
Neuestes Material von Ania Dorn – eine objektive und umfassende Analyse einer Russin, die die Katastrophe sieht und spürt, in die das heutige Kreml-Regime Russland treibt.
Es wäre eigentlich naiv zu behaupten, dass die Politik etwas mit dem menschlichen Gewissen zu tun haben kann. Politik – das sind immer die Prozesse des Machtantritts und -erhalts, der Popularisierung der politischen Ansichten, der Arbeit an einigen Zielen (die es nicht nur von vornherein im Rahmen der staatlichen Strategie zu setzen, sondern auch deren Leistungen objektiv zu bewerten gilt – gemessen an dem Lebensstandard der Bürger eines Staates) usw. Sprich ist hier eine Komponente der Manipulation des Massenbewusstseins zwangsläufig präsent und mit dem Gewissensbegriff ist sie im Hinblick auf die Technologie der Einwirkung auf die Geister der Menschen auf keinerlei Weise gegenüberzustellen. Doch wenn die positiven Ergebnisse dieser Manipulationen und der Verwirklichung der Ziele der gemeinsame Sieg wie der Bevölkerung so auch der Behörden des Staates ist, so zahlt die Bevölkerung für die negativen Ergebnisse in einem weit aus größerem Ausmaß als die Politiker. Also lasst uns ein innerstaatliches Fazit ziehen. Auf einer simplen menschlichen Ebene und unter Berücksichtigung des Gewinns unserer Politiker, ihrer Familien und ihrer Nachbeter. Versuchen wir endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen, Abstand nehmend zu der propagandistischen Idee einiger abstrakter staatlicher Interessen und der unendlichen Suche nach äußeren Feinden.
Und beginnen wir womöglich mit der unangenehmsten Seite – der offiziellen Massenarmut vor dem Hintergrund unserer außenpolitischen Entscheidungen, die mittels manipulativer Propaganda zur Lebensnorm erhoben wurde. In Zahlen ausgedrückt: laut staatlichen Statistiken leben derzeit 11,1 % der russischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Stellt es euch nur mal vor: 15,5 Millionen Menschen leben auf einem Niveau unterhalb des Existenzminimums. Wie? Technisch gesehen – ich weiß es nicht. Menschlich gesehen, weiß ich – ganz schlecht. So schlecht, dass man es kaum als Leben bezeichnen kann. Das ist ein Dasein, dessen einziges Ziel das Überleben ist.
Dabei ist die Politik unseres Staates jedoch folgende, dass wir bereit sind Griechenland zu unterstützen, dessen Bevölkerung vor dem Referendum nicht bereit gewesen ist, auf seine Annehmlichkeiten in Form zahlreicher Sozialleistungen, die wir uns nicht einmal erträumen können, zu verzichten und seine Meinung bezüglich der innerstaatlichen Finanzpolitik Griechenlands genau eine Woche nach dem Referendum radikal änderte, als die globale Kreditrefinanzierung zur Sprache kam. Unsere Regierung, bei solch einer Zahl offizieller Hungerleidender im eigenen Land, ist bereit Hilfe aus unserem Haushalt (und nicht aus eigenen, während der Amtszeit stark angeschwollenen Beamtentaschen) Bürgern eines Staates zu leisten, in dem die Durchschnittsrenten einer Summe von 22 600 Rubel im Monat entsprechen – gegen 6 400 Rubel Durchschnittsrenten bei uns. Wofür? Neben einigen Aspekten der internationalen wirtschaftlichen Spielchen, über die separat berichtet werden muss (da das Thema einer Erläuterung komplexer Besonderheiten bedarf), wird dies für die Gegenüberstellung der „hohen russischen Moral“ und der „niedrigen“ europäischen und globalen getan, mittels informativer (mit der Verzerrung der darzustellenden Situation) und finanzieller Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Europäischen Union. Und dementsprechend entwerten sie das Positive an den Handlungen der EU und des IWF in unseren Augen: angeblich sind wir so gut und alle anderen so schlecht.
Und das trotz der Tatsache, dass die Summe der von der internationalen Gemeinschaft geleisteten Hilfe für Griechenland bereits 240 Milliarden Euro überschreitet, Griechenland selbst im Januar dieses Jahres von Deutschland die Rückzahlung der, vom „Dritten Reich“ unter Hitler erhobenen, Zwangsanleihe verlangte, um mehrere internationale Kreditzahlungen abzudecken und sich dabei nicht einmal drum geschert hat, seine beträchtlichen Sozialausgaben wenigstens minimal zu senken. Das heißt: vor den Augen der gesamten Welt hat unser Land durch die Gebete unserer Politiker de facto internationale Kreditbetrüger unterstützt und fordert uns durch die mediale Manipulation unseres gesellschaftspolitischen Bewusstseins dazu auf, diese Aktion als normal und uns als die Retter der Völker und Europa als das Monster zu betrachten, das das Opfer (Griechenland) in den Mühlen seiner aggressiven europäischen Wirtschaftspolitik zermalmt.
Ebenso hat unsere Regierung aus herrschaftlicher Großzügigkeit Kuba Staatsschulden in Höhe von 29 Milliarden Dollar erlassen, mehr als 20 Milliarden den Staaten Afrikas, 21 Milliarden dem Irak, 11,1 Milliarden der Mongolei, 10 Milliarden Nordkorea, 9,8 Milliarden Syrien und zusätzlich noch Vietnam, Usbekistan, Kirgistan, Afghanistan usw. – insgesamt 140 Milliarden… Vor dem Hintergrund unserer ungehemmten herrschaftlich königlichen Güte und Gunst haben in diesem Jahr sogar, nach neuesten Angaben, Haiti (wo die wahre Hölle herrscht!) und Mosambik unser Land im Pro-Kopf-Einkommensniveau überholt. Was ist dagegen mit unseren Armen? Und unsere 15,5 Millionen offiziell Hungernden und eine noch höhere Zahl an Halbhungernden (Einkommensschwachen), die im Kredit-Sumpf feststecken (und zum Jahresende wird der Bevölkerungsanteil, der nicht in der Lage sein wird, seine Kredite zurückzuzahlen von derzeit 42 % auf 60 % steigen) sind auch große Retter Griechenlands und der gesamten restlichen Welt. Im Gegensatz jedoch zu den Machthabern, stehen sie die letzten zwei Monate in den fortwährenden Warteschlangen der Pfandhäuser, um die Reste des „ehemaligen Luxus“ um des Überlebens willen zu verpfänden. Glücklich nicht mit den Realien des eigenen Lebens, sondern mit den Grundsätzen des in den letzten fünf bis sieben Jahren künstlich erzeugten „positiven Denkens“: „Das Gras grünt, die Sonne glänzt – ich sehe nichts Böses, ich höre nichts Böses – hurra, ich bin lebendig aufgewacht!“ usw. alles in diesem Sinne. Was auch noch eine trügerische Segnung der Propaganda ist: die Medien erzeugten in uns kein positives Denken, sondern die Fähigkeit in der Haltung eines erschrockenen Straußes zu leben.
In Wirklichkeit jedoch, was für den gesunden Menschenverstand vor der Kulisse der Schlösser von Regierungsmitgliedern und Mitgliedern der Staatsduma, den Diamanten ihrer arroganten Ehefrauen und den Autos ihrer stumpfsinnigen Sprösslinge, die sich ihre Testergebnisse in den Hochschulen erkaufen, ist Folgendes unfassbar: im 21. Jahrhundert, in einer angeblich für das Land friedlichen Zeit (wir führen doch offiziell keinen Krieg, nicht wahr?), in einem angeblich zivilisierten Land, versuchen Millionen von Menschen ihre kleinen Schätze de facto in Essen einzutauschen. Wie im Großen Vaterländischen Krieg. Lasst uns doch diese armen Tauscher fragen: fällt es ihnen leichter – durch die Erkenntnis ihrer eigenen Erhabenheit – zu sehen, wie ihre Kinder sich an dem einzigen Apfel im Monat erfreuen? Und ist es für unsere „hochgeachteten und verehrtesten“ alten Rentner dadurch einfacher, wenn sie den Quark als Nascherei betrachten und nicht als Bestandteil des täglichen Konsums, der dringend für die Stärkung ihrer schmerzenden Knochen und herausfallenden Zähnen benötigt wird. Das heißt im Grunde genommen – für eine zumindest kleine Verlängerung ihres Lebens benötigt wird…
Weiter. Über die Zerschlagung des Bildungs- und Gesundheitswesens. Und auch in diesem Fall beginnen wir mit Zahlen. Während der Regierungszeit von Wladimir Wladimirowitsch Putin ist es in den Bereichen Gesundheitswesen und Mittelschulbildung zu folgenden Veränderungen gekommen:
1991 – 69 700 Schulen
2000 – 68 100 Schulen
2015 – 44 100 Schulen
80 % (19 300) der geschlossenen Schulen wurden auf dem Lande und in Dörfern geschlossen (bei einem Bevölkerungsanteil von mehr als 38 Millionen auf dem Lande lebender Menschen). In den „Hungerjahren“ der Jelzin-Regierung wurden trotz aller Schwierigkeiten lediglich 1 600 Schulen geschlossen – die übrigen unter Seiner Durchlaucht Wladimir Wladimirowitsch.
Die Zahl an vom Staat finanzierten Plätzen an Hochschulen bei 1,9 Millionen Absolventen belief sich auf nur 502 000, in Berufsschulen – auf 93 000…
Nun zum Gesundheitswesen:
1990 – 12 800 Krankenhäuser
2000 – 10 700 Krankenhäuser
2013 – 5 900 Krankenhäuser
2015 – 4 400 Krankenhäuser (4 398, um genau zu sein);
1990 – 21 500 Polikliniken
2000 – 21 300 Polikliniken
2013 – 16 500 Polikliniken
Im selben Jahr ist die Sterblichkeit in Russlands Krankenhäusern um 3,7 % gestiegen.
Die Anzahl der Krankenhausbetten wurde 2013 um 35 000 reduziert, 2014 – um 50 000. Allein in Moskau wurde die Gesamtzahl an Betten um 20 % reduziert. Ebenso ist die Zahl von Notaufnahmen und medizinischen Notfallteams beträchtlich verringert worden. Mehr als 17 000 Ortschaften in Russland haben keine medizinische Infrastruktur. Die Zahl an medizinischem Personal in Russland ist allein im Laufe des letzten Jahres um 90 000 Mann gesunken. 71,1 % aller Gesundheitseinrichtungen im Land sind privat…
Es scheint, als sollten diese Angaben aussagen, dass wir nun alle ohne Ausnahme durchgehend optimal gebildete, gesunde Menschen sind, die für die Ausbildung ihrer Kinder auf den Hochschulen bezahlen können und falls notwendig auch für eine qualifizierte medizinische Versorgung (in Wirklichkeit stürzen sich allerdings die Kobsons (alter Pop-Sänger in Russland) und ihresgleichen trotz ihres umfassenden Patriotismus ins Ausland, um sich behandeln zu lassen). Als ein Mensch mit mehreren spezifischen Abschlüssen beobachte ich komischerweise die Tatsache, dass 90 % aller Absolventen aus kleinen bis großen Schulen, nicht fehlerfrei russisch schreiben können. Und bei Kenntnissen in Geschichte, Literatur und Fremdsprachen wird mir generell Angst und bange. Und eine oberflächliche Debatte über Klassiker der Weltliteratur nach Genres und Epochen in einer Fremdsprache zu führen, Gott gebe, wären ein paar zehntausend Menschen unseres gesamten Einhundertvierzigmillionen-Landes in der Lage – und das ist ja bei Weitem nicht der höchste geistige Kunstflug. Aber aus irgendeinem Grund sind wir (beziehungsweise die Mehrheit von euch – ich ganz bestimmt nicht) mit all dem zufrieden. Und ich wage zu behaupten, warum.
Damit man zufrieden gestellt ist, erfordert es keinerlei Mühe. Dagegen wird ein hohes Maß an Intelligenz und allgemeiner Entwicklung (auch der beruflichen) nicht durch Herumsitzen auf dem Hintern vor dem Fernseher, dem Konsum von alkoholischen Getränken (aus Frust) an Wochenenden bei nächtlichen Picknicken auf den hofeigenen Spielplätzen, einer ziellose Lebensweise, das Vergraben in iPhones und Computer-Bildschirmen, auf welchen 24 Stunden am Tag Sozialnetzwerkseiten abgebildet sind und sonstigen degenerativen, jedoch nicht minder beliebten Formen von Freizeitgestaltung des großen russischen Volkes, erreicht… Ihr, meine Herrschaften, seid Opfer eines gezielten, langjährigen, geistigen Genozids (die Staatsgewalt braucht keine hochentwickelte und hinterfragende Wählerschaft). Doch auf jeden Fall befreit euch diese traurige Tatsache nicht von der Verantwortung euch selbst gegenüber, weil wenn jemand gegen diesen Genozid ankämpfen will – wird er gegen ihn ankämpfen. Und damit hat sich’s.
Jetzt zur politischen Manipulation durch die Machthaber zum Zwecke der Abwertung des Lebens, die in direktem Zusammenhang mit dem geistigen Genozid steht. Die markantesten Beispiele von den schändlichsten manipulativen Handlungen: die Rückkehr der Gestalt Stalins in die visuellen Reihen und die Rhetorik der Medien und zu Großveranstaltungen; das Totschweigen von Russlands verlorenen Klagen und langwierigen Gerichtsverfahren gegen die russischen Machthaber beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Rechte des Menschen – nicht eines Verbrauchsmaterials) und das Umschreiben der Geschichte, das bereits derartige Maßstäbe angenommen hat, dass die Fakten ungeheuerlich verzerrt oder geleugnet werden. Fakten, die nicht nur in Büchern und in den Köpfen von Historikern, Linguisten und Gelehrten existieren, die nicht einmal einen Platz in den Erinnerungen der steinalten Greise innehaben müssten, sondern sogar in der Jugendzeit der 40-jährigen Generation stattfanden, die definitiv noch weit entfernt von Altersschwäche und Vergesslichkeit ist.
Im Laufe der ersten zehn Jahre nach der Perestroika wurde eine enorme Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten und Abhandlungen über die verbrecherischen „Heldentaten“ von Josef Wissarionowitsch Stalin im Bezug auf das sowjetische Volk veröffentlicht, der die Fehler in seinen direkten Reden auch selbst nicht leugnete. Zum Beispiel im Teil über die Vernachlässigung von Soldatenleben, die zum Tod von Millionen von ihnen führte, obwohl aus der Sicht einer vernünftigeren und professionelleren Kriegsführung die Möglichkeit ihrer Erhaltung zweifellos bestand (doch Lenins gelobte Küchenfee, die das Land regierte…). Und angenommen die breite Masse weiß nichts über Details (meiner gnadenloser Ansicht gegenüber geistigen Faulpelzen nach – zu eurer Schande darüber nichts zu wissen, schämt euch, verehrte Patrioten!), wie der Einladung von ausländischen Spezialisten, die im Laufe von 20 Jahren Bauprojekte von allen großen, sowjetischen Herstellungsbetrieben geleitet und die ersten Generationen von Industriemeistern der UdSSR ausgebildet haben oder über die Denkschriften aus seinen Resolutionen, in denen eine Politik der Verkürzung der Lebensdauer von Rentnern gefordert wurde, da ihr Unterhalt zu kostspielig für das Staatsbudget sei, wenn sie als Arbeitskraft bereits nutzlos geworden sind.
Ebenso könnten sie zum Beispiel die Einzelheiten der Schlacht bei Tannenberg nicht kennen (zwischen den verbündeten polnisch-litauischen und den Truppen des Deutschen Ordens), die vor kurzem auf Vorschlag der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, welche vom Kulturminister der Russischen Föderation, Herrn Medinski (einer Person mit zwei Dissertationen, deren Texte aus fremden Arbeiten ohne Hinweise auf die Autoren übernommen wurden, bewiesen durch die Community „Dissernet“, was zuvor schon skandalöse Folgen in Europa hervorrief) geleitet wird, zu Russlands (der Rus) Siegen hinzugefügt wurde. Oder vielleicht wissen sie nicht, wie verlogen der Name des Schachweltmeisters Garri Kasparow aufgrund seiner oppositionellen politischen Ansichten kürzlich aus dem Buch, gewidmet dem 80. Jahrestag der Sportvereinigung „Spartak“, gestrichen wurde. (Übrigens haargenau so, wie die Namen der ins Ausland ausgereisten Schauspieler unter der Sowjetmacht aus den Credits der Filme verschwanden und die Angaben über die verfolgten Wissenschaftler und Künstler aus Enzyklopädien gestrichen und den Verlagshäusern und Massenmedien Druckseiten verschickt wurden, die anstatt denen eingefügt werden mussten, die über die Leistungen der Volksfeinde berichteten.) Oder sie könnten auch nichts über – bereits aus der neueren Geschichte – die Tragödie des im Jahre 1983 durch die UdSSR abgeschossenen koreanischen Passagierflugzeuges wissen, die von den sowjetischen Behörden auf die gleiche zynische Weise geleugnet wurde, wie nun auch die Beteiligung Russlands an dem Unglück der malaysischen „Boeing“ MH17. (Liest man die freigegebenen Akten über die von vornherein für die ganze Welt offensichtliche – und von uns viel später zugegebenen – ungeheuerlichen Geschichte des Jahres 1983, die beinahe zum Dritten Weltkrieg führte, dann drängen sich von selbst gewisse Analogien auf – so identisch sind die Manipulationsmethoden des nationalen Bewusstseins. Als hätte man sie nach dem gleichen unmenschlichen und blutigen Muster erstellt.)
Doch von den Millionen an posthum Rehabilitierten – vernichtet und verfault in stalinschen Lagern – wissen alle. Also wofür wird dann mittels Entpersönlichung wahrer Helden, der wiederholten Mystifizierung von bereits entlarvten Mythen, durch Lobpreisung von Tyrannen und nie existierten Siegen, ein künstliches Bild der Erhabenheit des russischen Volkes erzeugt? Es ist alles primitiv einfach.
Erstens, um die Bedeutung eines einzelnen Menschenlebens bis hin zur verminderter Selbstwahrnehmung der Bürger zu entwerten (im Sinne von „irgendwie werden wir überleben“) – was gleichbedeutend damit ist, sich als Verbrauchsmaterial zu bekennen.
Zweitens, um die Akzentuierung der Menschen vom eigenen Ich (sprich von den aktuellen Problemen) in Richtung Aufopferungsbereitschaft, angeblich für das Landeswohl, in friedlichen Zeiten zu verlagern (wacht auf Bürger, ihr seid das Land!).
Drittens, um in den Köpfen der gesamten Bevölkerungsmasse eine von der Propaganda erschaffene staatliche Krücke zur Stütze des Bildes eines „verfaulten Intellektuellen“ zu verankern – eines sein Vaterland hassenden Volksfeindes aus der „Fünften Kolonne“. Denn genau diese „Fünfte Kolonne“ ist das jene kleine Kontingent, das als einziges in der Lage ist, den Ausmass der für den Staat nützlichen Verzerrung von historischen Fakten dem restlichen Volk nahezubringen. Und gerade diese „Fünfte Kolonne“ würde es aus Liebe zum Vaterland tun – aus der Kränkung für das eigene gedemütigte, für dumm gehaltene Volk und keinesfalls aus gegenteiligen Motiven. Die Verbreitung von historischem und linguistischem Wissen (linguistischem – zum Beispiel zum Thema der unanfechtbaren Machtstellung der russischen Sprache, die allerdings zu fünfzig Prozent aus Lehnwörtern besteht und der Nicht-Existenz der eigenständigen ukrainischen Sprache innerhalb der slawischen Gruppe, deren Entstehung ungefähr der Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. zugerechnet wird, was entgegen der Sprachwissenschaft von unseren Medien eifrig geleugnet wird) – das ist das Mittel, um die geistige Immunität der Bevölkerung gegen die verlogene Propaganda zu stärken. Und das ist für die Machthaber völlig unnütz.
Viertens, um die Demütigung anderer Völker zu rechtfertigen, ohne Klartext reden zu müssen, da es dafür menschlich gesehen keine Rechtfertigung gibt (hier wieder wie mit der Nicht-Existenz der ukrainischen Sprache und Kultur). Und zusätzlich noch zwei abscheulichere Dinge. Die Rede ist von der bis heute andauernden Anwendung der stalinschen Politik hinsichtlich der Lebensdauer des für den Staat wertlosen Bevölkerungsteils, dessen Unterhalt sehr kostspielig ist (Rentner und Todkranke, Krebspatienten zum Beispiel. Das Programm zur Krebsbekämpfung wurde vom Gesundheitsministerium mit dem Vermerk „erfolgreich ausgeführt“ geschlossen, was zu einer maßstäblichen Suizidwelle bei Krebspatienten geführt hatte, die ihre höllischen Schmerzen ohne die teuren Schmerzpräparate, welche sie nun nicht mehr erhielten, nicht ertrugen). Das ist das Eine. Zum Zweiten – damit wir selbst, durch unser Einverständnis mit der Entwertung unserer Leben auf Befehl der aus dem Blickwinkel der Vernichtung der eigenen Bevölkerung nicht existierenden staatlichen Interessen (unseres Staates, und nicht des Staates einer sich von uns isolierten herrschenden Klasse), die Handlungen der Machthaber verantworten, infolge derer Kinder und Erwachsene während der Terroranschläge an der Dubrowka gestorben sind (die Klage im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlor Russland im Jahr 2011) und in Beslan (der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht gab Russland ein Jahr für faire Untersuchungen und die selbständige Bestrafung der Schuldigen, neben den getöteten Terroristen, aber es ist unser letztes Jahr, in dem wir eine Chance haben, uns nicht nur als Mörder der eigenen Kindern zu zeigen, sondern auch als Menschen, die im Stande sind für die blutigen Konsequenzen unserer Taten gerade zu stehen). Damit wir selbst absolut alle Verbrechen verantworten, deren Klagen – MEHR ALS EINEINHALB TAUSEND – beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geprüft werden. Und diese Aufträge für Rechtsschutz kommen von unseren Landsmännern, nicht von Volksfeinden, nicht von Amerikas und Europas Handlangern, nicht von der „Fünften Kolonne“ – nein – von unseren Nachbarn, Freunden, Bekannten, Angehörigen, Mitbürgern (lassen wir jetzt das Thema mit den Klagen der Ukraine aus, bleiben wir noch bei dem Gespräch über die Situation, die uns zurzeit näher ist, wie das „eigene Hemd“). Von uns wird – zum Entsetzen aller vernünftiger Menschen – erwartet, dass wir durch den Verzicht unseres Rechts auf eine nicht mal höhere Lebensqualität, sondern auf das Leben selbst, eigenverantwortlich und eigenwillig entscheiden, all das zu rechtfertigen, was auf Befehl der Behörden gegen uns selbst gerichtet ist! Und das sogar abgesehen von dem, was gegen die Bürger anderer Staaten getan wird, obwohl man im folgenden Kontext prinzipiell die Aufmerksamkeit auch auf sie richten sollte: das menschliche Leben ist unantastbar, unabhängig von Nationalität, Konfession und Staatsbürgerschaft – und das ist eine tägliche Agenda.
Und wie unheimlich sieht vor dem Hintergrund all dessen der von Herrn Putin am 17. Juli unterschriebene Erlass über die Schaffung einer mobilisierten Personalreserve für die russischen Streitkräfte… Beabsichtigen wir Krieg zu führen? Sie, oder Sie – ja, ja, also Sie persönlich – beabsichtigen Sie gegen jemanden in den Krieg zu ziehen? Hat Sie jemand angegriffen?… Nein? Bis heute – niemand?.. Sehr interessant. Und wenn niemand uns in einer Zeit angegriffen hat, während unser Land nach dem Fall der Sowjetmacht zehn Jahre lang schwach und verwundbar war, wie ein heimloses Kätzchen – physisch, wie auch wirtschaftlich; wenn man uns stattdessen (insbesondere die Ukraine) jedoch als Zeichen des guten Willens Atomwaffen abgab, teilweise die Schulden der UdSSR erließ, teilweise sie für zweieinhalb Jahrzehnte eingefroren wurden, mit humanitärer Hilfe half, mit Kreditbewilligungen, Investitionen (nur wohin ist alles verschwunden, wofür? [Siehe vorhergehende Absätze dieses Artikels]), Russland den Platz mit dem Vetorecht in der UNO überließ – als eine Art Erbfolge der UdSSR (auf was man hätte verzichten können), die Gas-Erpressungen, die Einmischung in die souveränen Angelegenheiten anderer Staaten usw. ertrug… Warum ist es dann den Medien so einfach und massiv gelungen, in die russischen Köpfe das Bild eines äußeren Feindes einzuhämmern, der davon träumt Russland anzugreifen, ihn zum Zerfall zu bringen, ihn der Ressourcen zu berauben usw.?
Sucht nach der Antwort in euch. Und versucht euch endlich von euren Bäuchen zu erheben – und euch wenigstens auf die Knie zu stellen. Und nicht aus der Höhe des 50 Jahre alten Fluges von Gagarin ins All, sondern von eben diesen Knien aus all jene um Verzeihung zu bitten, die ihr selbst in euren Gedanken zu Unrecht verletzt habt. Das wäre ein guter Anfang für die Erkenntnis der eigenen Fehler, ohne die ihre Lösung definitionsgemäß ausgeschlossen ist. Und ich bitte euch um Verzeihung dafür, dass ich euch verletze, indem ich euch die Wahrheit über euch selbst erzähle. Doch weiterhin zu schweigen bedeutet den Tod. Den Tod – der bereits viele durch unsere Schuld ereilte. Die Machthaber, die Politik haben kein kollektives Gewissen, doch sie besitzen Informationstechnologien und Informationsressourcen, die ihnen die Möglichkeit geben, destruktiv und vernichtend auf das kollektive Bewusstsein der Bürger Einfluss zu nehmen. Aber ich möchte sehr daran glauben, dass entgegen des kollektiven das individuelle Gewissen- die Menschenwürde, der Funke Gottes, nachdem wir uns anmaßten, uns lauthals als gläubige Menschen und als Gottes auserwähltes Volk zu proklamieren – in jedem von uns eines Tages aufhören, nur kleine schimmernde Sternchen in einer resignierenden, grauen und homogenen Biomasse zu sein, und wir selbst in unserem Land niemanden mehr erlauben werden, uns als Narren und Verbrauchsmaterial zu sehen. Das Wichtigste ist, dass es geschieht, bevor wir anfangen – durch die verlogene und niederträchtige Propaganda gegeneinander aufgehetzt – in unserem eigenen Blut zu ertrinken, was den Angehörigen und Verwandten der Machthaber, die bereits seit langem reich und glücklich außerhalb der Grenzen des Vaterlandes leben, nicht im entferntesten droht…
Dieses Material wurde von Ania Dorn exklusiv InformNapalm zur Verfügung gestellt; übersetzt von Kateryna Matey; redaktiert von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf den Autor und unser Projekt erforderlich.
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