von Irina Schlegel
Gestern, am 9. Mai 2017, fanden erneut Märsche des „Unsterblichen Heeres“ statt. Wikipedia beschreibt das „Unsterbliche Heer“ als eine „internationale gesellschaftliche Bewegung zur Aufbewahrung des persönlichen Andenkens an den Großen Vaterländischen Krieg“ (Anm.d.Red.: So wird in Russland der Teil des Zweiten Weltkriegs zwischen 1941-1945 genannt). Diese Bewegung entstand 2011 in Russland und deklariert die Notwendigkeit, an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und seine Helden, die gegen das Hitler-Deutschland gekämpft hatten, zu erinnern.
Wir werden uns nicht in die Feinmaterie der kollektiven Psychose der Russischen Föderation vertiefen, die im Volk „pobedobesije“ (zu dt. „Siegestollwut“) genannt wird, sondern versuchen uns darüber klar zu werden, warum dieser Marsch, der sich als „Ahnengedenken“ tarnt, nur eine weitere kremlische Provokation ist, die sich gegen die zivilisierte Welt richtet.
Trotz der Tatsache, dass es unter den Aktivisten dieses „Heers“ tatsächlich Menschen geben wird, denen es wichtig ist, einmal im Jahr an ihre Vorfahren zu erinnern, die vor über 70 Jahren im Kampf gegen die Nazis gefallen waren, verwandelt sich diese Aktion zunehmend in eine offensichtliche Farce – und das nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern.
Fangen wir damit an, dass bei diesen Märschen Menschen anwesend sind, die die Porträts eines der blutigsten Massenmörder des XX. Jahrhunderts in ihren Händen tragen – Josef Stalin, was durch zahlreiche Foto- und Videoaufnahmen sowohl aus dem deutschen Hamburg als auch aus der annektierten ukrainischen Krim belegt wird. Das ist an sich schon eine Verhöhnung des Andenkens der Krim, deren einheimische Bevölkerung – wie die Bulgaren, Griechen, Krimdeutschen und Krimtataren – Stalin teilweise liquidiert und teilweise deportiert hatte, und wo das „persönliche Andenken an den Großen Vaterländischen Krieg“ der Bevölkerung in Stalin ausschließlich einen Henker sieht, der ganze Familien vernichtet und die Verbindung zwischen den Generationen unterbrochen hatte.
In Berlin zeigte die Prozession einen offen abstoßenden Charakter. Daran nahmen nicht nur die berüchtigten russischen Biker „Nachtwölfe“ teil, die bekannterweise unmittelbar dem Kreml unterstellt sind, sondern auch ihre deutsche „Filiale“ „Russlanddeutsche Wölfe„, die in ihrer Mehrheit aus Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion besteht.
Sie wurden von Autos mit Kennzeichen aus ganz Deutschland begleitet, die auf allen Seiten mit russischer und sowjetischer Symbolik beklebt waren; alten Menschen, die die Flaggen des Imperiums des Bösen schwenkten, sowie von Müttern, die an einer noch unerforschten psychischen Erkrankung leiden, die eigenen Kinder in die Armeeuniform eines längst verstorbenen Staates zu stecken.
Foto: Stefan Lauter
Das war aber noch das kleinste Übel: Auf dem Marsch in Berlin, der angeblich dem Andenken der Gefallenen im Kampf gegen die Nazis gewidmet war, fühlten sich durchtrainierte junge Männer in T-Shirts sichtlich wohl, auf denen das Gesicht und der bekannte Spruch von Ramsan Kadyrow „Das einzige Zeugnis des Patriotismus ist eine Tat“ zu sehen waren. Ob das nun eine direkte Drohung war oder nicht, soll jeder für sich selbst entscheiden. Es kommt eine andere Frage auf: Tschetschenen erhalten in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund des Rechts auf politisches Asyl. Um den Status eines politischen Flüchtlings zu erhalten, müssen Fakten der Verfolgung durch Kadyrow und seinem Umkreis in Tschetschenien geschildert werden. Wie es möglich ist, dass Menschen, die die Gräuel des tschetschenischen Diktators erfahren mussten, Flaggen mit seinem Abbild und seine Porträts an der eigenen Brust zu tragen, bleibt ein Geheimnis.
Es wird noch besser: Auf dem Marsch wurden nicht nur die Flaggen der illegalen bewaffneten Formation „DVR“ gesichtet:
sondern auch die Flagge der niezustandegekommenen terroristischen Bandenformation „Charkiwer Volksrepublik“, deren Entstehung die Bürger von Charkiw 2014 verhindern konnten:
Es ist schwer vorstellbar, dass irgendjemand in Europa mit einer IS-Flagge über die Straßen einer Hauptstadt marschieren würde. Hier muss wohl die Ukraine sich darum kümmern, dass die Verbreitung der Propaganda der illegalen Donbas-Formationen in Europa verhindert und ihre Symbolik auf internationaler Ebene verboten wird.
Die „üblichen Verdächtigen“ durften natürlich auch nicht fehlen (Mehr Fotos vom Marsch in Berlin finden Sie unter folgendem Link):
Ähnliche Märsche mit kommunistischer Symbolik fanden übrigens auch im kanadischen Toronto statt, wo eigentlich eine der größten Gemeinden der Ukrainer auf der Welt lebt:
In der Ukraine selbst sah die Situation nicht viel besser aus.
Mit dem besetzten Territorium ist alles mehr oder weniger klar: Dort trugen Terroristen die Porträts anderer Terroristen, womit sie das Pharisäertum dieses Schauspiels nur ein weiteres Mal bewiesen, bei dem Neonazis den 70 Jahre alten Sieg gegen andere Nazis feierten:
Die Teilnehmer der Märsche in der freien Ukraine erdreisteten sich zwar nicht zu derartig offenen Provokationen – viele von ihnen versuchten aber, mit St.-Georgs-Bändern und anderer verbotener kommunistischer Symbolik auf den Marsch zu kommen. Laut Medienberichten reagierte die Polizei aber auf den Tatbestand der Verletzung des 2015 verabschiedeten Gesetzes über die Dekommunisierung, forderte die Menschen auf, die orange-schwarzen Bänder und andere verbotene Symbolik abzunehmen, und führte mit ihnen Unterredungen.
Die Reaktion der Polizei auf ukrainische Patrioten war aber, sanft ausgedrückt, etwas entmutigend.
In Kyjiw hinderte die Polizei eine Gruppe junger Menschen einige Zeit lang daran, die Flagge der Ukraine auf dem Platz des Ruhms, wo die Veranstaltung stattfand, zu entfalten. Also, glatt herausgesagt: In der Hauptstadt der Ukraine verbot die Polizei, die Staatsflagge der Ukraine zu entfalten. Nach lauten Protesten der Aktivisten wurde die Flagge zwar doch entfaltet, aber das Faktum des Versuchs dies zu verhindern macht hellhörig.
In Dnipro ging die Polizei noch weiter – ihre Vorgehensweise trug einen offen feindlichen Charakter. Zusammen mit „Tituschkis“ (Anm.d.Red.: So nennt man seit 2014 junge durchtrainierte Männer in Trainingsanzügen, die 2014 aus Russland massenhaft in die Ukraine einreisten und die Situation im Land destabilisierten, indem sie sich für Ukrainer ausgaben) hat die Polizei ATO-Veteranen zusammengeschlagen, was die ukrainische Gesellschaft ziemlich aufbrachte und weshalb der Bürgermeister von Dnipro Boris Filatow zu einer Rechtfertigung gezwungen wurde. Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow reagierte ebenfalls auf die Meldungen und kündigte die Einleitung einer dienstlichen Ermittlung wegen Untätigkeit der Polizei und der Unterstützung von unbekannten jungen Männern an.
In Mykolajiw fanden ebenfalls Zusammenstöße zwischen patriotisch gesinnten Aktivisten und den Afghanistan-Veteranen statt. Am Ende nahm die Polizei sowohl die Adepten der sowjetischen Ideologie als auch proukrainische Anhänger fest…
Zweifelhaft erscheint auch die Zerstörung des Kyjiwer Büros der OUN: Die Polizei erklärte den Angriff auf das Büro mit der „Verhinderung von Provokationen“. Die „Verhinderung von Provokationen“ bestand aber im Durchbruch von Türen, Einsatz von Tränengas und der brutalen Verprügelung von Menschen (Video), die zu dem Zeitpunkt eigentlich überhaupt nichts getan hatten…
Der Pressesekretär unserer Gemeinschaft, Mychailo Makaruk, war gestern ebenfalls bei dem Marsch auf dem Platz des Ruhms anwesend. Seinen Worten nach nahm die Polizei einen ATO-Veteranen namens Boris Krasowsky ohne erkennbaren Grund fest, und als Mychailo ihnen zur Polizeidienststelle folgte, seinen Presseausweise zeigte und eine Erklärung forderte, hörte er statt einer Antwort: „Hier ist irgendein Clown aus InformNapalm… Jawohl, nehmt ihn aktiv auf. Machen wir“.
Wir würden liebend gern wissen wollen, was diese Aussage zu bedeuten hatte. Unsere Gemeinschaft ist längst an die Drohungen seitens der Russen gewohnt, an ihre ausfällige Briefe an unsere Redaktion, an die Versuche der FSB-Strukturen, unsere Webseite zu hacken und selbst an ihre Anfragen an die Regierungen anderer Länder (zum Beispiel Kanada), um unsere Tätigkeit zu unterbinden, aber laut welchem Gesetz nehmen Polizeimitarbeiter der Ukraine, die wir seit drei Jahren auf freiwilliger Basis im Informationsraum verteidigen und deren Interessen wir auf internationaler Ebene voranbringen, einen Vertreter unserer Gemeinschaft mit ihren persönlichen Handys auf und wohin gehen diese Daten? Und was ist das eigentliche Ziel dieser Festhaltung unserer Vertreter auf einem Bild?
Die Schlussfolgerungen nach diesem 9. Mai sind ziemlich eindeutig…
Nach Foto- und Videoaufnahmen dieser Aktion zu „Ehren des Sieges gegen den Nazismus“ – ob in der freien Ukraine, in ihrem durch Russland besetzten Teil im Donbas oder auch in anderen Ländern – wurde endgültig klar, dass dieser Marsch vom Kreml und seinen Adepten auf dreiste Weise dazu genutzt wird, Propaganda der Russischen Föderation zu betreiben, die ein Erbe der Sowjetunion und ein leidenschaftlicher Verfechter der Ideen ihres Roten Terrors ist, der sich wenig von ebenjenem Nazismus unterschied, gegen den diese Märsche angeblich organisiert werden.
Ferner sollte die Ukraine Massnahmen ergreifen, was den offiziellen Status der terroristischen Bandenformationen im besetzten Teil des Donbas angeht, um die Propaganda ihrer Symbole im Westen zu verhindern, sowie aufmerksamer gegenüber Mitarbeitern der ukrainischen Staatsbehörden zu werden, die nach Ergebnissen des gestrigen Tages in ihrer Mehrheit nicht im Interesse der Ukraine und ihrer Zivilgesellschaft agierten.
Auf der Welt gibt es einen Tag des Andenkens von Opfern des Nazismus und des Sieges über ihn – den 8. Mai.
Das „Unsterbliche Heer“ ist nur eine weitere Erfindung der Russischen Föderation, die zum Zweck von Provokationen und der aggressiven Durchsetzung von kommunistischen und prorussischen Ideen in der ukrainischen und internationalen Gesellschaft erschaffen wurde, was zahlreiche Fakten des gestrigen Tages belegen.
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet; deutsche Version editiert von Klaus H. Walter. Titelbild: AFP.
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3 Responses to “Das „Unsterbliche Heer“ als eine weitere Provokation des Kremls”
24/05/2017
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