Die wichtigste Frage der Woche ist: Wird Syrien für Russland zu einem neuen Afghanistan? Noch hat niemand eine Antwort darauf. Ich denke, keiner der sowjetischen Führer dachte daran wie der Sturm von Amins Palast enden würde. Nach dem „afghanischen“ Kalender schreiben wir heute den 28. Dezember 1979 – Wer konnte die Folgen damals ahnen?
Die kämpfende Truppe
Heute haben wir aus dem Mund des Repräsentanten des russischen Verteidigungsministeriums von einer Gruppierung von mehr als 50 Flugzeugen und Hubschraubern erfahren – das heißt Russland hat eine kombinierte Fliegende Gruppe in das Kriegsgebiet verlegt. Der beschauliche Flughafen von Latakia hat sich in eine moderne Luftwaffenbasis der Russen verwandelt.
Nach Einschätzung der Zeitungen Novaya Gazeta (russ.) und Vedomosti (russ.) sind an der Operation 1500 bis 2000 Menschen beteiligt. Unmittelbar für den Objektschutz wird mindestens ein Bataillon der Marineinfanterie eingesetzt – vermutlich das bereits bekannte kombinierte Bataillon der 810. Brigade der Marineinfanterie der Schwarzmeerflotte, welches unlängst in den Untersuchungen von Bloggern aufgetaucht ist.
Die Unterstützergruppe
Man muss allerdings schon beachten, dass über die genannten Zahlen hinaus sehr viel mehr Militärangehörige an der Operation teilnehmen werden. Für die schnelle Güterbeförderung sind die Luftstreitkräfte zuständig. Die Nutzlast beträgt dabei bis zu 60 Tonnen bei einer Il-76 und bis zu 120 Tonnen bei einer An-124.
Die Hauptlast des Gütertransports tragen die russischen Seestreitkräfte mittels Großer Landungsschiffe (NATO-Codename Ropucha). Insgesamt gibt es in der Flotte davon 18 Einheiten, aber dem Verkehrsaufkommen am Bosporus nach werden acht bis zehn Schiffe für den Transport eingesetzt werden können. Die Ladefähigkeit eines dieser Schiffe liegt bei 480 bis 1000 Tonnen (dt).
Insgesamt können bei Gütertransport, Be- und Entladen, Unterstützungsaufgaben und Truppenrotation mehrere zehntausend Menschen zum Einsatz kommen.
Sind Wehrpflichtige auch dabei?
In Russland wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass nur Zeitsoldaten oder freiwillige Offiziere nach Syrien gehen. Somit sollen Soldatenmütter sich keine Sorgen machen. Aber das Beispiel des Freiwilligen und Offiziers Major Starkow, der vor kurzem zu 14 Jahren Gefängnis für die Beteiligung am Krieg im Donbass verurteilt wurde, zeigt eines: Jeder Offizier kann sich dort wiederfinden.
Was Zeitsoldaten angeht, so ist in der modernen russischen Armee der Übergang vom Wehrpflichtigen zum Profi eher fließend. Das erste Angebot sich zu verpflichten, erhalten Militärangehörige drei bis sechs Monate nach Beginn des Grundwehrdienstes. Danach kann der 18 oder 19-Jährige „Zeitsoldat“ praktisch überall eingesetzt werden.
In der Flotte ist alles noch einfacher: Auf Schiffen der russischen Marine dienen Wehrpflichtige. In Tartus wurden in den letzten Jahren mehr als 20 Schiffe gesichtet. Die Matrosen mit Wehrpflichtigen-Status werden so oder so der Stadt einen Besuch abstatten und dort auf bärtige Märtyrer für den Glauben treffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es die ersten Toten unter Wehrpflichtigen gibt.
Militärischer Alltag – in der Luft und am Boden
Die russische Regierung behauptet fest und steif, man werde nicht an einer Bodenoperation teilnehmen und der Hauptbeitrag werde aus Lufteinsätzen bestehen. Soweit die Theorie.
In der Praxis werden die Russen den Flughafen von Latakia und Anflugrouten sorgfältig kontrollieren müssen. Dazu werden Gebiete in einem Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern gehören. Eine einzige schultergestützte Flugabwehrwaffe in den Händen eines Gotteskriegers genügt, um ein Transportflugzeug beim Landeanflug vom Himmel zu holen. Man schaue sich dazu die gebirgige Landschaft um Latakia herum an – ein Schuss und die Suche kann beginnen.
Eine vorsintflutliche Grad-P (d.h. eine portable Raketenartillerie-Startvorrichtung) reicht aus, um aus zehn Kilometern Entfernung eine Ansammlung von Flugzeugen auf dem Flugfeld folgenreich zu treffen. Eigentlich machen schon einege solcher Angriffe dieses ganze Militär-Abenteuer sinnlos und man wird daher die Basis weiträumig bewachen müssen. (Siehe unter diesem Link)
Das bedeutet, man wird viele Straßensperren errichten und Kasernen sowie andere Gebäude bewachen, um Sprengstoffanschläge zu verhindern. Im Endeffekt wird man die Sprengladung einfach an der Straßensperre zünden. Das wird es umso öfter geben, je länger der Einsatz dauert.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass das gesamte überschaubare Truppenkontingent auf zwei Stützpunkte verteilt ist – den Hafen von Tartus und den Flughafen von Latakia. Die Entfernung beträgt etwa 95 Kilometer und seitlich entlang der Verbindungslinie gibt es ein Gebirgsmassiv. Dieses wird man ebenfalls komplett überwachen müssen.
Auch Tartus muss bewacht werden. Auch dort wird es zu Angriffen durch Rebellen, IS-Kämpfer und Selbstmordattentäter kommen. Nichts stört die Islamisten dabei, ein Fischerboot mit Dynamit zu beladen und in Richtung der russischen Schiffe zu schicken. Man wird nicht alle abfangen können…
Es wird auch Bodenoperationen und Gefechte geben. Früher oder später wird ein russisches Flugzeug abgeschossen werden, der Pilot wird den Schleudersitz benutzen und man wird Marineinfanterie per Hubschrauber schicken um ihn zu retten. Auch diese wird man abschießen. Früher oder später werden Rebellen oder Islamisten mit Angriffen auf russische Straßensperren und Fahrzeugkolonnen beginnen. Es wird Tote geben. Durchaus offiziell und hoch werden die Verluste sein. Um diese zu kompensieren wird man weitere Soldaten schicken, auch um zumindest den Status-Quo zu erhalten.
Assads Spiel und das heutige Syrien
Die ganze Zeit hören wir kaum etwas von Assad. Er ist sich einigermaßen darüber bewusst, dass er wenig Einfluss hat und dass Putin ihn jederzeit wie eine Bauernfigur auf dem Schachbrett opfern kann, um den Westen zu beschwichtigen. Was soll Assad also davon abhalten sein eigenes Spiel zu spielen und Putin tiefer in den Konflikt hineinzuziehen? Einige erfolgreiche Angriffe durch unbekannte Kämpfer auf russische Positionen und Putin wird kaum vermeiden können, die Truppen in Syrien zu verstärken.
Wie im Fall von Afghanistan müssen die sowjetischen/russischen Streitkräfte mit den Kämpfern vor Ort kooperieren, aber diese sind bereits seit fünf Jahren im Krieg. Ein Teil der Armee kommt genau aus den Städten, die Russland nun mit viel Elan bombardiert. Außerdem sind sie Moslems.
Genau genommen haben wir im Augenblick kaum eine Vorstellung davon, wer in Syrien lebt. Was ist die ethnische Zusammensetzung von Latakia, Homs, Tartus, Damaskus und Aleppo? In den letzten Jahren hat durch große Flüchtlingsströme eine massive Vermischung stattgefunden. Viele Medien zeigen gerne Karten von Syrien, auf den Gebiete (Anm. d. Übers.: verschiedener religiöser Gruppen) einheitlich gefärbt und homogen sind. Mit scharfen Grenzen. Allerdings besteht Syrien hauptsächlich aus Wüstengebieten, wo es schlichtweg niemand jemand anderen kontrollieren kann. Umkämpft sind bewohnte Gebiete und Städte sowie Verbindungen zwischen ihnen. Die schiere Anzahl verschiedener politischer Akteure ist erstaunlich. Und inmitten dieser Vielfalt befindet sich ein überschaubares aber stolzes Truppenkontingent aus dem christlichen Russland. Alles ganz einfach, oder? Eben nicht, sondern unkalkulierbar…
Konkurrenz aus Washington
Das Schlimmste ist für Russland, dass die Konkurrenz nicht schläft und ihre Strategie weiter verfolgt. Die US-Amerikaner liefern endlich Militärgerät an die ukrainischen Streitkräfte (Anm. d. Übers.: Es geht um Lieferungen von sogenanntem Artillerieaufklärungsradar und damit nicht-tödliche Systeme). Scheinbar geschieht dies gegen Ende des Konflikts, aber es wird für Russland nicht ohne weiteres möglich sein, den Konflikt in der Ukraine wieder anzufachen.
Die Luftstreitkräfte der USA werden die Russen kaum dabei stören, Islamisten oder Rebellen zu bombardieren, aber früher oder später können in der Region tragbare Flugabwehrwaffen auftauchen. Russische Flugzeuge werden in Mengen abstürzen.
Auf seltsame Art und Weise verstärken die Taliban in Afghanistan ihre Präsenz. Jahrelang konnte man Kundus nicht einnehmen und jetzt plötzlich doch. Merkwürdig? Angrenzend befinden sich Tadschikistan und Usbekistan – Russland wird also auch hier reagieren müssen, falls ein Feldkommandeur in Afghanistan in nördlicher Richtung zieht.
Auch die Türken können ihre Karten ausspielen. Sie sind natürlich gegen eine stärker werdende kurdische Bewegung, aber ähnliches gilt für Russland und man würde die Kurden durchaus dazu benutzen, Russland zurückzudrängen. Dann wäre da noch Saudi-Arabien. Außerdem kann Israel eine aktivere Hisbollah nicht gebrauchen, die an der Seite Assads kämpft usw.
Eine Kostenfrage
Das ist die interessanteste Fragestellung. Man begegnet oft der Meinung, die Ukrainer sollten sich nicht zu sehr über das Syrien-Abenteuer Putins freuen. Aber je tiefer Russland in Syrien versackt, je mehr Ressourcen für die Truppe dort aufgewendet werden, desto weniger Geld bleibt für die Ukraine übrig. Umso weniger bekommen auch die einfachen russischen Soldaten. Je mehr Verluste die russischen Streitkräfte haben, desto geringer die Motivation Leben zu opfern – weder in Aleppo noch in Nowoasowsk.
Heute sind moderne Su-34 nach Latakia verlegt worden (Anm. d. Übers.: Es handelt sich um Jagdbomber). Eine Maschine kostet 36 Millionen US-Dollar. Ein erfolgreicher Terrorangriff kann Russland Verluste in Höhe von Hunderten Millionen zufügen. Alle Waffenlieferungen an Assad sind quasi direkte Verluste – niemand wird dafür bezahlen.
Ein Monat Krieg im Irak kostete die USA zwölf Milliarden Dollar. Für den Krieg in Afghanistan wurden 641 Milliarden Dollar bewilligt.
Der halbherzige Kampf gegen den Islamischen Staat hatte die USA nach knapp einem Jahr 3,87 Milliarden Dollar gekostet. Die Kosten pro Tag liegen bei 9,9 Millionen Dollar.
Man beachte dabei wie stetig die Kosten pro Tag von 5,6 Millionen Dollar auf fast 10 angestiegen sind. Dabei hält man sich noch davon zurück, komplett in den Konflikt einzusteigen.
Kanada hat für ein Kriegsjahr Kosten von mehreren Hundert Millionen Dollar zu verzeichnen. Dabei sind etwa zehn Flugzeuge im Einsatz.
Jeden Tag in diesem Konflikt werden die Kosten für Russland steigen. Wenn man sichtbare Erfolge zeigen will, werden Milliarden notwendig sein. Insgesamt kann man bei dieser Operation von Kosten in Höhe von mehreren Dutzend Milliarden Dollar ausgehen.
Alles ist hybrid
In diesem Krieg werden wir keine Panzerangriffe durch IS-Kämpfer sehen und es wird auch keine Hunderttausende Tote auf russischer Seite geben. Wir beobachten allerdings, dass Russland auf ein neues Afghanistan zusteuert. Statt vielen Toten wird es zu hohen finanziellen Verlusten kommen und der Preis wird täglich steigen. Auch die Anzahl der Toten wird schließlich steigen. Früher oder später wird man die Truppen abziehen müssen, was Putin sicher nicht tun wird, weil das für ihn eine Geste der Schwäche ist. Oder man wird den Einsatz erhöhen müssen und weitere Leute nach Syrien schicken
Wir schreiben also etwa das Jahr 1979 nach dem „afghanischen“ Kalender. Ein zweites „klassisches“ Afghanistan werden wir nicht erleben, aber dessen „hybride“ Variante im 21. Jahrhundert.
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Viktor Duke. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
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