
Die Tatsache, dass sich auf dem Territorium der Ukraine russische Militärangehörige befinden, ist nicht nur aus den Erklärungen von Beamten und Vertretern der Geheimdienste bekannt, sondern auch dank der Hobbyforscher, die nach Informationen im Internet suchen, und zwar in sozialen Netzwerken, und die in den Blogs der einfachen Soldaten Belege finden, die direkt oder indirekt die Bewegungen ihrer Einheiten preisgeben. Ein solcher Forscher, der ukrainische Blogger Anton Pawluschko, leistete seinen Beitrag zur Untersuchung der Geschichten über die Speznas-Soldaten des GRU aus Togliatti, die im Gebiet Luhansk in Gefangenschaft gerieten.
Anton Pawluschko erzählte Radio Swoboda, wie die Blogger-Gemeinschaft arbeitet, die Körnchen für Körnchen die Zeugnisse der Invasion russischer Streitkräfte in die Ukraine sammelt.
– Das ist bestimmt eine spannende Beschäftigung, aber keine einfache. Nimmt wahrscheinlich viel Zeit in Anspruch. Wie sammeln Sie die Informationen?
– Diese Beschäftigung nimmt tatsächlich viel Zeit in Anspruch. Manchmal muss man stundenlang irgendwelche Profile durchschauen, den einen oder anderen Soldaten nachspionieren, monatelang seine Aktivitäten verfolgen, die Aktivitäten einer Soldatengruppe verfolgen, um zu verstehen, wo sie sich gerade befinden. Aber im Grunde lohnt es sich. Denn die offizielle Haltung der Russen ist ja: „Wir sind da nicht, aber wir siegen“. Die Aufgabe der ukrainischen Blogger ist zu beweisen, dass die Russen hier sind. Unsere Gemeinschaft schaut die Profile der russischen Soldaten durch, analysiert die Videos, die die „Volkswehr“ sowie ukrainische Soldaten veröffentlichen, analysiert Fotos, Beiträge in ihren „VK“- und „Odnoklassiniki“-Profilen, Kommentare zu diesen Beiträgen… Im Prinzip alle Informationen, die auf die eine oder andere Weise online veröffentlicht werden.
Auf einer Freiwilligen-Basis machen wir das, was eigentlich die ukrainischen Behörden machen sollten: beweisen, dass die Russen hier sind. Aber die ukrainischen Behörden machen es irgendwie seltsam, und somit beschlossen wir, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Unsere wichtigste Aufgabe ist die Nummern der Einheiten zu finden, die Technik zu bestimmen, mit der die Russen den Krieg führen, die Soldaten zu ermitteln, die sich in der Ukraine befinden. Sehr oft legen die Soldaten Fotos oder irgendwelche Informationen offen, aus denen sofort klar wird, dass sie reguläre russische Militärangehörige sind und sich in der Ukraine befinden. Das ist alles – mehr brauchen wir nicht. All diese russische Ausreden, dass sie aus der Armee gekündigt wurden, einen Urlaub genommen haben oder was auch immer – das ist einfach gegenstandslos. Wir nehmen einen regulären russischen Soldaten, studieren seine Geschichte bei der Armee, sehen ihn dann im Donbas und sehen ihn dann wieder bei der russischen Armee. Also ist die russische Armee dort.
Nun sprechen alle über die zwei Gefangenen – die russischen GRU-Soldaten. Für Russen ist es eine unerwartete Geschichte: Wie denn das, Speznas-Kämpfer des GRU geraten lebendig in Gefangenschaft und fangen dort an, etwas zu erzählen? Aber für den ukrainischen Teil der Blogosphäre ist es keine Neuigkeit, denn wir beobachten gefangen genommene russische Soldaten bereits seit einem Jahr. Wir haben in diesem Jahr so viele Videos gesammelt, mit den Nummern von mehreren Dutzenden Einheiten von russischen Kriegsgefangenen. Der erste russische Soldat geriet bereits am 15-16. Juli 2014 in Gefangenschaft. Das war der 19-jährige Andrei Balobanow. Man hat am Anfang versucht, ihn zu leugnen, zu behaupten, er wäre aus seiner Garnison geflüchtet – irgendwelche dumme Ausreden. Dann begann seine heimische Presse in Omsk über ihn zu schreiben.
Der Artikel „Retten Sie den gemeinen Soldaten Balobanow“ erschien auf der Website, hing da eine Zeit lang, dann wurde er gelöscht, dann tauchte er wieder auf. Kinderspiele. Was dann mit ihm passierte, ob er nach Russland zurückgekehrt oder in der Ukraine geblieben ist – das ist unklar. Aber Tatsache ist, dass die ersten gefangenen Russen bereits Mitte Sommer 2014 auftauchten. Dann tauchten die nächsten Gefangenen auf: Hochlow und Garafijew – auch eine komische Geschichte. Dann gab es die berühmte Geschichte mit den 10 gefangen genommenen Pskowsker Fallschirmjägern – da hat man auf dem Diplomatenniveau versucht, die Geschichte irgendwie hinzubiegen und sie wurden zurückgegeben.
Aber aus irgendeinem Grund wird die Geschichte der zwei Gefangenen – Ruslan Achmetow und Arsenij Ilmitow – vergessen, die ebenfalls bei Ilowajsk in Gefangenschaft gerieten. Sie sind da nämlich so unglücklich zu den ukrainischen Soldaten in Gefangenschaft geraten, weil da ein ukrainischer Journalist mit dabei war. Er hat mit ihnen ein Video aufgenommen, sie haben im Video ausgesagt. Gleich darauf haben die ukrainischen Internet-User die Profile dieser Soldaten gefunden, da waren natürlich Fotos aus ihrer Garnison. Der klassische Soldatensatz: Hier bin ich mit meinem Panzer, hier bin ich in meinem Stützpunkt, in meiner Garnison usw.
Dann haben sie versucht, zusammen mit der ukrainischen Kolonne aus dem Ilowajsker Kessel herauszukommen, die Kolonne wurde beschossen. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Die „Novaya Gazeta“ veröffentlichte einen Artikel, dass zwei russische Soldaten im Donbas gefangengenommen wurden, ihr weiteres Schicksal sei unbekannt, wahrscheinlich wurden sie getötet. Und dann machte Lifenews eine Reportage mit ihnen: Schaut alle her, die „Novaya Gazeta“ lügt, denn hier sind sie, die Soldaten Achmetow und Ilmitow, immernoch am Leben und sie dienen noch immer in derselben Einheit.
Also kommt heraus, dass zwei russische Zeitsoldaten in der Armee dienten, dann in der Ukraine in Gefangenschaft gerieten, und einige Zeit später wieder in der russischen Einheit ihren Militärdienst fortsetzen. Sehen Sie, hier kommt ja nicht mal das übliche Ausreden-Sortiment, wie im Fall der GRU-Kämpfer – ja, sie dienten bis Dezember, haben dann gekündigt, nun sind sie dort als Freiwillige – das kommt hier gar nicht durch, denn diese Menschen waren bei der Armee, dann in der ukrainischen Gefangenschaft und dann waren sie wieder bei der Armee. Also hat uns Lifenews hier sehr geholfen: sie haben uns selbst gezeigt, dass diese Soldaten aktive russische Militärangehörige sind und weiterhin in der russischen Armee dienen.
Und solche Fälle gab es im Laufe eines ganzen Jahres des ukrainisch-russischen Krieges viele. In der russischen Presse wird oft geschrieben, dass dieser Krieg ein Bürgerkrieg in der Ukraine sei. Aber für einen Bürgerkrieg braucht man zwei Seiten. Eine Seite sehen wir – das sind die ukrainischen Streitkräfte, die Ukrainer, aber wer ist denn auf der anderen Seite? Ich mache immer einen Witz dazu, dass im ukrainischen Bürgerkrieg viel zu viele Staatsbürger Russlands sterben.

Der 20-jährige Soldat aus Saransk namens Dmitri Scharow posiert mit dem Schild der Grenzschutzkräfte der Ukraine, das er sich als „Trophäe“ mitgenommen hat.
Vor kurzem veröffentlichte der SBU ein Video, in dem vier russische Soldaten festgehalten wurden, die in Gefangenschaft gerieten. Das wurde irgendwo im Raum von Ilowajsk aufgenommen, es werden Nachnamen und Städte genannt. Die erste Reaktion der Russen: „Ich kann so ein Video in der Küche drehen, das ist kein Beweis, diese Menschen existieren gar nicht, das ist alles gestellt, das kann nicht sein.“
Wir fangen an, diese Menschen zu suchen, finden sie auch ziemlich schnell, sehen ihre frischen militärischen Fotos, schauen uns ihre Freunde durch, verstehen, dass wir es hier mit regulären russischen Militärangehörigen zu tun haben.
Wie konnten denn reguläre russische Militärs in ukrainische Gefangenschaft geraten? Diese Fragen stellen wir der russischen Öffentlichkeit.
– Was ist mit dieser letzten spektakulären Geschichte mit den russischen Speznas-Soldaten Jerofejew und Alexandrow?
– Erstens muss man verstehen, WIE diese Geschichte bekannt wurde und warum sie sofort in der Presse auftauchte. Hier hat das Bündel der ukrainischen Blogger, Freiwilligen und Militärs sehr operativ funktioniert, die anfingen zu schreiben, dass es dort einen Kampf gab, dass zwei Russen festgenommen wurden, dass es irgendwelche „wichtige“ Russen seien, sie schrieben uns (InformNapalm): „Schreibt darüber, damit es nicht wieder verschwiegen wird, damit sie nicht wieder im Stillen ausgetauscht werden!“. Über unsere Ressource InformNapalm begannen die Informationen in andere Medien durchzusickern. Man fing an, darüber zu schreiben. Als Resultat war man einen Tag später gezwungen zu sagen: Ja, es sind zwei Russen, sie sind aus Togliatti. Dann tauchten erste Vernehmungsvideos und Fotos auf. Anhand der Fotos fingen wir sofort an, sie zu suchen, haben ähnliche Profile gefunden. Legten dann Informationen zu ihrem Kommandeur offen – der Kommandeur hat sich nämlich schnell finden lassen, er sprang förmlich heraus, auf der ersten Suchseite: Wo er diente, an welcher Berufsschule er seine militärische Ausbildung abgeschlossen hat, da stimmten Alter, Stadt – alle Details – überein. Dann fingen wir anhand der SBU-Dokumente an, den anderen Namen nachzuforschen. Wir haben ähnliche Profile gefunden. Da war im Prinzip schon anhand der Fotos klar, dass es russische Militärangehörige sind. Wenn ein Mensch versucht, sich zu verstecken und so zu tun, als ob er Zivilist wäre, und dabei hier und da ein absolut militärisches Foto postet – das sagt schon einiges.
– Ist nun alles klar in dieser Geschichte oder gibt es noch irgendwelche Details, die noch präzisiert werden müssen?
– In Erzählungen der russischen Militärs war die Rede von der 2. Abteilung – das bedeutet 220 Menschen. Natürlich versuchen wir alle 220 zu finden, versuchen Informationen über sie zu finden, an welchen Kämpfen sie noch teilnahmen. Bereits im Januar erschien bei uns ein Bericht über irgendeinen russischen Speznas-Soldaten: Er fing an, alles mögliche zu fotografieren, was er nur in der Ukraine sah. Irgendwelche Technik, die man sonst in der Ukraine gar nicht hat und die offensichtlich russischer Herkunft ist, und er fotografiert sie aber bei den Separatisten. Dann fängt er an, sich selbst zu fotografieren und seine Fotos zu kommentieren: „Wir sitzen hier, drei Stunden bis zum Sturm von Sanschariwka“. Und die Kämpfe um Sanschariwka – das war im Januar. Dann sagt er: „Hier, und in drei Stunden werde ich verwundet. Direkt nachdem ich dieses Foto geschossen habe“. Und wir sehen: es sitzt ein russischer Speznas-Soldat, er sitzt mit einem Gewehr, und wir sehen, wo er herkommt: er ist aus Samara, seine Freunde sind aus Togliatti. Beurteilt man seine Freunde, so sind sie auch Angehörige der russischen Speznas. Die russische Speznas und dieselbe 3. Brigade sind in der Ukraine schon lange, und das ist bei weitem nicht ihr erster Kampf.
Sie sehen die offizielle Version, die man nicht zum ersten Mal versucht, uns in die Kamera zu erzählen, dass „wir einfach zur Aufklärung gingen, um zu schauen, zu kontrollieren“. Entschuldigen Sie mich, aber wenn Sie einfach nur „schauen gehen“ und dabei in einen fremden Schützengraben kommen, und daraufhin Feuer auf Sie eröffnet wird, dann ist es keine Aufklärung, dann hat man Sie als eine Aufklärungskompanie die vorderste Linie der Abwehr der Ukrainer in diesem Schützengraben einzunehmen geschickt, und dementsprechend hat man Sie auch behandelt.
Die 15. Friedenstruppenbrigade stand fast ein Jahr lang an der ukrainischen Grenze. Ihre Soldaten fingen an, Schilder in der Stadt Krasnodon zu fotografieren. Krasnodon – das ist in der Ukraine. Und so ganz banale Bilder: ukrainische Zigaretten, ukrainische Hrywnja, irgendwelche Schilder, aus denen man sofort versteht, wo er ist und was er ist. Oder die 23. Brigade. Ein Teil der Fotos dieses Menschen: Er ist in der russischen Armee, er ist Zeitsoldat, er dient tapfer. Dann kommt die Fotoserie aus Krasnodon. Er fotografiert fast jedes Schild in ukrainischer Sprache, womöglich ist es für ihn verwunderlich. Fotografiert alles, was er sieht, und dann kommen wieder Fotos von der russischen Armee. Als wer war dieser Mensch in der Ukraine? In welcher Eigenschaft? Diese Fragen stellen wir.
Im September fand ich Fotos von zwei einfachen russischen Panzerfahrern, die anscheinend nichts zu tun hatten und sich vor dem Hintergrund des Einfahrtschildes ins Dorf Tscherwonosilske zu fotografieren begannen. Und das ist genau jener Ilowajsker Kessel. Frage: Wie kommen russische Soldaten zum Dorf Tscherwonosilske?
Manchmal starten wir auch eine Suche nach den Einheiten. Zum Beispiel nehmen wir die 18. Brigade. Das ist Einheit Nr. 27777. Man fängt an durchzuschauen, schaust hier: Da hat irgendein russischer Soldat ein Foto von sich selbst vor dem Hintergrund eines zerstörten „Hummers“ der ukrainischen Fallschirmjäger und vor den für die Mariupoler Abwehr charakteristischen Betonbunkern veröffentlicht.
Es kommt heraus, dass diese Menschen in der Ukraine waren. Vor kurzem gab es eine Untersuchung, es war einfach Glück, gleich 20 Vertreter der 205. Brigade zu finden – sie fotografierten die Stadt Horliwka, alles, was sie in Horliwka sahen: die Kirche, den Fluss, die Brücke. Klar, dass die User gleich erkannten, dass es Horliwka ist. Dann fotografierten sie Debalzewe.
– Wie ist denn das Gesamtbild der Anwesenheit russischer Militärangehörige in der Ukraine während des letzten Jahres und ist ihre Anzahl Ihnen bekannt?
– Bei uns haben etwa 50.000 ukrainische Militärangehörige den Status eines ATO-Teilnehmers (Mai 2015) bekommen. Über die russische Seite denke ich, dass es dort auch mehrer Zehntausende sind. Man kann natürlich einen „Volkswehr“-Kämpfer nehmen, man kann ihm ungefähr zeigen, wie ein Gewehr funktioniert, wie man Einzelschüsse oder einen Feuerstoß abgibt, ihm annähernd beibringen, was ein Mörser ist und womit er schießen kann. Aber kann ein Mensch mit solchen flüchtigen Kenntnissen dann irgendwelche Offensivoperationen durchführen? Für all diese Operationen, für die Durchbrüche, für militärische Aufklärung braucht man professionelle Militärangehörige. Man braucht die 15., die 23., die 18., die 19., die 205. Brigade – all diese russische Einheiten, die Kampferfahrung besitzen und die in irgendeinem Augenblick an der Front zum Einsatz kommen und einen Umbruch in dem einen oder anderen Gefecht erzielen können. Im Prinzip passiert das schon das ganze Jahr lang, und eine große Anzahl russischer Militärs ist durch diesen Fleischwolf gegangen. Ich denke, es sind mehrere Zehntausende Menschen.
– Spüren Sie einen Widerstand der russischen Geheimdienste gegenüber ihren Untersuchungen? Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem die Russen, um eine Untersuchung zu diskreditieren, die Liste einer Fußballmannschaft in den Medienraum eingeworfen haben, als ob es russische Militärangehörige wären. Passiert so etwas oft?
– Ja, diese Liste wurde der russischen Bloggerin Wassiljewa zugespielt, die ja permanent seltsame Erklärungen abgibt, unverständliche Informationen postet. Es gibt einen Widerstand: Unsere Ressource InformNapalm ist permanent DDOS-Angriffen ausgesetzt. Es gibt auch das Projekt „Myrotworez“ (Anm.d.Redaktion: ein Projekt zur Ermittlung derjenigen Personen, die sich am Krieg im Donbas beteiligen: mit Namen, Profilen etc. Faktisch eine Kartei der russischen Terroristen), die Russen besuchen es recht aktiv, versuchen sehr aktiv, es unzugänglich zu machen. Ständig schreiben da komische Menschen hin. Plötzlich fangen mehrere Menschen an, dir ein und dasselbe Profil zuzuschicken. Du fängst an, dieses Profil zu prüfen und verstehst, dass es erst vor kurzem erschaffen wurde, da wurden Fotos ausgetauscht und jemand möchte, dass du über diesen Menschen, den es höchstwahrscheinlich gar nicht gibt, zu schreiben anfängst. Danach wird wohl irgendein russischer Artikel erscheinen, wo gesagt wird: Schaut her, diese schrecklichen Ukrainer schreiben völligen Quatsch, in Wirklichkeit gibt es dort gar keine russischen Militärangehörigen!
Sie sind da aber. Wir schreiben, wir prüfen nach. So viel die russischen Geheimdienste auch versuchen, Widerstand zu leisten, sind wir eine Netzstruktur, wir kämpfen um unsere Heimat, auf unserer Seite sind mehrere Hunderte sehr aktiver User, die ihre eigenen Methoden der Informationssuche und ihrer Nachprüfung ausgearbeitet haben. Die Russen gehen gegen uns vor – wir gehen gegen sie vor.
– Viele meiner Freunde in der Ukraine sagen, dass die wertvollste Errungenschaft der Revolution die Geburt der Selbstorganisation der Gesellschaft – die Freiwilligenbewegung – ist. Kann man die Initiative der Internet-Forschungen auch als Teil der Freiwilligen-Tätigkeit bezeichnen?
– Ich frage gar nicht mehr, wie die eine oder andere Ressource aufgetaucht ist. Wir haben irgendwie angefangen zu schreiben, dann haben wir verstanden, dass man in einer Ressource schreiben soll, fingen an, dort zu posten, ein Hosting kam hinzu, dann die User, zum Beispiel Roman Burko – das ist der Ideengeber des Projekts InformNapalm, der georgische Blogger Irakli Komaxidze… Es gibt viele Blogger, die ich nur per ihre Nicknames kenne, ich kann nur vermuten, wer dahinter steckt. Also, eine bestimmte Organisation, Struktur gibt es nicht, wir schreiben einfach für unsere Heimat.
– Sie haben eine mathematische Ausbildung. Wahrscheinlich ist sie bei dieser Art der Untersuchungen hilfreich?
– Ja, die Ausbildung hilft sehr. Auch das technische Background – das gibt einen guten Anstoß. Ich denke sogar, dass es für einen Nicht-Mathematiker schwieriger wäre, sich mit der Informationssuche zu beschäftigen. Weil man sich manchmal durch einen Haufen von Personalbögen durchkämpfen muss. Man kann es aber automatisieren, irgendwelche Scripts schreiben. Oder, wenn man gutes Gedächtnis hat, kann man sich mehrere Hunderte Profile merken. Der Nachname Iwanow war bei dem und dem unter Freunden. Man geht hin, bringt zwei Profile zusammen, man sieht: Aha, sie sind aus einer Einheit, also haben sie irgendeinen Bezug zu einander.
– In letzter Zeit fing ein neuer Internet-Krieg an: Einer nach dem anderen werden User wegen massenhaften Beschwerden auf Facebook gesperrt, sowohl russische als auch ukrainische Anti-putin-Blogger. Spüren Sie das auch?
– Ja, aber es bringt nichts, einen Blogger zu sperren. Das ist eine große Netz-Organisation, da schreiben Dutzende und Hunderte Blogger. Wenn man mich heute sperrt, schicke ich diese Informationen an meine Bekannten, und sie werden es verbreiten.
– Die russische Seite versucht manchmal, Ihre Informationen zu widerlegen, meistens schweigt sie aber ganz einfach…
– Vor kurzem haben die Ukrainer die russische Kampfdrohne „Forposten“ abgeschossen. Was ist die Reaktion des Verteidigungsministeriums Russlands: Woher kann eine Kampfdrohne kommen, deren Reichweite 250 Kilometer ist? Es gibt in der russischen Armee nur 10 davon. Wenn es Eure Kampfdrohne ist, kommt her und holt sie ab. Wenn es nicht Eure ist, woher kam sie dann? Und eine Reaktion gibt es nicht, weil… wie soll man auf so eine Nachricht reagieren? „Ja, das ist unsere Kampfdrohne, sie hat im Dezember bei der Armee gekündigt“? Darum reagieren sie gar nicht. Je mehr sie aber nicht reagieren, desto mehr Daten sammeln sich an. Und all diese Informationen bleiben für immer im Internet, auf die eine oder andere Weise werden sie gegen Russland verwendet.
Später, wenn der Krieg zu Ende geht, wenn das putinsche Regime zusammenstürzt, wird man all das verantworten müssen: die Burjaten, die Drohnen, jedes Foto, das in der Ukraine geschossen wurde. Einfach so zu sagen, dass „wir da nicht waren“, dass das alles „Urlauber“ seien – das wird nicht gelingen. Früher oder später fangen die Generäle an, nach Westen zu flüchten, die Informationen zu verkaufen. Der erste russische General, der mit Haut und Haaren alle erfolgreich zu verraten schafft – er wird faktisch den Jackpot knacken. Das ist nur eine Frage der Zeit.
Das sowjetische System versuchte auch so zu tun, als ob alles gut wäre, trotzdem lief permanent jemand weg, verriet die Informationen – das System war permanent gezwungen, sich zu rechtfertigen. Darum weiß ich gar nicht, was das russische Verteidigungsministerium tun soll. Jeden durch die ukrainischen Blogger aufgedeckten Menschen als einen gestern um 12 Uhr aus der Armee Gekündigten zu bezeichnen, jede Drohne als geklaut zu melden – das ist doch lächerlich. Darum reagieren sie gar nicht. Aber wie immer sie auch reagieren mögen, es kommt ein für die russische Gesellschaft äußerst unangenehmes Bild zustande: Russische Militärs mit russischer Technik, die sich nur in der Bewaffnung der russischen Armee befindet, nehmen am Krieg in der Ukraine teil – und in diesem Fall ist es ein russisch-ukrainischer Krieg. Also handelt es sich nicht um Volkswehr, nicht um „Volksmiliz“ – da ist die russische Armee.
Als wir die Profile der 15. Friedensbrigade durchschauten, haben wir plötzlich festgestellt, dass sie sich aus irgendeinem Grund unweit der Grenze befinden, dass sie die Nummern auf der Technik abzureiben versuchen, die taktischen Zeichen. Und sie tun das in so einer Eile, so unglaubwürdig, legen dann Fotos offen, und man sieht, dass da irgendein Panzerwagen steht, auf dem die Nummer mit einem Messer abgekratzt wurde, aber man kann die Nummer immernoch lesen.
Dann taucht dieser Panzerwagen irgendwo in der Ukraine auf. Hier hat ein russischer Militärangehöriger ein Foto auf seinem Panzerwagen in der russischen Armee geschossen und auf dem nächsten Foto ist er auf dem gleichen Panzerwagen, mit der flüchtig übermalten Nummer, aber bereits im Bestand des „LVR“-Bataillons „Witjas“, „Luhansk“, „Sarja“ oder was auch immer. Entschuldigen Sie bitte, aber das ist einfach nur lächerlich.
Oder hier ist ein Mensch in russischer Uniform, und auf dem nächsten Foto ist er bereits als Kosak kostümiert, angeblich soll es irgendeine „kosakische Volkswehr“ im Donbas geben, und auf dem darauffolgenden Foto ist er wieder ein russischer Militärangehöriger. Frage: Wer ist er? Darüber schreiben wir auch seit einem Jahr permanent. Die Anzahl der Artikel, Videos, Fotos ist riesig. Ein denkender Russe kann überhaupt nicht sagen: „Wir sind da nicht“.
Unsere Netzaufgabe ist zu zeigen, dass sie dort sind, damit es keine Gespräche zu diesem Thema später gibt. Das ist wie in Deutschland, als die Bürger der Städte, in denen sich die Konzentrationslager befanden, anfingen zu erzählen, dass sie vier Jahre lang in dieser Stadt lebten, sahen, wie die Schornsteine der Krematorien qualmten, sahen, wie dorthin Millionen Menschen gebracht werden und sie dann irgendwohin verschwinden, aber „wir wussten nicht, was hier passiert“.
Das ist eben unsere Aufgabe, damit die Russen es später möglichst schwer haben zu sagen, dass sie darüber nichts wussten. Denn Tausende Soldaten sind in der Ukraine bereits gefallen. Und wieviele gibt es, von denen wir nie erfahren werden, weil sie auf eine Mine getreten sind, zerfetzt wurden, und sie da nun irgendwo liegen, zerstreut auf einem Feld… Damit es später kein Gerede gibt: „Wir wussten nichts, wir sind doch Brüdervölker, alles ist gut“. Alle wissen alles. Wenn man sich Togliatti oder Samara anschaut – in diesen Städten ist eine riesige Anzahl von Einheiten stationiert. All diese Einheiten – die 15., die 23., die 3. Brigade – da ist alles voll mit Zeitsoldaten. Und wieviele Verwandten, Freunde haben sie? „Wo warst Du?“ „Wir sind da, du verstehst doch.“ „Ah, verstehe ich“.
Bei einem einzigen Bataillon gibt es Zehntausende Menschen, die auf die eine oder andere Weise alles wissen. Und wieviele Menschen gibt es, die die verwundeten Militärs ärztlich behandeln oder die Militärtechnik reparieren. Wieviele Menschen, die einfach etwas irgendwohin transportieren, oder sich mit den Listen des Personalbestands beschäftigen, die aus den Depots Helme, Schutzwesten, Technik aushändigen – das sind Zehntausende involvierte Menschen. Und all diese Menschen kommen dann zu sich nach Hause, zu ihrem Abendessen und erzählen dort: „Weißt Du, Frau, heute haben wir den Freiwilligen ein paar Tausend Schutzwesten ausgehändigt“… Zehntausende Menschen, Millionen Verwandte…
Eine gewaltige Menge Russen weiß das alles ganz genau, schweigt aber trotzdem. Und das ist so eine schweigsame Zustimmung, die uns sehr deprimiert, aber was soll man machen… Unsere Sache ist so zu machen, damit später keiner sagen kann: „Wir wussten nichts“. Alle wussten alles ganz genau. Wir legen so viel wie möglich Informationen offen, damit man später nicht sagen kann, dass man belogen wurde, dass 86% benebelt wurden, dass an allem nur das russische Fernsehen Schuld sei. Ja, seine Rolle ist auch wichtig, aber im Laufe dieses Jahres gab es so viele Beispiele, Beweise, Fotos, dass es unmöglich zu sagen ist: „Ach, die Informationen haben wir nicht bekommen, wir wussten es nicht!“
Quelle: Anton Pawluschko im Interview mit svoboda.org; übersetzt von Irina Schlegel.
CC BY 4.0
One Response to “„Sie wissen alles, aber sie schweigen…“”
17/08/2015
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