
Am Vorabend der wichtigsten Feiertage zweier totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts (7. November in der UdSSR und 9. November im Dritten Reich) wäre es wohl angebracht, sich den ethischen Unterschied zwischen den beiden ins Gedächtnis zu rufen. Selbstverständlich nicht, um eins von diesen Regimen zu rechtfertigen. Aber da das Interesse an der Geschichte in unserer heutigen Gesellschaft recht groß ist, ist es wichtig, dass dieses Interesse unvoreingenommen bleibt. Anderenfalls wird diese totalitäre Geschichte in den heutigen Tag einsickern und sich mit neuen propagandistischen Kleidern versehen.
Die parlamentarische Versammlung der OSZE hatte bereits 2009 den Stalinismus und Nazismus gleichgestellt. Diese Entscheidung hat ein heftiges Missfallen des offiziellen Russlands hervorgerufen. Im „Rechtsnachfolger der UdSSR“ setzt sich fort und wird gerade gar stärker die ausschließlich sowjetische Interpretation der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und der Vorkriegsperiode. In der akademischen Geschichte, sozialer Philosophie und Publizistik können einzelne „Übergriffe“ des Kommunismus kritisiert werden. Aber im Grossen und Ganzen wird er als ein zwar etwas eigentümlicher, aber doch ein „Nachlass“ der Aufklärungs-Epoche mit ihrem Progressivismus, Rationalismus und Humanismus wahrgenommen. Im Vergleich damit wird der europäische Faschismus (im breiten Sinne: alle rechte antikommunistische Regime jener Epoche) als das „Absolute Böse“ präsentiert.
Wir werden hier die Opferzahlen nicht gegenüberstellen, wobei es offensichtlich ist, dass in Jahrzehnten des Weltkommunismus in verschiedenen Ländern (UdSSR, China, Kambodscha usw.) wesentlich mehr Menschen Schaden genommen hatten, als unter den europäischen faschistischen Regimen. Lasst uns auch nicht auf die Einzelheiten eingehen: kann man zum Beispiel Mannerheim oder Salazar als „Faschisten“ bezeichnen? Man muss erkennen, dass man den Nazismus vom ethischen Standpunkt her als das „Absolute Böse“ bezeichnen kann. Ein Regime, das auf der Vernichtung der Menschen anderer Nationalitäten basiert, war von Anfang an dem Untergang geweiht – falls die Menschheit Menschheit bleiben wollte.
Nichtsdestotrotz war dieses Absolute Böse ehrlich. Was es deklarierte – das verwirklichte es auch. Und wenn wir von diesem Standpunkt aus den Kommunismus anschauen, so werden wir über die gigantische Kluft zwischen seinen Deklarationen und den realen Resultaten erschüttert.
Betrachten wir doch drei berühmte Dekrete, die nach dem Umsturz im Oktober 1917 von den Bolschewiken erlasst wurden. Im wesentlichen gelang es ihnen gerade dank dieser Deklarationen die breite Volkssympathie hervorzurufen. Aber dann wurden alle, die daran geglaubt hatten, grausam belogen. So, im „Dekret über den Frieden“ hatten die Bolschewiken allen Völkern, die vom Ersten Weltkrieg ermüdet waren, einen „gerechten und demokratischen Frieden“ ohne Annexionen und Reparationen versprochen.
Das klang tatsächlich revolutionär. Nur hat sich das bolschewistische Russland als ein ganz und gar nicht friedfertiges und demokratisches Land erwiesen. Keine drei Jahre waren vergangen, als es nach Polen eingedrungen war. Im Mai 1920 rief die Zeitung „Prawda“ (dt. „Wahrheit“) offen dazu auf:
„Für eine internationale Revolution! Über die Leiche des weissen Polens liegt der Weg zu einem Weltbrand! Auf unseren Bajonetten werden wir das Glück und den Frieden für die arbeitende Menschheit tragen!“
Aber bei Warschau geschah das „Wunder an der Weichsel“ und die Roten wurden zurückgeworfen. Die Weltrevolution mittels eines Kriegszugs nach Europa war durchgefallen…
Im selben „Dekret über den Frieden“ hatten die Bolschewiken die „Abschaffung von Geheimdiplomatie“ versprochen, haben allerdings bald darauf das Komintern organisiert, das Revolutionen in anderen Ländern auf Kremls Geheiß verwirklichen sollte.
Mit dem anderen bekannten Dekret – „Über das Land“– hatten die Bolschewiken das private Bodeneigentum abgeschafft, deklarierten aber eine unentgeltliche Übergabe der Landesstücke an jene, die sie bestellten. Präzisierten dabei:
„Die Frage über den Boden, in all ihrem Umfang, kann nur von der allgemeinen gesetzgebenden Volksversammlung entschieden werden“.
Wie bekannt, haben sie die verfassungsgebende Versammlung aber bald auseinandergejagt, und die Bauer – zur räuberischen „Prodraswerstka“ (dt. „Ablieferungspflicht“) verdammt. Und 10 Jahre später sind sie eh zur totalen und repressiven Kollektivierung übergegangen, wobei sie das System der Leibeigenschaft zu seiner neuen Etappe wiederbelebten.
Das dritte bolschewistische Dokument, „Die Deklaration der Rechte von Völkern Russlands“ ist hier besonders bemerkenswert. Lenin und Stalin, die dieses Dokument unterschrieben hatten, erklärten:
- Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands;
- Das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung, bis zur Abspaltung und Bildung eines selbstständigen Staates;
- Abschaffung aller nationalen und national-religiösen Privilegien und Einschränkungen;
- Freie Entwicklung für nationale Minderheiten und ethnographische Gruppen, die das Territorium Russlands bevölkern.
Wenn diese Deklaration tatsächlich verwirklicht worden wäre, hätte es die totale Überwindung der russischen imperialistischen Tradition bedeutet. In Wirklichkeit hatten die Bolschewiken aber ganz andere Pläne, die eine Wiederherstellung des Imperiums vorsahen, nur auf einer anderen ideologischen Grundlage.
Ja, im Dezember 1917, als die Tinte auf dieser Deklaration noch nicht trocken war, war Lenin gezwungen die Unabhängigkeit von Finnland anzuerkennen. Aber mit der anderen Hand bewaffnete er die finnische „Rote Garde“, dieses Land an die „Sowjetrepublik“ wieder anzuschliessen wollend. Und als 1919 die Einwohner von Karelien sich auf diese Deklaration beriefen und ihre Souveränität anzuerkennen forderten, antworteten die Bolschewiken mit bewaffneter Unterdrückung der „Separatisten“. So, angefangen mit einem Kampf gegen den „zaristischen Imperialismus“, endeten die Bolschewiken mit der Restaurierung eines zentralisierten Imperiums – nur in wesentlich grausameren Formen.
In der sowjetischen Epoche setzte sich und verstärkte sich gar die Russifizierung der nationalen Minderheiten. Wobei die Russen selbst, die zum „Bau des Kommunismus“ und in die Kolchosen hineingetrieben wurden, wohl kaum etwas dadurch gewonnen hatten. Die russische Sprache wurde schlicht zu einem Instrument des Imperiums.
In 1936 schrieb Lew Trotzki, als er bereits ein politischer Emigrant war, ein Buch unter dem Titel „Verratene Revolution“, in dem er das stalinistische Regime der „bürokratischen Ausartung“ des Kommunismus beschuldigte. Wenn man aber von marxistischen Idealen der freien „hellen Zukunft“ spricht, so hatten sie die Kommissaren von Trotzki selbst verraten, die bereits 1918 die ersten Konzentrationslager zu bauen begannen, welche später zu einem endlosen durchgehenden GULAG ausarteten…
Genau dieser scharfe Kontrast zwischen den bolschewistischen „Befreiungsdeklarationen“ und der Verwandlung des Landes in eine in der Weltgeschichte nie zuvor gesehene totalitäre Diktatur hatte die Europäer eben auch verschreckt. Im Grunde genommen war der europäische Faschismus eine Reaktion auf die zynische Lüge der Kommunisten.
Darum begehen jene Historiker, die den Faschismus als ein dahergelaufenes absolutes Böse entlarven, eine Unterschiebung. Sie sehen nicht oder sie wollen nicht die Ursache- und Wirkungsprinzipien sehen.
Buchenwald ist um kein Haar besser als Kolyma. Aber ohne Kolyma hätte es kein Buchenwald gegeben.
Quelle: Wadim Schtepa in rufabula.com; übersetzt von Irina Schlegel
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