Wir sprechen mit dem Autor der Untersuchung über den Krieg Russlands in der Ukraine, dem Abgeordneten der Partei „Jabloko“ Lew Schlossberg.
Können die von „Jabloko“ vorgeschlagene Koalition der politischen Alternative und die Anti-Kriegs-Märsche den Tod von tausenden russischen und ukrainischen Bürger im Krieg in Donbass verhindern?
Im Studio von Radio Swoboda ist der Autor der Untersuchung zum Tod der Pskower Fallschirmjäger in der Ukraine, Mitglied des föderalen Ablegers der Partei „Jabloko“, Abgeordneter des Gebietsparlaments von Pskow, Gründer der Zeitung „Pskowsker Gouvernement“ Lew Schlossberg.
Nachdem in der Zeitung „Pskowsker Gouvernement“ die Untersuchung zum Tod der Soldaten der Pskower Luftlandedivision erschien, wurde auf den Autor ein Angriff verübt, nun ist das Verfahren praktisch eingestellt worden. Lew Schlossberg setzt seine Nachforschungen zum Thema der Beteiligung der russischen Soldaten an den Kampfhandlungen auf dem ukrainischen Territorium fort und veröffentlicht weiterhin Antikriegs-Artikel.
Diese Sendung moderiert Michail Sokolow.
Michail Sokolow: – Heute zu Gast in unserem Studio in Moskau ist das Mitglied des föderalen Ablegers der Partei „Jabloko“, Vorsitzender der Pskower Stelle der Partei „Jabloko“, Abgeordneter des Gebietsparlaments von Pskow, Gründer der Zeitung „Pskowsker Gouvernement“ Lew Schlossberg. Wir sprechen über journalistische Tätigkeit, politische Tätigkeit und die Situation in der Ukraine.
Die erste Frage: am 29. August letzten Jahres sind Sie das Opfer eines Angriffs in Pskow geworden, mit gesundheitlichen Folgen, Sie waren auch im Krankenhaus, wie geht es Ihnen jetzt?
Lew Schlossberg: – Danke, gut.
Sokolow: – Was waren Ihrer Meinung nach die Gründe für diesen Angriff? Viele glauben, dass das die Rache für die Veröffentlichung über den Tod der Pskower Fallschirmjäger in der Ukraine war.
Schlossberg: -Erstens müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass damals in Pskow die Angriffe auf die Journalisten der russischen Medien täglich stattfanden. Es gab einen Angriff auf die Journalisten von „Reuters“, dann auf die Journalisten von „Russian Telegraph“ und „TV Rain“, von „Fontanka“ und „Novaya Gazeta“ – es kam jeden Tag vor. Unter anderem fanden diese Angriffe auf zwei Friedhöfen in Pskow statt – der Friedhof „Krestowskoje“ und der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow, wo russische Armeeangehörige begraben wurden, die in Pskow gedient haben und die nach Pskow von der ukrainischen Front leider nicht mehr lebend zurückgekehrt sind. Offensichtlich hatten einige Vertreter der politischen Führung, meiner Meinung nach der militärischen Führung des Landes, die Idee, dass nicht diejenigen Schuld daran tragen, die den Krieg begonnen haben, sondern diejenigen, die davon erzählt haben, mehr noch, die von den Verlusten erzählt haben. Ich gehörte zu denjenigen, die geredet und die Aufmerksamkeit dieser Menschen erregt haben.
Ich bin mir absolut sicher, dass die Entscheidung, die Journalisten zusammenzuschlagen- nicht nur mich, sondern alle unseren Kollegen- nicht in Pskow getroffen wurde. Diese Entscheidung wurde in Moskau von sehr hochgestellten Persönlichkeiten getroffen, in Pskow wurde nur der Befehl ausgeführt. Dementsprechend sind alle Ermittlungsteams, die die Angriffe auf die Journalisten untersuchten, auf massive Behinderungen bei der Arbeit gestoßen.
In zwei Fällen wurden die Schuldigen gefunden – das waren Soldaten, Zeitsoldaten der 76. Luftlandedivision, aber statt strafrechtlichen Ermittlungen wurden die Fälle von der Polizei zu disziplinarischem Vergehen erklärt und an die Militäreinheiten zur Verhängung Disziplinarstrafen übergeben. Ich glaube, dass diese Herren eher belohnt wurden.
Sokolow: – Disziplinarstrafe – was bedeutet das? Die Aussicht auf ein Strafbataillon, und was noch?
Schlossberg: – Nein, es geht um den Tadel oder etwas ähnliches. Ich glaube, sie wurden für die Jagd auf die Journalisten belohnt.
Sokolow: – Haben Sie noch Kontakt zu den Ermittlern oder wurde die Untersuchnung in Ihrem Fall ausgesetzt?
Schlossberg: – Nach den Ereignissen, als die Untersuchung ausgesetzt wurde, das war im Herbst nach dem Ablauf der Verfahrensfristen, im Laufe derer die Ermittlung entweder die Verdächtigen bestimmen und in diese Richtung nachforschen, oder sie für nicht auffindbar erklären sollte, hat die Ermittlung sie für nicht auffindbar erklärt, und ich habe einen entsprechenden Brief erhalten. Danach kann dieses Verfahren aber unzählige Male wiederholt werden.
Im Dezember, als schon alle wussten, dass die Untersuchung ausgesetzt wurde, habe ich einen brieflichen Bescheid bekommen, unterschrieben von einem anderen Ermittler, dass der Fall wieder aufgenommen wurde. Seitdem habe ich mit den Ermittlern nicht mehr gesprochen. Ich habe eine allgemeine Vorstellung davon, wie die Ermittlungen vonstatten gingen.
Ich glaube, dass die Menschen, denen dieser Fall zufällig zugeteilt wurde, die hätten es sich auch nicht vorstellen können, dass sie mit politischen Angelegenheiten zu tun bekommen werden, ursprüglich haben sie auch alles richtig gemacht, meiner Meinung nach, aber man kann das nicht enthüllen, weil die vollständige Untersuchung dieses Falles solche Namen offenbaren würde, die bei dieser Regierung nicht enthüllt werden dürfen, deshalb kam alles zum Stillstand. Im Jahr 2015 habe ich nicht mit den Ermittlern gesprochen, sie sind aber auch nicht auf mich zugekommen, haben keine Fragen gestellt.
Sokolow: – Also ist die Untersuchung sozusagen vor den Toren dieser Luftlandedivision stehen geblieben?
Schlossberg: – Die Untersuchung ist stehen geblieben, bis zu den Toren der Division haben die es nicht einmal geschafft. Es gibt bis heute nicht mal indirekte Hinweise darauf, dass die Gruppe, die mich beschattet und den Überfall auf mich organisiert und durchgeführt hat, dass diese Menschen etwas mit der russischen Armee zu tun haben, es gibt zurzeit keine belegbaren Beweise. Aber alle Untersuchungen gingen in diese Richtung, denn dieser Weg schien den Ermittlern offensichtlich.
Sokolow: – Was Ihre Auftritte in der Presse angeht, Ihr Vorhaben, die Aktivitäten der russischen Soldaten auf dem ukrainischen Territorium zu untersuchen – bereuen Sie es heute? Vielleicht hätten Sie nicht so laustark darüber sprechen sollen?
Schlossberg: – Wissen Sie, ich glaube, dass ich nicht mal so lautstark darüber geredet habe. Die Ereignisse vom August waren leider vorhersehbar. Jetzt wird kaum darüber gesprochen, wir haben davon erzählt, aber vielleicht haben es nicht alle gehört. Die ersten toten Soldaten waren die aus Pskow, und sie wurden schon vorher in die Ukraine geschickt.
Sokolow: – Im Frühjahr?
Schlossberg: – Das genaue Datum kann man nicht nennen, aber die ersten Toten gab es dort schon im Sommer.
Sokolow: – Also im gewissen Sinne stimmt es mit den Informationen überein, die Swetlana Dawydowa zu Wjasma gegeben haben soll, dass die dortigen GRU-Angehörigen irgendwo in den Süden geschickt wurden.
Schlossberg: – Da gab es eine völlig andere Situation, über Wjasma kann ich nichts konkret sagen. Die Frau, soweit ich weiß, fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, hat ein Gespräch belauscht und es irgendwie interpretiert. Wir hatten eine ganz andere Situation, hier war eine GRU-Brigade stationiert, und der Erste, der beerdigt wurde, gehörte dazu; er wurde auch dort in Wybuty beerdigt, wir alle kennen diesen traurigen Ort. Damals wussten wir schon, dass es die Beteiligung und die Toten gibt. Damals hatten wir das Gefühl oder den Eindruck, dass es eine Art Sonderoperation ist, dass die Leute sich dort aufgrund einer sehr spezifischen Vereinbarung befinden, dass es, wie man es früher genannt hat, ein sehr beschränktes Truppenkontingent ist. Nach dem 15. August wurde uns klar, dass das Kontingent zwar beschränkt, aber sehr groß ist, und es gab die ersten Massenverluste. Damals ist es übrigens den einfachen Zivilsten aufgefallen, den Lesern von sozialen Netzwerken, die darauf aufmerksam wurden, dass im Netzwerk „VKontakte“ die Angehörigen von den Gefallenen über deren Tod schrieben.
Ein sehr wichtiger für mich Brief, der mich eigentlich dazu bewegt hat,am 25. August zum Friedhof in Wybuty zu fahren – das war der Brief eines ehemaligen Soldaten der 76. Division, einen Soldaten im aktiven Dienst, der nun in einer anderen Region Russlands stationiert ist. Er schrieb mir, dass sein enger Freund und Kamerad Leonid Kitschatkin gefallen ist und am Montag beerdigt wird. Über diese Verschleierung, dieses Verschweigen von Verlusten und Beerdigungen war er sehr empört. Er bat mich, zum Friedhof zu fahren, um zu sehen, was dort passieren wird. Im gewissen Sinne ist dieser Brief für mich zum letzten Tropfen geworden.
Ich denke nicht, dass das, was wir dort gesehen und wovon wir erzählt und geschrieben haben, so dramatisch war: das Geschehen und der Ablauf. Wir sahen eine Beerdigung, offensichtlich die Beerdigung eines Soldaten der Division, denn dort gab es viele Busse der Division, sehr viele Menschen. Ich sagte es damals und sage es heute: ich bin mir sicher, dass dort nicht nur Leonid Kitschatkin beerdigt wurde. Wir haben aber nur einen Teil des Abschieds gesehen, die Militärs waren strikt gegen die Anwesenheit von Fremden, ich und mein Kollege Alexey Semjonow, ein Journalist der „Pskowsker Gouvernement“, haben den Ort verlassen. Er hatte das Glück, dass er nicht erkannt wurde, er ist ungestört weggegangen, ich bin auch gegangen, aber die Militärs haben behauptet, dass die Angehörigen angeblich gegen jegliche Fremden auf dem Friedhof waren. Da waren mehr als hundert Menschen, das war offensichtlich keine gewöhnliche Beerdigung. Ich glaube nicht, dass es nur mit Leonid Kitschatkin was zu tun hatte.
Sokolow: – Unsere Zuhörer stellen immer die Frage: wie können Sie beweisen, dass diese Person auf dem ukrainischen Territorium gestorben ist?
Schlossberg: – Wissen Sie, wir sind keine Ermittlungsbehörden, keine Polizei, kein Untersuchungsausschuss und keine militärische Oberstaatsanwaltschaft, wir haben einen anderen Beruf. Die Aufgabe eines Journalisten ist zu beobachten und über seine Beobachtungen zu berichten. Ein Journalist kann konkrete Behauptungen machen, Fragen stellen, Vermutungen anstellen; die Öffentlichkeit, der wir die Informationen zugänglich machen, kann ihre eigenen Schlüsse ziehen.
Die Angehörigen wussten genau, dass es in der Ukraine passiert ist, aber sie hatten Angst darüber zu sprechen. Dass es in der Ukraine passiert ist, weiß ich nicht von ungefähr, sondern von den Angehörigen der Soldaten, die das Glück hatten zu überleben. Denn diejenigen, die ihre Familienmitglieder verloren haben, neigen am wenigsten dazu, mit irgendjemanden über irgendwas zu sprechen. Diese Menschen wussten aber, dass ihre Verwandten aus der Ukraine zurückgekehrt sind, weil die Überlebenden erzählt haben, wo sie gewesen sind.
Dazu kommen noch zwei Interviews, die in der „Pskowsker Gouvernement“ erschienen sind – das waren zwei Soldaten, einer davon verwundet, er hat die Kämpfe in der Ukraine erlebt, war bei den ersten schrecklichen Schlachten am 18-19. August dabei, sie beide haben das mit eigenen Augen gesehen. Ich versichere Ihnen, diese Menschen konnten gar nicht lügen. Sie hätten sich niemals an mich mit der Bitte um Veröffentlichung gewandt, wenn es nicht ihre extreme Empörung über diesen geheimen Krieg und seine Folgen gewesen wäre, Folgen für ganz bestimmte Menschen, unter anderem Kitschatkin, Ossipow und viele andere.
Sokolow: – Lew Markowitsch, durchschauen Sie jetzt den Verschleierungsmechanismus der Verluste der russischen Armee auf dem ukrainischen Territorium?
Schlossberg: – Insgesamt ja, im Detail kann man davon nicht berichten. Man muss bedenken, dass diese Militäroperation absolut geheim durchgeführt wird, die Militärangehörigen unterschreiben die Geheimhaltungserklärung, Verstoß dagegen bedeutet eine Freiheitsstrafe und sehr ernste Folgen. Darüber hinaus müssen die Angehörigen und Familien der Soldaten diese Erklärungen ebenfalls unterschreiben, was sehr seltsam ist, früher hat es sowas nicht gegeben, nun ist es üblich. Die Menschen haben nicht nur deswegen Angst zu reden, weil sie verstehen, dass das ein geheimer Krieg ist, sondern auch weil es ein Dokument gibt, das Ihre Rechte zum Reden einschränkt.
Sokolow: – Warum müssen sie denn die Geheimhaltungserklärung unterschreiben?
Schlossberg: – Ich glaube, es gibt einen allgemeinen Beschluss darüber, dass das offizielle Russland weiterhin leugnen soll, dass die Militärangehörigen der regulären russischen Einheiten sich in der Ukraine befinden, diese Lügeneinstellung wird beibehalten.
Das sagt alles. Was die Beerdigungen angeht, so wissen wir, dass z. B. früher unsere Gefallenen in Pskow ankamen- der Flughafen von Pskow liegt 15 Flugminuten von Kreml entfernt, wir sind der einzige Ort in der Föderation, wo der Flughafen sich nicht nur innerhalb der Stadtgrenze befindet, sondern praktisch in der Innenstadt liegt, und er dient als Passagier- und Militärflughafen gleichzeitig. Zuerst wurden die Gefallenen dort angeliefert, jetzt kommen sie in anderen Stadtteilen an. Man versucht, sie sofort zu sortieren. Die, die nicht aus Pskow gebürtig sind, oder ihre Familien nicht in Pskow leben, werden gleich weitergeschickt. So werden die Beerdigungen zerstreut.
Damals, als die Beerdigungen jede Menge Aufmerksamkeit auf sich zogen, gab es im ganzen Land Beerdigungen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten, mal um 7 oder 8 Uhr morgens, mal spätabends, es war ja Sommer und lange hell, und der Abschied konnte für eine ungewöhnliche Zeit angesetzt werden. Aber das passierte in den Städten.
Was die Dörfer angeht, das, was in den Dörfern passierte, wurde gar nicht verheimlicht. Ein Soldat namens Alexei Baranow kam aus dem Kuninski Bezirk, aus einem kleinen Dorf, gerade mal 40 Menschen, die Schule, in die er ging, seine Familie, alle Bekannten, sie alle kamen zu der Beerdigung.
Am 16.September habe ich eine Anfrage an Fridinski von der militärischen Oberstaatsanwaltschaft geschickt. Wir hatten eine Information von den Verwandten eines gefallenen Soldaten aus Welikije Luki. Wir haben eine Anfrage geschickt, ich wusste nicht genau, ob er in der Stadt oder im Umland beerdigt wurde. Am folgenden Tag bekomme ich einen Brief von einem Bewohner des Kuninski Bezirks, mit einem Video vom 17. September, die Beerdigung war am 17., er selbst war dabei. Wir haben den vollständigen Namen dieses Kerls erfahren, das genaue Datum seines Todes – 30. August. Das ganze Dorf war bei der Beerdigung dabei. Das kann man nicht verheimlichen.
Jetzt ist es schwierig, vielleicht auch beängstigend zu mutmaßen, wie viele Leute insgesamt gestorben sind, ich kann aber nach meiner allgemeinen Beurteilung der Situation sagen, dass es in der Ukraine russische Truppen gibt, und dass die Verluste hoch sind. Die Wahrheit darüber wissen mit Sicherheit Zehntausende von Menschen in unserem Lande, durch ihre Kontakte zu den Bekannten, wenn man vom Bekanntenkreis der Familien der Gefallenen ausgeht.
Sokolow: – Lew Markowitsch, um welche Geldsummen geht es, bekommen die Leute etwas?
Schlossberg: – Ja, alle Verpflichtungen werden eingehalten. Selbst im Antwortbrief der militärischen Oberstaatsanwaltschaft stand es, dass die Zahlungen von der militärischen Staatsanwaltschaft in den Gebieten überwacht werden. Es ist bekannt, dass zum Ende des letzten Jahres die Familien von Gefallenen auf jeden Fall eine Einmalzahlung von 5 Mio Rubel bekamen. Für Pskow, z. B., für die Bezirke der Pskower Region und für Dorfverhältnisse ist das eine sehr große Geldsumme. Eine Kriegsverletzung „kostet“ 1 Mio Rubel. Am meisten empört waren diejenigen, die nicht nur überlebt haben, sondern nicht mal verletzt wurden, denn in dem Moment, als die Leute ihre 20.000 Rubel für, entschuldigen Sie, den Krieg bekamen, waren sie so über diese Situation wütend, dass sie praktisch bereit waren, alles auszupacken. Übrigens, wenn das Zeitsoldaten waren, haben sie hinterher ihre Verträge gekündigt und Pskow oder andere Einheiten verlassen. Das heißt, als die Leute diesen Krieg gesehen haben, haben sie ihren Beruf aufgegeben und die Armee verlassen, es gibt recht viele davon.
Sokolow: – Gibt es denn eine Vorstellung davon, wie das Verhältnis von Zeitsoldaten und Wehrdienstleistenden dort war?
Schlossberg: – Ich glaube, dass der Einsatz von Wehrdienstleistenden dort eher eine Ausnahme ist. Denn die Abhängigkeit der Familien der Berufssoldaten, auch der Zeitsoldaten, vom Verteidigungsministerium ist enorm, sie sind in allem abhängig. Wenn es um die Wohnung geht, zahlt das Verteidigungministerium die Hypothek, alle Zuschüsse. In der Regel ist der Soldat der wichtigste, wenn nicht der einzige Versorger in der Familie, in dieser Situation sind die Menschen fast Leibeigene vom Verteidigungsministerium.
Die Wehrdienstpflichtigen sind in einer anderen Lage, das sind andere Familien, die Menschen, die mit dem Verteidigungsministerium nichts zu tun haben. Unsere Armee ist überwiegend aus Berufssoldaten zusammengestellt, es gibt aber Einheiten, wo es auch Wehrdienstleistende gibt, denn der Vertrag eines Zeitsoldaten ist inzwischen nicht mehr so attraktiv. Vor 15-20 Jahren war er noch attraktiv, aber als der allgemeine Lebensstandard gestiegen ist und die Möglichkeiten erschienen sind, mehr Geld ohne Risiko für das eigene Leben zu verdienen, nahm der Ansturm in die Armee ab.
Ich glaube, die diesjährigen Versuche, die Wehrpflichtigen dazu zu drängen, diese besonderen Verträge für den Kriegseinsatz in der Ukraine zu unterschreiben, damit zu tun haben, dass die Armee nicht in der Lage ist, die Einheiten für den Kriegseinsatz nach Planvorgabe zu besetzen. Aus Pskow wurde eine sehr große Anzahl von Soldaten in die Ukraine geschickt, einmal, zweimal, beim dritten Mal hat es nicht geklappt – es gab nicht genug Bewerber. Dann fing man an, überall zu suchen, in allen Ecken, denn Pskow hat Angst, Moskau sagen zu müssen „Die nächsten Tausend Soldaten konnten wir nicht zusammenbekommen“. Deshalb gibt man sich die allergrößte Mühe, die Lage ist überall gleich, nicht nur in Pskow, auch in anderen Einheiten, die in anderen Orten stationiert sind. Gerade diese Angst, bei der Aufgabenerfüllung zu scheitern, die Bereitschaft, die Aufgabe um jeden Preis zu erfüllen, führten dazu, dass in den Kreis derer, die in die Ukraine geschickt werden, außer den Zeitsoldaten auch die Wehrdienstpflichtigen geraten sind, denen diese Verträge angeboten werden.
Das Einzige, was sich seit August verändert hat, ist die Tatsache, dass im August die Leute völlig getäuscht wurden, das heißt, sie wurden aus Pskow nach Rostow angeblich für Übungen verlegt, dort blieben sie 3 Tage im Lager, dann wurden sie am 18. August über die Grenze geschickt, alle mobile Kommunikationsmittel wurden ihnen abgenommen. Erst nachdem sie die Grenze überquert haben, haben sie erfahren, dass sie sich auf dem ukrainischen Gebiet befinden.
Sokolow: – Waren das die Truppen, die Ilowajsk angegriffen haben?
Schlossberg: – Ich denke ja, unter anderem. Dabei führte der Schock über das Verschwinden von Hunderten, auf die ganze Armee gerechnet vielleicht von Tausenden Menschen aus dem Blickwinkel ihrer Freunde und Familien zur Explosion der Entrüstung, Angst, Suche nach diesen Menschen mit allen möglichen Mitteln. Ich weiß, dass die Familien sich an die militärische Staatsanwaltschaft gewandt haben, sie baten um ein Treffen mit den Kommandeuren der Einheiten, die Kommandeure lehnten ein Treffen ab, damit überzeugten sie die Leute endgültig davon, dass da etwas Böses passiert.
Eine Frau aus Pskow erzählte mir, dass sie es geschafft hat, einen Oberoffizier eines Regiments unserer Division am Ärmel festzuhalten, sie sagte ihm: „Hören Sie, wir rufen alle Nummern an, da geht keiner ran. Irgendjemand muss doch uns sagen können, wo unsere Jungs sind.“ Sie bekam von ihm keine Antwort. Als sie später noch mal anriefen, sagt man ihnen: „Ach, die treiben sich hier auf dem Gelände rum, haben kein Guthaben mehr auf dem Handy, haben es nicht aufgeladen. Sie können sie nicht erreichen, weil es keine Verbindung gibt.“ Die Angehörigen luden das Handyguthaben auf, in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen, aber es kam nichts. Jetzt ist es anders, jetzt wissen alle, dass sie in den Krieg ziehen. Und wie meine Bekannten mir erzählt haben, einige Zeitsoldaten, als ihnen Verträge in Rostow angeboten wurden, sagten darauf: „Da gehen wir nicht hin“. Dann wurden sie entlassen, einfach sofort rausgeschmissen, man gab ihnen die Geheimhaltungserklärung und schickte sie fort. Die Leute fahren zurück nach Pskow schon als Zivilisten.
Sokolow: – Dabei verlieren sie die Hypothek und alles andere?
Schlossberg: – Ich glaube, das ist bei jedem anders. Es gibt Fälle, wo das Verteidigungsministerium aufhört, die Hypothek zu bezahlen, weil es nur Armeeangehörigen im aktiven Dienst zahlt. Dann steht der Mensch vor dem Nichts. Für die Alleinstehenden ist es einfacher. Wie Sie verstehen, ist es für Familienväter komplizierter.
Sokolow: – Und andererseits der Preis des Ganzen. Es erschien eine Meldung in „Financial Times“, dass der ukrainische Präsident Petro Poroschenko Wladimir Putin damit gedroht hat, die Daten über Verluste in Donbass zu enthüllen, dass seine Regierung diese Daten im Internet veröffentlichen wird, unter anderem die Erkennungsmarken, die den Toten oder Gefangenen abgenommen wurden. Das soll den Abschluss des Minsker Abkommens beeinflusst haben. Kann das überhaupt sein – diese Marken als Beweise?
Schlossberg: – Wissen Sie, eine Erkennungsmarke kommt aus Massenfertigung, so eine Marke kann man an sich selber herstellen. Eine andere Sache ist, dass diese Marke eine einzigartige Kennziffer trägt, und nach dieser Kennziffer kann man die Person identifizieren, dann kann die Armee diese Person lebend präsentieren und es gibt keine Fragen mehr. Im August-September- da sagte man: „Sie behaupten, dass alle über die Gefallenen lügen. Dann zeigen Sie uns bitte die Lebenden“. Die Armee konnte leider keinen Lebenden vorzeigen.
Sokolow: – Poroschenko hat versprochen, dass seine Beamten in Kontakt mit Müttern und Frauen der russischen Soldaten treten und sie über das Schicksal ihrer Angehörigen informieren werden.
Schlossberg: – Wissen Sie, das ist nicht Poroschenkos Aufgabe, die Familien der russischen Soldaten zu suchen, meiner Meinung nach sollte sich der russische Staat damit beschäftigen, die Familien der russischen Soldaten zu suchen , um ihnen zu erklären, was passiert ist und wie die Einstellung des Staates zu dieser Frage ist.
Ich glaube, diese Drohungen sind eine sehr zweideutige Position, für die eine Seite wie für die andere. Keine von beiden Seiten hat diesen Krieg de jure anerkannt. Das heißt, dass beide Seiten, Putin und Poroschenko, entschlossen sind, ihr Ziel durch verschiedene Mittel zu erreichen. Kein Krieg de jure bei einem Krieg de facto ist eine schreckliche Situation, am schlimmsten für die Gefangenen. Das ist eine schwierige Situation, denn sie sind gesetzlich gesehen überhaupt nicht geschützt.
Sokolow: – Schauen Sie, ich glaube, dass es außer der Entsendung der Zeitsoldaten und Sonstiges noch ein System der Rekrutierung gibt, wenn aus der unendlichen russischen Armee der Sicherheitsleute, die ein sinnloses Dasein führen, die sogenannten „DVR“ und „LVR“ Einheiten gebildet werden.
Schlossberg: – Das ist alles ein Ablenkungsmanöver.
Sokolow: – Glauben Sie, dass es keine übliche Praxis ist?
Schlossberg: – Das glaube ich. Es gibt nicht viele davon, aber man versucht sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Als wir die Information über Pskow, über die Gefallenen veröffentlicht haben, erschien sofort so ein Freiwilliger, der aus der Ukraine zurückgekehrt ist, er wurde interviewt, praktisch alle Online-Medien haben dieses Interview veröffentlicht. Das war ein Mann, der bereit war zu töten, er bereute, dass er zu wenige getötet hat, man müsste mehr. Er kam zurück nach der getanen Arbeit, die er für eines Mannes würdig hielt. Deshalb gab es solche verdeckte Operationen, und es wird sie geben. Aber wie Sie verstehen, kann man bei einer Militärhandelorganisation nicht so viele Waffen kaufen, dass man damit einen Rucksack für längere Reisen füllen kann… Und alleine aus Freiwilligen kann man keine Armee der „Aufständischen“ aufstellen – das ist eine ganz andere Situation.
Sokolow: – Sie haben sich an die militärische Oberstaatsanwaltschaft gewandt. Wie ich verstehe, bestand die ganze Antwort aus dem Hinweis, dass alles höchst geheim ist, und es führte zu nichts?
Schlossberg: – Nicht ganz. Ich glaube, dass das die vollständigste Antwort auf alle Anfragen war, die im Laufe dieses Konflikts an diverse Behörden geschickt wurden. Erstens hat die militärische Oberstaatsanwaltschaft bestätigt, dass diese Leute gefallen sind, alle 12, von denen die Rede war.
Sokolow: – Bei den Übungen?
Schlossberg: – Nein, sie bestätigten: „außerhalb der Stationierungsorten“. Also ist diese Antwort ethisch sehr korrekt. Den Menschen, die das geschrieben haben, fehlt weder der Verstand noch das Herz. Sie haben bestätigt, dass alle Hinterbliebenen die Sozialleistungen bekommen, unter anderem kontrolliert die militärische Oberstaatsanwaltschaft die lokalen Staatsanwaltschaften bei der Umsetzung dieser sozialen Verpflichtungen.
Dann kam der Satz, dass die Befehle über die Entsendung dieser Soldaten außerhalb ihrer Stationierungsorte überprüft wurden, hier beginnt aber das Staatsgeheimnis, also kann man es nicht öffentlich machen. Aber in den Handlungen der Personen, die diese Befehle unterzeichnet haben, fand man keinen Hinweis auf Verbrechen oder Verstoß gegen das Gesetz. Das war die Antwort.
Also, meiner Meinung nach, hat diese Antwort leider den Tod der 12 Soldaten bestätigt, sie hat bestätigt, dass sie nicht in Pskow, sondern außerhalb ihres Stationierungsortes gestorben sind, dass der Staat den Hinterbliebenen gegenüber die sozialen Verpflichtungen trägt. Ich halte diese Antwort für sehr informativ. Ich kann Ihnen mehr verraten: mir ist bekannt, dass einige ganz bestimmte Personen Denunziationen nicht nur gegen mich, als einen Menschen, der eine Anfrage an die militärische Oberstaatsanwaltschaft geschickt hat, geschrieben haben, sonder auch gegen die militärische Oberstaatsanwaltschaft, die es gewagt hat, solche Anfragen überhaupt zu beantworten. Also ist die Vorstellung von diesen Denunzianten, die unbekannt bleiben wollten (wie Denunzianten es nun mal halten), dass die militärische Oberstaatsanwaltschaft überhaupt keine Anfragen, keine Briefe über gefallene Soldaten beantworten soll. Also hat diese Antwort, und vielleicht einige anderen, die die Tatsache der Verluste indirekt bestätigen, eine bestimmte Reaktion bei dem Kriegsvolk hervorgerufen.
Sokolow: – Außerdem lenkt der Erlass von Wladimir Putin über Entschädigungen an die Familien der Gefallenen und – Achtung – derjenigen, die als bei den Übungen vermisst gelten, die Aufmerksamkeit auf sich.
Schlossberg: – Das war kein Erlass, das waren Änderungen des Gesetzes. Sie wurden vor einem Jahr geschrieben, initiiert von einem Mitglied des Föderationsrates. Ich habe dieses Gesetz studiert.
Sokolow: – Und ging es da um die „Vermissten“?
Schlossberg: – Das war eine andere Situation. Die Sache ist, wenn die Reservisten an den Militärübungen teilnehmen, sind sie nicht lange dabei. Wenn die Übungen 40 Tage dauern, so sind sie 40 Tage im Einsatz. Aber dort kann es auch zu Unfällen kommen. Und die Entschädigungen an die Reservisten, die z. B. bei den Übungen verletzt, oder, Gott bewahre, getötet wurden, waren vom Gesetz nicht vorgesehen.
Sokolow: – Also ging es doch nicht um „Vermisste“?
Schlossberg: – Wissen Sie, Reservistenübungen in der russischen Armee sind so eine Sache, dass es da auch Vermisste geben kann. Außerdem wurde dieses Gesetz im Herbst 2013 vorbereitet und geschrieben, das war ja noch vor den Geschehnissen auf dem Maidan.
Sokolow: – Und wie wird das Gesetz umgesetzt?
Schlossberg: – Wissen Sie, bei uns werden die Gesetzentwürfe manchmal jahrelang im Parlament bearbeitet. Dem Text nach, den ich im Gesetzentwurf gesehen habe, wurde es nicht direkt von der Ukraine motiviert. Außerdem wäre es sehr schwierig, das zu Reservistenübungen zu erklären – das ist eine sehr komplexe rechtliche Struktur.
Meiner Meinung nach schlug es wie eine Bombe in die Gesellschaft ein, alle dachten darüber nach und versuchten zu verstehen, wie und mit welchen Feigenblättern der Staat sich bedecken wird. Ich glaube, da gibt es geheime Dokumente, der Staat finanziert den Krieg nach geheimen Beschlüssen, genauso werden die Entschädigungen an die Familien der Gefallenen finanziert.
Sokolow: – Lew Markowitsch, haben Sie denn jetzt eine Vorstellung davon, wie groß die Verluste der russischen Soldaten waren? Wir wissen von 5.000 Menschen, die nach niedrigsten Schätzungen in Donbass im Laufe des russisch-ukrainischen Krieges gestorben sind. Was glauben Sie, wie viele russische Militärangehörige das waren?
Schlossberg: – Wissen Sie, zum jetzigen Zeitpunkt kann man, glaube ich, keine Zahlen nennen.
Sokolow: – In welcher Größenordnung – Hunderte, Tausende?
Schlossberg: – Meiner Meinung nach liegen die Verluste der Pskower Militäreinheiten im dreistelligen Bereich. Nach allen indirekten Hinweisen, die wir bekommen haben, kann ich sagen, dass es um die Hundert sind, ich schließe nicht aus, dass es mehr sind, denn das sind operative Militäreinheiten, und von den Verletzten etwa doppelt so viele. Wenn wir die gesamten Verluste der russischen Streitkräfte auf der nationalen Ebene betrachten, so denke ich, ist die Zahl schon vierstellig. Etwas genaueres kann man unmöglich sagen, denn die Verschleierung von Verlusten beinhaltet auch die unbedingte Verschleierung jeglicher Informationen über die Todesfälle als solche.
Wir haben doch diese schreckliche Situation gesehen, als, nachdem die erste Beerdigung Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, zuerst die Namenstafeln von den Gräbern und die Bänder von den Blumenkränzen abgenommen wurden, auf denen die Hinweise auf die Truppengattung und konkrete Einheiten standen. Dann, als der Schock der Gesellschaft noch größer war als vor diesen Verlusten, wurden paar Tage später auf den Gräbern Grabsteine aufgestellt, mit den Porträts, mit Geburts- und Todesdatum – das war eine Gegenreaktion, aber da wurde auch nicht davon gesprochen, wer den Grabstein aufgestellt und wer ihn in Auftrag gegeben hat. Das waren nicht die Steine von den Familien, sie kamen von der Division. So plötzlich schlagen die Stimmungen um. Jetzt z. B. kenne ich keine Menschen in Pskow, die täglich und bewusst nach den Verlusten der Division forschen würden. Keiner hat sich dieses Ziel gesetzt, jedenfalls keiner den ich kenne. Aber die Leute haben es im August gesehen, wir waren ja nicht alleine auf dem Friedhof, als es passiert ist. Viele, die ich kenne, sind dorthin gefahren, haben fotografiert und gefilmt, haben die Bestätigung dessen, was passiert ist, veröffentlicht.
Sokolow: – Aber es hat nicht im August aufgehört, der Krieg in der Ukraine geht weiter.
Schlossberg: – Der Krieg geht leider weiter. Die Schlussfolgerung, die die politische und militärische Führung aus den Verlusten gezogen hat, äußerte sich nur in der Überzeugung, dass man besser, intensiver und noch geheimer den Krieg führen muss.
Sokolow: – Ich möchte Sie als Abgeordneten über die Haltung der Partei fragen: glauben Sie, dass die Gegner des Krieges mit Ukraine Defätisten sein müssen? Muss der Krim-Donbass-Krieg gegen die Ukraine mit der Niederlage des jetzigen Regime enden?
Schlossberg: – Erstens, die Gegner dieses Kriegs sind die Verteidiger der Menschen. Wir wollen nicht die Niederlage der Streitkräfte oder die Niederlage des Staates, wir wollen Menschenleben retten. Wir halten diesen Krieg für die ungeheuerlichste Äußerung der Staatspolitik. Unser Ziel ist diesen Krieg zu stoppen. Das ist die Priorität.
Und der beste Weg, um den Krieg zu beenden, ist aufzuhören, die Truppen abzusenden. Wer gewinnt und wer verliert – das ist eine andere Frage. Ich denke, Historiker, Politiker oder Militärs von zwei oder drei Ländern können in dieser Situation diametral entgegengesetzte Meinungen dazu äußern, und von mir aus können sie tausend Jahre länger darüber diskutieren, Hauptsache diejenigen, die noch leben, bleiben auch am Leben. Deshalb ist das keine Frage der Niederlage der Armee oder der Niederlage des Staates – das ist eine Frage der Lebensrettung.
Was das russische Regime angeht, so glaube ich, dass das Regime von Wladimir Putin ein politischer Bankrott ist, und alle, die etwas von der russischen Politik verstehen, wussten es schon gestern, und vorgestern, und vor über einem Jahr. Das Regime befindet sich in einem Zustand der Erschöpfung all seiner Ressourcen, wenn dieses Regime auch mal ein Kreativitätspotenzial hatte, so fand es sein natürliches Ende in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts.
Alles, was seit 2011 passiert, oder ehrlich gesagt, nicht seit 2011, sondern seit die Entscheidung über die Reinkarnation getroffen wurde, Entscheidung, zwei Politiker in zwei Sesseln die Plätze tauschen zu lassen – das ist die Verrottung und der Zerfall dieses Regimes. Alle weiteren Konsequenzen sind nur Folgen davon.
Wenn Entscheidungen von einem Menschen praktisch ohne jegliche intellektuelle Unterstützung getroffen werden – das ist auch eine Situation der Selbstisolation. Denn wo sind Menschen, die jetzt sagen könnten: „Wladimir Wladimirowitsch, hier sind Sie im Unrecht, hier würde es Sinn machen anders zu handeln, das ist ein Fehler, das sollte man nicht tun“.
In Putins Umgebung sind diese Menschen physisch nicht vorhanden, sie wurden alle eliminiert. Also ist er jetzt von einer sehr eigenartigen politischen Szene umgeben, von Menschen, die völlig frei von moralischen Prinzipien und zu allem bereit sind, bis zu einem Atomangriff.
Auf diesem Schachbrett stehen jetzt alle Figuren. Wenn es so weit kommt, dass sie sich zum vollkommenen Wahnsinn bewegen müssen, werden sie es tun, weil sie eben so sind. Und es gibt kein Gegengewicht zu diesen Menschen, keine Alternative. Das hätte übrigens das Parlament sein können.
Sokolow: – Damit haben sie es angefangen – mit dem Parlament.
Schlossberg: – Sie haben mit zwei Dingen angefangen: mit dem Parlament und der Redefreiheit, das ist vollkommen logisch. Deshalb, wenn es schon zum Krieg gekommen ist – das ist das Bankrott des Regimes. Denn in einem Land, das enormen wirtschaftlichen Problemen gegenübersteht, das kein eigenes effektives Bankensystem und Finanzsystem aufgebaut hat, das ein enorm hohes Korruptionsniveau hat- in so einem Land die Entscheidung zu treffen, einen Krieg zu beginnen – das ist eine selbstmörderische Entscheidung.
Sokolow: – Für Putin war das die rettende Entscheidung. Er hat der Opposition jede Möglichkeit genommen, die Massen gegen ihn aufzubringen.
Schlossberg: – Meiner Meinung nach ist es nicht so. Erstens hat Putin eine taktische Entscheidung getroffen, die einen strategischen Fehler darstellt. Heute ist es möglich und höchstwahrscheinlich, dass eine Konsolidierung, Kristallisierung der Gesellschaft stattfinden wird- man kann es nennen wie man will, ich nenne es die Vereinigung der enttäuschten Menschen, die mit dieser Politik nicht einverstanden sind, rund um die Opposition. Das kann die nationalistische, demokratische, liberale Opposition sein.
Das kann auch die kommunistische Opposition sein, denn ich kenne einige Menschen aus der Kommunistischen Partei, unter anderem aus Pskower Region, die mit Entsetzen beobachten, wie Sjuganow dem russisch-ukrainischen Krieg applaudiert. Sie belegen ihn mit solchen Ausdrücken, die ich im Fernsehen nicht aussprechen darf. Sie sind absolut von ihrer Partei enttäuscht, weil sie ehrlich glaubten, dass eine oppositionelle politische Partei in Russland einen Bruderkrieg nicht unterstützen darf, nicht dass sie es nicht soll – sie darf es nicht. Und das ist die rückläufige Bewegung des Pendels, die in einer sehr schwierigen, schmerzhaten Situation beginnt, sie zeigt den strategischen Preis der Entscheidung Putins.
Sokolow: – Ich kann leider die rückläufige Bewegung des Pendels nicht erkennen. 79% der vom Lewada-Zentrum Befragten sagen mehr oder weniger, dass die Sanktionen eine Auswirkung auf ihr Leben haben, größere oder kleinere. Und trotzdem empfehlen 69% der Regierung, auf diesem Kurs zu bleiben. Diese Zahlen überschneiden sich, also sieht es so aus, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung dafür ist, den Kurs in Richtung Krieg, oder wie sie es nennen, Hilfe der „Russischen Welt“ in Donbass, beizubehalten.
Schlossberg: – Das stimmt nicht ganz. Erstens kann es eine zuverlässige Soziologie nur in einer freien Gesellschaft geben, dort, wo die Menschen keine Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Diese Umfragen werden normalerweise an der Haustür durchgeführt, dabei wird die Adresse der Person erfasst. Für diejenigen, die die Arbeitsqualität des Interviewers kontrollieren werden, wird auch die Festnetz- oder Handynummer abgefragt. Die Menschen verstehen, dass sie erfasst sind. Mehr als die Hälfte der Menschen neigt dazu, eine sogenannte sozial erwünschte Antwort zu geben. Wenn man zu dem Menschen nach Hause kommt und fragt: bist du für Putin oder gegen Putin – die Antwort ist klar. Sehr wenige Leute, so wie ich, würden sagen: war nie für Putin, bin es nicht und werde es nicht sein.
Sokolow: – Weil man Sie längst im Visier hat.
Schlossberg: – Ja, weil man mich längst im Visier hat. Wie Sie verstehen, würden die meisten Menschen einen so harten Weg der offenen Konfrontation mit den Machthabern nicht gehen.
Das ist übrigens eine typische Situation für jedes Land: das politisch aktive Publikum und das, sagen wir, sozial sensible Publikum sind nicht das Gleiche. Deshalb würde ich diese Zahlen nicht für eine verlässliche Messung der gesellschaftlichen Temperatur halten. Heute gibt es mehr Wahrheit in den eigenen vier Wänden als in den Meinungsumfgragen. Dabei muss ich sagen, dass wenn die Fragen zum Krieg gestellt werden- das Lewada-Zentrum ist übrigens eine der wenigen, wenn nicht die einzige von den professionellen soziologischen Agenturen in Russland- wenn die Frage direkt gestellt wird: „Unterstützen Sie den Krieg, sollte Russland daran teilnehmen, sollte Russland Truppen schicken?“- dann sagt die Mehrheit der Menschen mehr oder weniger direkt: „Nein, wir unterstützen den Krieg nicht“.
Ich bin mir übrigens sicher, dass einer der Gründe für Lügen über den Krieg darin liegt, dass Putin und dieser besondere Kreis um ihn verstehen: wenn sie den Krieg mit der Ukraine offen zugeben würden, würde die Gesellschaft ihn nicht befürworten. Sie lügen unter anderem, weil sie Angst haben, der Gesellschaft die Wahrheit zu sagen. Sie haben sich verfangen, sie haben sich so verfangen, dass sie nicht mehr wissen, welche Lüge ihnen helfen könnte.
Sie haben keine Lügen mehr, die sie retten könnten.
Sokolow: – Die Geschichte von Swetlana Dawydowa zeigt genau das.
Schlossberg: – Sie zeigt vor allem das ganze Ausmaß der Unfähigkeit der Menschen bei der Entscheidungsfindung. So haben sie ein Jahr lang gewartet, um die Frau eines Anrufs an die offizielle ukrainische Botschaft zu beschuldigen.
Sokolow: – Wenn sie jetzt die Frau weiterhin beschuldigen, sie hätte ein Staatsgeheimnis verraten, werden sie gezwungen sein zuzugeben, dass ihre Kampagne gescheitert ist. Das ist natürlich amüsant.
Also, zu den Handlungen. Sagen wir, Ihre Partei machte einen öffentlichen Auftritt zum Thema Anti-Krisen-Marsch, den die anderen Parteien am 1. März durchführen wollen. Sie haben eine Reihe Forderungen an Putin, an die Regierung und unter anderem an den Herrn Poroschenko gestellt, ihn dazu aufgerufen, seine Truppen aus der Konfliktzone zurückzuziehen. Ich verstehe die Forderungen an Putin, aber wozu sollte man etwas von dem ukrainischen Präsidenten fordern? Er hat sein eigenes Land, seine eigenen Wähler, und letzendlich verteidigt er die territoriale Einheit seines eigenen Landes, egal ob das gut oder schlecht ist, denn das ist die Forderung der Mehrheit, die ihn gewählt hat. Ich glaube, da gibt es entweder eine Art Missverständnis, oder Sie leiden an Hyperpazifismus.
Schlossberg: – Ich sage meine persönliche Meinung, denn jeder Parteimitglied, jeder Bürger hat das Recht, seine Meinung zu äußern. Zuerst was den Marsch angeht. Der Hauptvorschlag – das war keine Forderung, sondern ein Vorschlag – von „Jabloko“ war, dass das ein Antikriegsmarsch und kein Antikrisenmarsch sein sollte. Ehrlich gesagt, als ich sah, dass der Marsch „Antikrisen-“ heißt, war ich verwundert. Denn wenn wir das wörtlich nehmen, gehen wir auf die Straße, und damit endet die Krise. Sie wird aber nicht enden. Damit die Krise endet, muss man einige Personen hinter den Mauern von Kreml austauschen. Deshalb hat die Bezeichnung „Antikrisen-“ nicht nur bei mir, sondern bei vielen Menschen Fragen aufgeworfen. Der Vorschlag, den Marsch unter dem Hauptslogan „Antikriegs-“ stattfinden zu lassen, wurde von vielen verschiedenen Personen ausgesprochen, nicht nur von „Jabloko“, die Gesellschaft steht insgesamt dahinter.
Aber wenn wir die Beziehungen zwischen verschiedenen Politikern im oppositionellen Umfeld betrachten, so könnte meine Meinung liberaler sein, als die meiner Kollegen. Es gibt Initiatoren des Marsches, sie wollen ihn hier oder dort, zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Slogans durchführen, sollen sie doch. Keiner würde unsere Partei, oder eine andere demokratische Partei davon abhalten, zu diesem Marsch unter den Slogans kommen, die wir für nötig erachten. Ich denke, dass die Menschen, die ähnliche gemeinsame Einstellung zur Bewertung der gegenwärtigen russischen Regierung und ein gemeinsames Verständnis der weiteren Entwicklung des Landes besitzen, zusammenhalten müssen. Das ist wichtig, denn es geht nicht um die Einigkeit der Kritik, die Frage ist, ob wir gemeinsame Ansätze zur Entwicklung des Landes nach Putin-Ära haben, und hier, wie Sie verstehen, werden die Unterschiede manchmal sehr deutlich.
Sokolow: – Wenn freie Wahlen stattfinden, kann man darüber reden.
Schlossberg: – Wenn die Wahlen stattfinden, kann man darüber reden. Denn hier, glaube ich, kann jeder zu diesem Marsch mit seinen eigenen Slogans gehen. Was die Ansprache der beiden Konfliktparteien angeht, der russischen und der ukrainischen, so denke ich, dass in diesen Text, vermute ich, ein Teil des Textes reigeschlichen ist, der aus dem Vorschlag stammt, eine internationale Konferenz zur Ukraine als eine Möglichkeit zur Lösung dieses Konflikts durchzuführen.
Sokolow: – Verstehen Sie, das ist eine selsame Forderung, den Abzug der Truppen aus der Kampfzone zu befehlen, ich meine die an den ukrainischen Präsidenten, und auch die Forderung an den russischen Präsidenten, die Soldaten und die Freiwilligen zurückzuziehen, und an die angeblichen Separatisten, das Feuer einzustellen. Denn in letzter Zeit sind sie auf dem Vormarsch.
Schlossberg: – Man hat ihnen beträchtliche Verstärkung geschickt. Meiner Meinung nach wissen alle Beteiligten, dass die Situation nicht mit Kriegsmitteln gelöst werden kann, obwohl man jetzt versucht, sie mithilfe des Kriegs zu lösen. Der Sinn des Aufrufs besteht in dem Versuch, die nichtmilitärischen Mittel zur Lösung des Konflikts heranzuziehen. Meiner Meinung nach muss eine politische Partei, die in Russland agiert, sich an die russische Gesellschaft und die russische Regierung wenden – das ist die erste Priorität. Die Regierung eines anderen Staates anzusprechen, mit dem Vorschlag, dies oder jenes zu tun, ist meiner Meinung nach unnötig. Heute sollten die Bemühungen jeder politischen Partei, die Putin und seiner Partei widersteht, gebündelt sein. Denn die ganze Staatsduma ist heute Putins Partei, die Wähler müssen sich darüber im klaren sein, dass die Kommunistische Partei heute Putins Partei ist, die Liberal-Demokratische Partei und „Gerechtes Russland“ waren gestern und heute sind beide Putins Parteien.
Sokolow: – Da gibt es aber auch ein paar anständige Abgeordnete.
Schlossberg: – Ein paar Abgeordnete sind leider keine Partei. Mit einem davon hatten wir eine Diskussion, ich in der direkten Übertragung im Internet, Sie saßen hier mit Dmitri Gudkow. Gott segne ihn, aber er ist ein einzelner Politiker, ein allein stehender Baum, die Partei nimmt eine andere Position ein. Deshalb sind heute alle vier politischen Parteien in Duma eine putinsche Partei, das muss man sich klarmachen. Alle, die den anderen Teil der Gesellschaft repräsentieren wollen, den, der heute durch keine der Parteien in Duma repräsentiert ist, sollen auf jeden Fall ihre Anstrengungen auf die russische Gesellschaft, auf den Ausdruck ihrer Einstellung zur russischen Regierung, auf russische Politik, auf russische Tagesordnung konzentrieren.
Hier bin ich sehr heimatbezogen in meinen Einstellungen, genauso, wenn wir mit den Einwohnern und kommunalen Abgeordneten der Pskower Region reden, besprechen wir die Tagesordnung von Pskower Region. Die Menschen, mit denen Sie reden, müssen verstehen, dass Sie ihre Probleme besprechen, verstehen und lösen können. Es ist weder unser Problem noch unser Ziel, die Ukraine zu sanieren, unser Problem und unser Ziel ist die Sanierung von Russland, das schon an einem seidenen Faden hängt. Das verstehen immer mehr Menschen.
Sokolow: – Was würde passieren, wenn der seidene Faden reißt?
Schlossberg: – Meiner Meinung nach ist die heutige wirtschaftliche Situation in Russland so, dass die Chancen für ihren Verwaltungszerfall nach dem russisch-ukrainischen Konflikt deutlich gestiegen sind. Die Menschen sind nun bereit, sich selbst zu retten, sagen wir, die Menschen in verschiedenen Regionen Russland sind bereit sich zu retten, unabhängig von der Föderation. Das heißt, dass für die Menschen heute ihre Gegend, ihre Region die erste Priorität sind, wenn es um Rettung geht. Wenn es ihnen aufgeht, dass der Staat als Ganzes, die Russische Föderation nicht vorhat, sie alle zu retten, werden sie die Auswege in einem glücklicherem Leben in Trennung suchen.
Ich werde nie die Situation vergessen – das war in der ersten Hälfte der 90-er, ich fuhr zu einer Konferenz nach Tartu, die Grenze überquerten wir wie immer sehr lange, erst die russische, dann die estnische, und es war ein gewaltiger Unterschied zwischen den estnischen und den russischen Grenzsoldaten. Wie unsere Jungs dort standen, in der Kälte in der Kleidung froren, die ihnen nicht passte, anscheinend unter schlechten Bedingungen schliefen, in kalten Kasernen, anscheinend krank waren, mit fahlen Gesichtern- man konnte nur Mitleid mit ihnen haben. Und 50 m von ihnen entfernt standen die estnischen Soldaten, bei weitem nicht NATO, aber sie sahen ganz anders aus. In entscheidenden Momenten erwacht bei einem Menschen Liebe, Mitleid und Mitgefühl zu seinem Nächsten. Und die Esten sagten uns: „Sehen Sie, unsere Soldaten wurden nicht nach Tschetschenien geschickt, sie sind alle am Leben. Wenn wir noch ein Teil der Sowjetunion gewesen wären, hätten wir auch hier Gräber mit den Gefallenen aus dem Tschetschenienkrieg“. Das verstehen die Menschen sehr klar und deutlich.
Wenn die derzeitige Regierung- die ja eigentlich am Ende ist, im jeglichen Sinn dieses Wortes- aber wenn sie nicht begreift, dass in den entscheidenden Momenten in einem Menschen nicht das Politische, sondern das Menschliche die Oberhand gewinnt, so stellt sich die Frage, innerhalb welcher Grenzen dieser Staat fortbestehen bleibt.
Sokolow: – Es ist mir aufgefallen, dass die Einwohner einer Region sich nicht besonders für die Nachrichten aus den anderen Regionen interessieren – das ist ein wichtiger Indikator.
Schlossberg: – Ja, das auch.
Sokolow: – Nun möchte ich eine Frage zur Koalition stellen. „Jabloko“ hat eine gewisse Koalition „Politische Alternative“ vorgeschlagen. Von ähnlichen Koalitionen spricht auch die Republikanische Partei Russlands, und einige anderen. Was steht der Bildung einer solchen Koalition denn im Wege?
Schlossberg: – Die Antwort ist: die russische Gesetzgebung verbietet Koalitionen kategorisch. Um ehrlich zu sein, über die Aufrufe zu Koalition bin ich verwundert, denn das heutige Wahlgesetz ist in dieser Hinsicht sehr einfach, deutlich, grausam und kompromisslos. Heute kann eine Partei für jegliche Wahl entweder einen Mitglied aus ihren Reihen oder einen Parteilosen vorschlagen. Man muss verstehen: alle, die von der Koalition sprechen, in einfache politische Sprache übersetzt, schlagen vor, aus der Partei auszutreten, in der man Mitglied ist, der Partei beizutreten, die die Grundlage der Koalition bilden soll, ein Mitglied dieser Partei zu werden und so die Wahlen anzutreten.
Sokolow: – Danach wird Ihrer Partei die Möglichkeit genommen, die Wahlen ohne Unterschriftensammlung anzutreten. Jetzt wird dieses Recht der Republikanischen Partei genommen, es gibt schon ein Gesetzentwurf, um den „Notendurchschnitt“ für die Aufnahme ins Parlament zu erhöhen.
Schlossberg: – „Notendurchschnitt“ oder Prozentsatz der Partei, mit dem sie uneingeschränkt kandidieren kann?
Sokolow: – Zum einen, wenn sie über 1 Abgeordneten im Parlament verfügt, kann sie jemanden für Staatsduma vorschlagen.
Schlossberg: – Aber nur, wenn sie über 3% der Stimmen bei den gesamtrussischen Wahlen bekommen hat.
Sokolow: – Dann werden sie es so hindrehen, dass man nicht einen Abgeordneten wie jetzt braucht, sondern 10, da gibt es schon ein Gesetzentwurf, und wenn alle der Partei „Jabloko“ beitreten, wird man sagen, dass 3% zu wenig sind, man bräuchte 4%. Im Grunde genommen werden die Spielregeln ständig geändert. Und was soll man dann tun, wie soll man in diesem Land friedlich um die Macht kämpfen?
Schlossberg: – Michail, in dem Moment, als die Möglichkeit endet, friedlich um die Macht zu kämpfen, endet auch Russland. Das bedeutet, dass ein weiteres revolutionäres Ereignis, das mit der gewaltsamen Machtübernahme einhergeht, höchstwahrscheinlich zu der administrativ-politischen Neuordnung des Staates führen wird.
Sokolow: – Bis jetzt findet eine gewaltsame Aufrechterhaltung Russlands statt.
Schlossberg: – Es findet eine gewaltsame Aufrechterhaltung der Macht statt, in der Erwartung, dass keine alternative politische Kraft imstande sein wird, auf legitime Weise landesweit an die Macht zu kommen, legislative oder repräsentative Macht, also eigenen Bereich, eigene Sitze in der Staatsduma zu bekommen. Die Rede ist nicht mal von der Exekutive, die ja die wirkliche Macht ist, die das Eigentum, Geld und alle wichtigsten Entscheidungen kontrolliert, die mit dem Besitz zu tun haben. Die Rede ist von der Repräsentation.
Wenn die gegenwärtige Regierung nicht klüger wird… und bis jetzt sehe ich leider keine Anzeichen dafür, weder auf der föderalen noch auf der regionalen Ebene. Bei uns ist in jeder dritten Region der Gouverneur ein „Naschist“ mit sehr speziellen, primitiven politischen Instinkten. Wie kann man von der regionalen Entwicklung sprechen, wenn der Mensch alles durch eine ideologisch gefärbte Brille sieht, und zwar im Sinne der Ideologie eines aggressiven „Naschismus“.
Sokolow: – Und für einen anderen steht z. B. die Wirtschaft in die eigene Tasche an erster Stelle.
Schlossberg: – Das eine schließt in der Regel das andere nicht aus, diese beiden Beschäftigungen harmonieren gut miteinander. Deshalb, wenn jetzt die institutionellen Versuche, die Möglichkeiten der Opposition an die Macht zu kommen zu begrenzen, fortgesetzt werden, wird ein großer Teil des politischen Publikums vor eine sehr schwierige Wahl gestellt: entweder die Politik als solches aufzugeben und auf die Straße zu gehen, oder gar nichts mehr zu tun.
Übrigens denken schon viele Leute über solche Möglichkeiten nach. Dann müsste man aber gleich zugeben: Sehr geehrte Damen und Herren, in unserem Land ist ein Machtwechsel nur mit Hilfe einer Revolution möglich. Dann können alle Interessenten die Lehrbücher zu Revolutionen aufschlagen und nachlesen, wie diese organisiert und durchgeführt werden, welche Folgen sie haben, unter anderem in Bezug auf Leben, Eigentum, Sicherheit und Gesetzgebung, und sich fragen, ob wir uns solche Zukunft für Russland vorstellen.
Das für den Fall, wenn kein Dialog mit der russischen Regierung hilft, sie davon zu überzeugen, dass der weitere Aufbau von Druck, Repressionen, Restriktionen und Daumenschrauben in dieser Situation nur zu einer unkontrollierten Explosion führen wird. Wie ich zu einem Kollegen im Parlament sagte: wenn du glaubst, dass da nur eine Laterne sein wird, an der ich hängen werde, so täuschst du dich – du wirst an der nächsten hängen. Denk darüber nach, bevor du zu solchen Taten schreitest.
Sokolow: – Da gibt’s auch ein Beispiel – DVR, LVR und diese Leute, die mit den Maschinengewehren herumlaufen und alles umverteilen. Oder die Krim, wo die Regierung alles umverteilt, was ihr passt. Denn es passt ihr, den Besitz derer, die zur Ukraine hielten, und auch derer, die anscheinend russlandtreu sind, wegzunehmen.
Schlossberg: – Das ist eine absolut prinzipielle Wegscheide für unser Land. Wenn das politische Regime, die Institutionen der politischen Tätigkeit weiterhin verhärtet werden, bis sie völlig unrealistisch sind, dann erreichen wir eine unberechenbare Situation. Und jede unberechenbare Situation kann Revolution nach sich ziehen.
Sokolow: – Ist Ihnen aufgefallen, dass der Propagandaton sich verändert hat? Es gibt da eine Zeitung „Iswestija“, eine Art Indikator, sie führt alles genau aus, was ihr von den höchsten Institutionen vorgeschrieben wird. Letztens stand es in der Zeitung: „Es ist längst an der Zeit, der Gesellschaft den Kopf zurechtzurücken. Wenn sie es nicht auf die nette Art versteht, dann muss man und wird man es ihr mit Gewalt beibringen. Anders geht es nicht“. Das ist also eine Warnung, dass sie vorhaben, „den Kopf zurechtzurücken“ und nicht irgendeine Opposition irgendwas tun zu lassen.
Schlossberg: – Nun, in der Politik gibt es sehr viele Primitive, und in den Massenmedien gibt es viele Primitive. Deshalb, wenn die aus der Politik denen aus Massenmedien Befehle geben, kommt man zu solchem Ergebnis. Ich denke, das ist ein Spiegelbild einer möglichen und sehr wahrscheinlichen Entwicklungsrichtung Russlands. Diese Entwicklungsrichtung wurde in unserem Land schon einmal eingeschlagen, und zu einem gewissen Grad in einer bestimmten Zeit hat sie sich als erfolgreich erwiesen.
Sokolow: – 70 Jahre – das ist eine lange Zeit.
Schlossberg: – Wissen Sie, in der heutigen Gesellschaft werden sie keine 70 Jahre Zeit haben, nicht mal 7 Jahre, glaube ich. Deshalb scheint es mir: sollte die Entscheidung gefällt werden, dass das Schiff diesen Kurs einschlägt, muss man sich darauf gefasst machen, dass es ganz schnell auf ein Riff läuft.
Sokolow: – Ich habe eine Frage zu Pskow und Pskower Region. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Bewohner Ihrer Region?
Schlossberg: – Pskower Region ist die ärmste unter den 11 Regionen des Nordwesten nach allen wichtigsten sozialwirtschaftlichen Parametern, ob nach Ausgaben pro Kopf, oder pro-Kopf-Einkommen, nach der Höhe der Gehälter im öffentlichen Dienst, der Einnahmen aus Steuern. Wir sind leider überall auf dem 10. oder auf dem 11. Platz unter den nordwestlichen Regionen. Das Leben der Ärmsten ist stärker von allen wirtschaftlichen Problemen beeinträchtigt, als das Leben aller anderen. Deshalb führte die Wirtschaftskrise für die Pskower Region zu katastrophalen Auswirkungen auf den Haushalt. Der Ausgabenteil des Haushalts für 2014 betrug 32 Mrd Rubel – das ist ein sehr kleiner Haushalt. Der Ausgabenteil – das sind nur die Pläne. Der Haushaltsplan für 2015 ist nur 23 Mrd Rubel. Die Kürzung der Haushaltsausgaben um 9 Mrd Rubel in nur einem Jahr – das ist eine wirtschaftliche Katastrophe.
Wir erleben hier einen schrecklichen Prozess, darüber haben wir schon mal gesprochen, die Zusammenlegung von Krankenhäusern zu kreisübergreifenden medizinischen Zentren, wobei einige Kreiskrankenhäuser bald zu bloßen Ambulanzen werden können. Uns erwartet ein Prozess der idiotischen, entschuldigen Sie den Ausdruck, Zusammenlegung von Schulen mit den Kindergärten, der Kindergärten untereinander, sonstigen Bildungseinrichtungen mit Schulen, also ein Prozess der chaotischen Anpassung des Budgets an bestimmte Vorgaben, danach kommen die unausweichlichen Kürzungen. Wir haben jetzt schon Fälle, wo fünf Kindergärten zu einem zusammengelegt werden, unter der Leitung von einem Direktor, dabei fragt man sich, wie diese Person die rechtliche und administrative Verantwortung für die Ereignisse in der Einrichtung tragen soll, in der er höchstens einmal die Woche auftaucht, wenn überhaupt.
Deshalb macht die Pskower Region eine schwere soziale Krise durch, die Leute sind unzufrieden. Dabei war ein Großteil dieser Menschen mindestens einmal im Leben bei den Nachbarn in Lettland oder Estland und sah eine andere Art des postsowjetischen Lebens. Wir haben hier Konsulaten, die Leute besuchen die Nachbarstaaten, sie haben Vergleichsmöglichkeiten. Und dieses Verständnis der eigenen Armut und sozialen Rückständigkeit, das ist ja die reinste soziale Rückständigkeit, im Vergleich zu anderen Lebensbedingungen, kann einen auf verschiedene Gedanken bringen.
Die Frage ist, wem die Leute in dieser Situation die Schuld geben werden – dem „verfluchten Europa“, dem US-Präsidenten Obama, der „nachts davon träumt, dass die Pskower Region verarmt“, oder werden die Leute doch einen Blick in die eigene Ecke werfen, den Gouverneur, die führende politische Partei, den Präsidenten und die Regierung anschauen und sich fragen: bei dieser Machtvertikale, wer ist da für die Pskower Region verantwortlich?
Sokolow: – Nun hat Putin Ihnen die Dieseltriebzüge zurückgegeben- drei Stück werden verkehren.
Schlossberg: – Ja, Putin hat davon erfahren, dass praktisch in ganz Russland der Betrieb von Nahverkehrszügen eingestellt wurde. Im Februar hat er davon erfahren, und die ersten Kürzungen haben schon im Januar begonnen. Jetzt werden wir das Wichtigste sehen: wer und aus welchen Quellen das bezahlen wird. Ich schließe nicht aus, dass in 2-3 Wochen alle vor Erstaunen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sehen werden, wie die Subventionen aus dem föderalen Budget an die Bahn steigen. Also kann Herr Jakunin durchaus glimpflich davonkommen, statt dass er die Ohren langgezogen bekommt, weil diese 15 Nahverkehrsgesellschaften wie die Blutegel an den Haushalten der russischen Regionen hängen und einen 20-mal höheren Ausgleich für die sinkenden Einnahmen fordern – das ist der Unterschied zwischen dem sogenannten Sozialtarif und dem wirtschaftlich begründetem Tarif.
Wie die Regierung diese Situation finanziell lösen will, ob das russische Gesetz geändert wird, nach dem das Nahverkehr sich juristisch in der gemeinsamen Verantwortung der Föderation und Föderationssubjekten befindet, die finanzielle Verantwortung aber nur die Regionen tragen. Das schrieb man vor 8 Jahren bei Jakunin, das Gesetz wurde verabschiedet, Putin hat es unterschrieben. Unterschrieben ohne zu lesen, anscheinend. Das wurde zur Regierungsverordnung, Anordnungen und Anweisungen vom Verkehrsministerium und Finanzministerium, die die Regionen dazu verpflichtet hat- das hat man inzwischen vergessen- bis 2011 zum wirtschaftlich begründetem Tarif im Bereich Nahverkehr zu übergehen. Heute hat man in Pskower Region den Sozialtarif 2,10 Rubel für Beförderung eines Fahrgasts pro Kilometer, und der wirtschaftlich begründete Tarif, den die Bahn über die föderale Tarifbehörde bestimmt, wäre aber 11,75 Rubel.
Sokolow: – Nach undurchsichtigen Kriterien.
Schlossberg: – Nach absolut undurchsichtigen Kriterien. Deshalb muss man erst abwarten, wer auf welche Weise und mit welchem Ergebnis aus dieser Situation rauskommt.
Sokolow: – Ich glaube trotzdem, dass der Gewinner der gütige Zar sein wird, im besten Fall werden die Bojaren schuld sein, Jakunin oder Ihr Gouverneur. Das kam schon öfter in der russischen Geschichte vor.
Schlossberg: – Dann wird das Volk erwarten, dass die Köpfe rollen. Und wenn die Köpfe nicht rollen, dann wird man wieder Fragen dem Zaren stellen. Leider dem Zaren, nicht sich selbst oder der Gesellschaft. Die meisten Fragen muss man sich selbst stellen, damit fängt alles in der Politik an.
Sokolow: – Ich sehe praktisch Wladimir Putin, der in Kreml mit einem Glas in der Hand steht und den Trinkspruch auf die Geduld des russischen Volkes bringt, wie einst Stalin. Glauben Sie nicht, wenn Sie von den Fragen an sich selbst sprechen, dass das Problem gerade darin liegt, dass die russische Gesellschaft sich zurzeit in einer, milde ausgedrückt, unguten geistigen und moralischen Verfassung befindet? Sie ist verbittert, sie ist intolerant, sie überträgt die Schuld von sich auf jemand anderen- Obama oder Poroschenko, also sind die Aussichten in diesem Sinne schlecht.
Schlossberg: – Die Aussichten sind immer gut, die Frage ist nur wann. Wieviel Zeit wird vergehen, wie viele Generationen, bis die Aussichten sehr gut sein werden. Durch unsere Bemühungen können wir versuchen, diesen Zeitraum zu verkürzen. In Wirklichkeit ist die Gesellschaft intellektuell, moralisch und informationsmäßig fast durch die Propaganda zerstört. In letzter Zeit erinnere ich alle daran: meine Herren, Sie alle wussten und wissen von dem Nürnberger Prozess gegen Nazi-Deutschland. Der größere Teil dieses Prozesses bestand in der Untersuchung dessen, wie der deutsche Staat sein Volk täuschte und dieses Volk zu einer Bestie machte.
Sokolow: – Sie werden sagen: ja, „ukrainische Faschisten“, wissen wir.
Schlossberg: – Sicherlich. Um Gottes Willen, schauen Sie alle an. Man darf nicht vergessen, dass die Täuschung der Gesellschaft, des Volkes ein Verbrechen ist, das nicht verjährt und das keine rein russische Dimension hat – das ist eine internationale Angelegenheit, weil es Auswirkungen auf die ganze Welt hat. Das, was jetzt mit dem Volk passiert ist, ist die Folge davon, was man ihm angetan hat.
Es ist leider so überall auf der Welt: wenn die dominierende politische Macht das Andersdenken, die Meinungsfreiheit, politische Institutionen, freie Wahlen und alles, was die Demokratie ausmacht, unterdrückt, nimmt das immer ein böses Ende. Bis jetzt haben wir den Stillstandspunkt dieser Bewegung nicht erreicht. Mit bloßen Händen versuchen wir, dieses Rad, diesen Moloch anzuhalten. Wir tun was wir können.
Quelle: svoboda.mobi; übersetzt von Olena Köpnick; redaktiert von Irina Schlegel
Lesen Sie zum Thema auch jene Untersuchung zum Tod der Pskower Fallschirmjäger in der Ukraine, die Lew Schlossberg im August 2014 in einer Pskower Zeitung veröffentlicht hat: „Lew Schlossberg- Befohlen zu lügen“.
2 Responses to “Lew Schlossberg: Wofür starben die Fallschirmjäger in Donbass?”
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