InformNapalm hat ein Interview bei einem syrischen Staatsbürger, Abu Ibragim, genommen, dessen Schicksal sich eng mit der Ukraine verflochten hat. Im Interview spricht er über die Ursachen der syrischen Revolution, Repressionen gegen das syrische Volk, Luftangriffe der russischen Luftwaffe und darüber, wie die Ukrainer und Syrer den Kreml besiegen können.
IN: Guten Tag. Kannst Du uns erstmal sagen, wie wir Dich unseren Lesern vorstellen sollen, kurz über Dich, über Dein Leben erzählen?
Abu Ibragim: Mein Name ist Abu Ibragim, ich bin in Damaskus geboren, bin dort auch gross geworden. Ich kam in die Ukraine zum Studieren, wollte hier Kenntnisse sammeln, um zurück in meine Heimat zu gehen, der syrischen Gesellschaft einen Nutzen bringen. Bekam meine Hochschulbildung hier und ging zurück nach Syrien, richtete mein Leben ein: Familie, Haus, Arbeit… Arbeitete in Damaskus als Lehrer. Lebe nun wieder in der Ukraine, kann nicht zurück nach hause – wie viele andere Syrer, habe ich Angst vor Repressionen gegen mich und meine Familie.
IN: Erzähl‘ uns doch was über Syrien. Worin besteht das Potential Deines Landes, und welche Probleme hindern es daran, dieses Potential zu entfalten?
Abu Ibragim: Im Vergleich zur Ukraine ist Syrien kein grosses Land. In Syrien leben 23 Millionen Menschen… also, lebten 23 Millionen. Leben in verschiedenen Regionen, unter verschiedenen Bedingungen – es gibt dichtbevölkerte Metropolen und kleine ruhige Städtchen, viel Land bei uns ist Wüste, dort leben verschiedene Stämme. Theoretisch ist Syrien ein reiches Land. Erdöl, Gas, Phosphate. Es gibt zwei grosse Potentialbereiche, die wegen des korrupten Regimes gar nicht entwickelt wurden: der Tourismus und unsere Jugend. Syrien ist ein Land uralter Zivilisation – Mesopotamien: die ersten Städte, die erste Schrift usw. Es gibt vieles, was man Touristen zeigen könnte, und bei uns wurde dieser Sektor aber gar nicht gefördert. Die Jugend ist sowieso der Potentialbereich jeder Gesellschaft, und in Syrien ist es die zahlreichste Bevölkerungsgruppe, das Durchschnittsalter der Syrer ist 20 Jahre alt. Aber man kann weder Arbeit finden noch eine gescheite Ausbildung bis zum Alter von 28-29 Jahren machen, und das ist auch diesem korrupten Regime zu verdanken.
IN: Wie war die Lage in Syrien vor der Revolution? Was waren ihre Ursachen?
Abu Ibragim: Syrien ist ein Land mit viel Potential. Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region galt unser Volk nicht als arm, wir waren in den ersten Reihen, was den Aufbau der Demokratie, den Bildungsstand angeht. Aber nachdem die Macht in 1963 von der Armee zusammen mit der sozialistischen Baath-Partei ergriffen wurde, begannen endlose Umstürze, und am Ende, in 1970, bezwang alle Konkurrenten der Offizier Hafiz al-Assad. Und es begann die absolute Diktatur. Hafiz war ein grauenhafter Mensch. Er gründete 17 Geheimdienstabteilungen, die jeden Schritt jeden Bürgers beobachteten. Wir waren an so eine Diktatur nicht gewohnt. 1980 schlug er einen Aufstand nieder, damals wurden in Hama von 30 bis 40 000 Menschen getötet – wir wissen es nicht genau, denn es gab kein Internet und die Information wurde verheimlicht. Zugleich baute er die Wirtschaft nach sozialistischem Prinzip auf, es gab Projekte zur Industrieentwicklung, neue Infrastrukturobjekte usw. Ende 1990er erkrankte Hafiz an Krebs, und alle wussten, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Er bereitete seinen Sohn Baschar für die Rolle des Präsidenten vor. Wir hatten damals viele Hoffnungen, denn Baschar studierte in England, seine Frau ist eine Engländerin, also, so ein westlicher Typ halt. Nach dem Tod von Hafiz versammelten sich die Offiziere und zwangen das Parlament, die Verfassung zu ändern: Bassad zu erlauben, mit 34 zum einzigen Präsidentschaftskandidat zu werden (denn früher hatten wir eine Altersbarriere von 40 in der Verfassung gehabt).
Und auch wenn Baschar im Grunde zu einem Thronnachfolger wurde, haben die Menschen gehofft, dass er anders als sein Vater ist und dem Volk Freiheit beschert. Die ersten paar Jahre schien es auch so zu sein: Baschar erlaubte Mobilfunk, Internet, es begann ein sehr aktiver Prozess der Privatisierung von Wirtschaft. Und noch ein paar Jahre später wurde uns klar, dass der Sinn der Privatisierung darin bestand, alle staatlichen Objekte und Projekte in die Hände der Familienmitglieder und Verwandte des Präsidenten zu übergeben. Die Cousins von Baschar Rami Machluf, Sulgemi Schalisch und die Familie seiner Frau kontrollierten den Grossteil unserer Wirtschaft. Die Syrer witzelten immer, dass das Land gänzlich in den Händen von Rami Machluf ist. Zum Beispiel hatten wir in Syrien nur zwei Mobilfunkbetreiber und beide gehörten Rami Machluf.
2008 hat die Regierung schreckliche Fehler in der Wirtschaft begangen. Sie vervierfachten die Preise für Brennstoff, obwohl wir ein Land sind, das Brennstoff herstellt. Das Geschäft wurde dadurch angeschlagen, kleine Hersteller haben geschlossen, da die Selbstkosten zu gross ausfielen. Die Menschen, die in Dörfern und in der Wüste lebten – die Bauer, schmissen ihren Landgüter hin und gingen in die Stadt: die Irrigation in Syrien ist künstlich und die Bauer sind vom Brennstoffpreis sehr abhängig. Da war der erste Funke der Revolution. Viele Jugendliche und plötzlich stark angewachsene Zahl der Arbeitslosen. Die Preise für Lebensmittel schossen in die Höhe, für Transport, für Miete in den Grossstädten. Und die Regierung, die einen finanziellen Aufschwung wegen der Erdölpreise durchlebte, beschloss weiterhin auf das Volk Druck auszuüben. Baschar zeigte nun sein wahres Gesicht und es begannen die ersten Repressionen gegen die Unzufriedenen. Und dann kam der Arabische Frühling. 2011. Unsere Leute verfolgten die Demonstrationen gegen die Diktatur in Tunesien, Ägypten. Bei uns kam Hoffnung auf eine Veränderung auf friedlichem Wege auf. Es war sehr schwer, Demonstrationen zu organisieren, wir wussten, dass es in jedem Kollektiv einen Verräter gibt. Aber die allgemeine Unzufriedenheit besiegte unsere Angst. Für mehrere Monate war ganz Syrien von friedlichen Demonstrationen überschwemmt.
IN: Findest Du Assads Regime verbrecherisch?
Abu Ibragim: Ich weiss nicht, ob man ein Regime verbrecherisch nennen kann, das die Hälfte des Landes vernichtet, die Hälfte der Bevölkerung bettelarm, zu Flüchtlingen gemacht hat, ein Regime, das 250 000 Menschen getötet, 500 000 ins Gefängnis geworfen hat. Ich denke, das Wort „verbrecherisch“ passt hier nicht mehr. Was haben syrische Geheimdienste mit dem 13-jährigen Hamsa al-Hatyb aus Provinz Dar’a gemacht? Sie folterten ihn auf verschiedene Art und Weisen, schnitten sogar seinen Männlichkeitsorgan ab, sie quälten ihn, bis er gestorben war. Auf der Leiche seines Freundes, des 15-jährigen Samir ash-Scharai, wurden Zigarettenverbrennungen gefunden, drei Kugel in seinem Körper, gebrochene Knochen, Spuren eines elektrischen Bohrers. Und diese zwei Leichen haben die Geheimdienste den Eltern selber in dem Zustand zurückgegeben. 17 Geheimdienstabteilungen waren für Baschar nicht genug. Er hat „Shabiha“-Banden organisiert (sowas wie bei euch in der Ukraine die „Tituschki“), gegen friedliche Demonstranten. Shabiha und die Geheimdienste haben alle mögliche Arten von Verbrechen begangen: sie haben Kinder vor den Augen ihrer Eltern in Stücke zerschnitten, sie haben Menschen lebendig verbrannt, sie haben Frauen, Männer und Kinder vergewaltigt.
Viele dieser Fälle fanden bereits in den ersten sechs Monaten der Revolution statt. In der Zeit, als es noch einfach nur friedliche Demos waren. Die Syrer warteten, hatten aber keine Hilfe von der Weltgemeinschaft erhalten. Darum haben wir halbes Jahr später angefangen, unsere Verteidigungstrupps selber zu organisieren, um uns vor diesem Regime zu schützen. In Assads Gefängnissen sind nun Kinder im Alter von 2, 3, 4 Jahren – sie wurden verhaftet, weil irgendjemand aus ihrer Familie gegen Assads Regime kämpft. Sie sind nun Geisel.
IN: Wir in der Ukraine, trotz der Tatsache, dass wir auch einen Krieg führen, verfolgen die Ereignisse in Syrien, fühlen mit Zivilisten mit, wissen über die russischen Flugzeuge, Luftangriffe, kennen sogar die Namen der russischen Piloten und geben sie öffentlich bekannt. Wahrscheinlich hast Du auch Verbindung zu Freunden und Nahestehenden, erzähle uns aus erster Hand, wie ist die Situation dort gerade, wie steht die Gesellschaft zum jetzigen Geschehen?
Abu Ibragim: Ich möchte diese Möglichkeit nutzen und mich bei den Freiwilligen von InformNapalm bedanken, dafür, dass Ihr Informationen über die Verbrecher ans Licht bringt, die sich an diesem blutigen Krieg gegen die Syrer beteiligen. Jeder, der ein Video mit den Zerstörungen in Syrien sieht, wird wissen, dass es hauptsächlich Folgen der Luftangriffe sind.
Wohnhochhäuser, die wie Kartenhäuser zusammengefallen sind. Ganze Familien sterben, in ihren eigenen Häusern. Eine Fassbombe – und eine ganze Familie ist tot. Die Familien, die einen Luftangriff überlebt haben, flüchten. Flüchten egal wohin. Manchmal werden Familien, die das Regime hassen, gezwungen, auf Territorien zu flüchten, die Assad unterstellt sind, denn dort führt die Luftwaffe ja keine Angriffe aus.
Die Angriffe werden oft auf Infrastrukturobjekte ausgeführt: Wasser, Elektrizität. Es wird immer schwieriger zu überleben – sie bomben Schulen, Krankenhäuser, Bäckereien. Es gibt nicht genug Medikamente. Es passiert schon mal, dass wegen einer kleinen Wunde die Ärzte das komplette Glied amputieren müssen. Menschen sterben, weil in Krankenhäusern keine elementare Medikamente vorhanden sind, wie Antibiotika oder blutstillende Mittel. Mit Kassettenbomben werden grosse Territorien vermint, die Einwohner treten darauf und sterben. Viele Kinder sind zu Waisen geworden. Haben einen Arm, ein Bein verloren. Viele Invalide.
IN: Was denkst Du, was kommt als Nächstes?
Abu Ibragim: Assad und Putin haben in Syrien ein Chaos erschaffen und überzeugen die ganze Welt erfolgreich davon, dass man gegen die Folgen kämpfen muss, und nicht gegen die Ursachen dieses Chaos. Aber die Syrer wissen, dass solange Assad da ist, die Situation nicht besser wird. Wir werden überredet, eine politische Entscheidung zu treffen. Angeblich soll die Zusammenarbeit mit der Regierung uns befrieden. Aber diese Revolution besaß nicht mal politische, wirtschaftliche oder soziale Beweggründe – es war eine Revolution der Ehre und Würde. Und die Syrer werden sich nicht beruhigen, bis sie Assad und seine Bande in einem internationalen Tribunal sehen werden. Diese Aufgabe wird durch das Auftauchen des IS sehr erschwert, aber ich glaube daran, dass wir Syrien von Assads Banden und dem IS befreien werden.
IN: Worauf könnte sich die Zusammenarbeit zwischen dem syrischen und ukrainischen Volk gründen?
Abu Ibragim: Die Syrer und die Ukrainer haben viel gemeinsam: Wille, Ehre und Würde. Dieses Gemeinsame sieht auch Putin. Aus diesem Grund ist die Frage der Chaosverbreitung und Unterdrückung von Revolutionen eine prinzipielle Frage für den Kreml. Der Erfolg eines von unseren Völkern bei der Erreichung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wohlstands ist für ihn ausgeschlossen. Darum kämpfen wir gegen einen gemeinsamen Feind. Euer Erfolg wird den Kreml schwächen, wie auch unser Erfolg ihn ebenfalls schwächen wird.
IN: Worin könnte die Hilfe von der Ukraine und anderen Mitgliedern der Weltgemeinschaft fürs syrische Volk bestehen?
Abu Ibragim: In diesem Krieg verlassen wir uns auf unsere Freie Syrische Armee und andere Aufständische. Das Schwierigste für uns sind die Luftangriffe auf Wohnviertel. Wenn es keine Luftwaffe gäbe, würden wir gegen Assad Auge in Auge kämpfen.
Es sind zwei Szenarios möglich: entweder den Aufständischen irgendwelche Luftabwehrwaffen zu geben, oder aber in Syrien ein Flugverbotszone einzurichten, was den Flüchtlingen die Möglichkeit geben würde, in die Heimat zurückzukehren. Das würde Europa erlauben, das Flüchtlingsproblem zu lösen und die Opferzahl zu verringern (die Mehrheit der Syrer stirbt gerade durch Luftangriffe).
Leider schenkt der Westen unserer humanitären Katastrophe wenig Beachtung. Bislang geben sie den Syrern keine Möglichkeit, den fliegenden Alptraum loszuwerden, der permanent unser Leben bedroht. Da militärische Hilfe zum jetzigen Zeitpunkt nicht erlaubt ist, würden wir für jede Hilfe humanitären Charakters dankbar sein. Die Syrer brauchen Medikamente, Prothesen und Implantate, besonders die Kinder. Sie brauchen künstliche Beinchen, um zu laufen, sie brauchen Armprothesen, um zu schreiben.
Sie wollen wie normale Kinder leben. Sie sind an nichts schuld. Sie brauchen jede Hilfe medizinischen Charakters. Viele Kinder müssen herausgebracht werden – sie brauchen Operationen, die in Syrien nicht gemacht werden können. Wir haben wenig Ärzte, denn das Regime hat die Ärzte zielgerichtet vernichtet. Wir brauchen Ärzte sehr. Wir brauchen Psychologen, Krankenpfleger.
Auch brauchen wir Hilfe in Minenräumung, von Minen und Kassettenbomben – wir brauchen entweder Spezialisten, oder Ausbilder für unsere Zivilverteidigung, vielleicht auch einfach über Internetinformationen.
Die Welt versucht, die Augen vor der Situation in Syrien zu verschließen, sich davon abzulenken. Wir wären sehr dankbar, wenn die Medien mehr über die Verbrechen von Assad und seinen Verbündeten schreiben würden, die jeden Tag in Syrien begangen werden. Und wir brauchen eure Gebete, damit die Ungerechtigkeit in Syrien ihr Ende findet, und syrische Kinder bessere Zukunft haben.
Danke Euch allen für Eure Zeit und Eure Aufmerksamkeit.
Unsere internationale Freiwilligengemeinschaft InformNapalm setzt Untersuchungen der Verbrechen des russischen Regimes nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien fort. Indem wir einander helfen, werden wir stärker und können unsere Gegner schwächen.
Dieses Material wurde von Kateryna Jaresko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Quelle erforderlich.
CC BY 4.0
Photos von:عدسة شاب دمشقي | Lens young Dimashqi
Ein Hinweis für unsere Leser: Unsere Freunde aus der Gruppe Europeans for Ukraine haben eine Petition vorbereitet, mit einem Aufruf an die EU und USA, der Appeasement-Politik gegenüber Russland endlich ein Ende zu setzen. Jede Unterschrift ist wichtig! Unter folgendem Link kann man die Petition unterschreiben: „EU und USA: Blutvergießen stoppen- keine weitere Appeasement-Politik mit der Russischen Föderation!“
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