufer von Columbine, in einem populären Videoclip dargestellt.
Russische Staatsmedien und Amtspersonen versuchten zunächst, die Situation politisch auszuschlachten. Man sprach von „der ukrainischen Regierung und ihrem Hass“, suchte nach „ukrainischen Diversionsgruppen und Terroristen“. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es sich um einen Krimer Teenager handelte, begannen einige russische Amtspersonen die Tatsache anzuzweifeln, dass er alleine der Täter sei. Das Antiterror-Komitee der Krim meldete auf seiner Webseite, man suche eventuelle Organisatoren und Ausführer der Sprengungen. Die Strafverfolgungsbehörden der Krim sagten aber gegenüber Journalisten von Novaya Gazeta, dass es keine Spuren und keine Beweise für Mittäter gäbe.
In einer namhaften Abend-Talkshow im russischen „Ersten TV-Kanal“ fragten sich gestern russische Abgeordnete ganz unschuldig, wie denn so etwas passieren könnte, wo sie doch seit zwanzig Jahren gegen den Terrorismus in Russland kämpften und dabei sehr erfolgreich seien (sic!).
Im Gegensatz zu ihnen habe ich keine Schwierigkeiten, hier eine kausale Kette aufzubauen.
Aufmerksame Menschen haben gestern das Profil von Wladislaw Rosljakow im russischen sozialen Netzwerk VKontakte gefunden. Dieses flimmert vor Bildern der nicht-anerkannten terroristischen Pseudorepubliken „DVR“ und „LVR“ und ihrer Symbolen. Im Mai 2014 postete Wladislaw ein Bild mit Putin, auf dem dieser als Imperator dargestellt wird. Die politische Ausrichtung des Jungen ist in seinem Profil deutlich abzulesen. Die Verherrlichung der „Russischen Welt“ und ihrer Terroristen, die die russische Staatspropaganda seit 2014 sät, fiel wohl auf den fruchtbaren Boden der Psyche eines damals 14-jährigen Jungen und hat nun Früchte getragen.
Wie die Saat, so die Ernte. Man denke nur an die für Russland nun übliche „patriotische Erziehung“ an Schulen, bei der Kinder Aufführungen mit militärischem Kontext machen, den Zweiten Weltkrieg nachspielen, sich die Uniform von NKWD-Mitarbeitern anziehen und Erschießungen durchspielen. In Kertsch wurden neulich Schüler feierlich als Kadetten eines militärisch-patriotischen russischen Kosaken-Clubs eingeführt. Am 13. Oktober haben Schüler in Kertsch einen „Eid an den militärisch-politischen Club „Junger Freund des Grenzsoldaten““ abgelegt. Dabei wurden den Kindern Kriegsvideos gezeigt.
Oder hier in Dschankoi, einer Stadt auf der Krim: Auf dem Bild sehen Sie eine Schulaufführung zum Tag der Stadt am 18. September dieses Jahres:
Und hier noch mehr Fotos aus anderen Städten der Krim:
Tatsache ist, dass es selbst in den wilden 1990ern keinen Terrorismus auf der Krim gab. Es gab überhaupt keine Terroranschläge auf der Krim, bis Russland kam und die Halbinsel gestohlen hat. In den vier Jahren russischer Besatzung hat Russland bereits etwa 100 „Terroristen“ festgenommen und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Tausende Wohnungen von potentiellen „Terroristen“ wurden durchsucht. Meistens handelte es sich dabei um Menschen mit einer klaren pro-ukrainischen Haltung. Auf der Krim wird alles abgehört und ausspioniert: Telefone, soziale Netzwerke, Gespräche in der Öffentlichkeit. Die Menschen werden für Beiträge in sozialen Netzwerken ins Gefängnis geschickt. Denunziationen gegen unliebsame Nachbarn sind Alltag geworden. Die Natur der Halbinsel geht zu Grunde, da die Besatzer wenig daran interessiert sind, die Krim als einen guten Ort zum Leben zu betrachten, stattdessen aber als Aufmarschgebiet – sie militarisieren die Krim seit über vier Jahren, machen sie zu einer bis an die Zähne bewaffneten, menschenleeren Gegend. Die Situation in der Stadt Armjansk auf der besetzten Krim, wo im August dieses Jahres Schwefeloxid in die Atmosphäre ausgetreten war, weshalb die Einwohner evakuiert werden mussten und was die russische Staatspropaganda zu verschweigen versuchte, ist nur ein weiteres Glied in dieser Kette der ununterbrochenen Zerstörung und Verwaisung, die die „russische Welt“ stets mit sich bringt. Die Einwohner von Armjansk schreiben heute noch, im Oktober, in sozialen Netzwerken darüber, dass ihre Autos auf seltsame Art und Weise verrosten und sie selbst an starkem Husten leiden.
DAS ist die berüchtigte „russische Welt“: Fremdes gestohlenes Eigentum, Hunderttausende Flüchtlinge und politische Gefangene, eine ausgeplünderte Natur und Infrastruktur, Nachlässigkeit mit gefährlichen Infrastrukturobjekten, Militarisierung und aggressive Propaganda, deren Folge verstörte Geister der Kinder sind… Und der Amokläufer Wladislaw Rosljakow war nur einer von ihnen. Unter solchen Bedingungen kann kaum etwas Gesundes und Gutes heranwachsen. Die Zukunft der Krim unter russischer Besatzung sieht für mich sehr schwarz aus…
Und zu alldem sollte man nicht vergessen, dass der kremlische FSB-Oberst nach Sprengungen von Wohnhäusern in Moskau 1999 zu Macht gekommen war und es für ihn üblich ist, Attentate zu veranstalten, um die Russen von der Realität abzulenken und sich mit ihrer Angst seine Macht zu sichern, darum kann man die Version, dass auch dieses Attentat ein vom FSB organisiertes Verbrechen war, ebenfalls nicht außer Acht lassen. Wobei ich persönlich eher zu der Meinung tendiere, dass wir es hier tatsächlich mit den Folgen der aggressiven Politik und Propaganda des Kreml zu tun haben.
UPD 22:00 Ein Video von einer Augenzeugin ist aufgetaucht:
UPD 2 22:15 Wie die Webseite atr.ua meldet, kann man auf der Webseite der Berufsschule in Kertsch, wo das Attentat gestern stattfand, einige Fotos und Video von „patriotischen“ Veranstaltungen finden. Zum Beispiel nahmen die Schüler dieses Colleges 2016 an einer „Tagung der studentischen Partisanentruppenbewegung der Berufsschulen der Krim“ sowie an der Konferenz „Die Krim und Russland: Prosperität in Einigkeit“ teil, sie feierten Tag der Partisanen und liefen bei dem russischen propagandistischen Marsch „Das Unsterbliche Heer“ mit (Video; Video).
Im Mai dieses Jahres fand ein Wettbewerbsfestival „des aufgeführten militärisch-patriotischen Liedes, gewidmet dem Tag des Sieges“ an der Schule statt. Die Schüler spielten dabei Szenen durch, in denen sie in militärischen Uniformen und mit Gewehren auftraten und den Tod imitierten (Video).
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalmDeutsch verfasst; korrigiert von Klaus H.Walter.
Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein aktiver Link zu unserer Ressource erforderlich ( Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0 )
Wir rufen unsere Leser dazu auf, unsere Publikationen aktiver in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Das Verbreiten der Untersuchungen in der Öffentlichkeit kann den Verlauf von Informationskampagnen und Kampfhandlungen tatsächlich brechen.
Besuchen Sie uns auf Facebook: InformNapalmDeutsch
No Responses to “Das Massaker von Kertsch als Folge von Kremlpropaganda”