Die führende Forscherin des Brookings Instituts und Politologin Lilija Schewzowa sagte in einem Interview gegenüber der litauischen Quelle Delfi offen: „Russlands Präsident Wladimir Putin ist einem pfiffigen und effektiven Führer gar nicht ähnlich“. Ihren Worten nach ist Putin „eine kleine Mittelmäßigkeit, er hat nicht die geringste Ahnung, was man nun mit Russland tun soll, das am Rande des Abgrunds steht“.
„Jetzt erinnert Putin an die Spiegelung einer impotenten Omnipotenz,“ sagte Schewzowa im Interview mit DELFI. Schewzowa wird diese Woche an der Diskussion an einem Forum von Intellektuellen mit dem Titel „Russland und Westen: Realität und Perspektiven“ teilnehmen, das das Außenministerium und das Forschungszentrum Osteuropas in Vilnius organisieren.
– Es ist in Russland populär, die Vorgehensweise des Regimes mit einer Mafiastruktur zu vergleichen. Wenn man sich auf dieses Konzept stützt, ist Putin wie ein capo dei capi (der „Boss aller Bosse“), ein Vermittler zwischen verschiedenen Klans, der die Konflikte zwischen ihnen löst. Sind Sie mit so einer Wahrnehmung einverstanden? Wenn ja, wie bewerten Sie die Stabilität eines solchen Regimes, gibt es womöglich Klans, die für Putin gefährlich sind?
– Es ist wahr, dass die Psychologie, das Verhalten und die Mechanismen der Vorgehensweise der Mafia jedem Regime einer Einzelperson eigen sind. Die Kremleigene Autokratie hat eine lange und blutige Geschichte, die sich auf die Tradition stützt, alle einzuschließen und alles einzunebeln. Darin ist etwas Gemeinsames mit dem, was im Buch von Mario Puzo „Der Pate“ beschrieben wird, aber dieses Image vereinfacht das Bild.
In erster Linie gibt es gar keine Notwendigkeit, Putin als einen effektiven und pfiffigen Diktator darzustellen. Er ist eine kleine Mittelmäßigkeit, die im Kreml zufällig aufgetaucht ist. Ja, er hat gelernt, sich in den Korridoren des Kremls zurechtzufinden, aber es ist ihm nicht auszudenken gelungen, wie man das Land im 21. Jahrhundert leitet. Zweitens sehen wir heute, dass der russische capo dei capi ratlos, desorientiert ist und nicht die geringste Ahnung hat, was man mit Russland tun soll, das sich dem Rand des Abgrunds nähert.
Heute erinnert Putin an die Spiegelung einer impotenten Omnipotenz. Dass 80% der Bürger ihn unterstützen, bedeutet nichts – alle autoritären Führer erfreuten sich kurz vor ihrem Sturz der massenhaften „Unterstützung“. Wahr ist aber auch, dass wenn ein solcher Führer und sein Regime den Boden unter den Füssen verlieren, sie noch gefährlicher für ihre Bürger und für die Außenwelt werden. Besonders dann, wenn er versucht, dadurch zu überleben, dass er das Land in ein Kriegsparadigma stürzt.
In jedem Fall sehen wir den Beginn einer Agonie des Regimes, die für Russland schmerzvoll sein wird. Diese Agonie kann Veränderungen im Regime hervorbringen, die womöglich dem System der Autokratie helfen werden, sich selbst zu reproduzieren.
Wenn man über Klans um den Kreml herum spricht, so sehe ich nur einen Klan, der Putin unterstellt ist. Natürlich sind die Interessen der internen Kremlspieler zersplittert, es gibt Feindseligkeit und Rivalität. Man kann sagen, dass die Interessen verschiedener Kremlgruppierungen miteinander kollidieren. Aber derzeit ist kaum eine von diesen Kremlgruppierungen bereit, das personalisierte System abzuwerfen und Liberalismus einzubringen. Darum werden wir, wenn Putin die Kontrolle verliert, höchstwahrscheinlich die Fortsetzung der Führung durch eine Einzelperson sehen. Es sei denn, die anti-systemtechnischen russischen oppositionellen Kräfte konsolidieren sich und entfalten eine mächtige Kraft.
Russland bewegt sich auf eine Krise zu, und diese Krise wird eine neue Realität entstehen lassen. Höchstwahrscheinlich muss aber Russland das ganze Tal der Tränen durchgehen, bis es einen wahren, keinen illusorischen Ausgang sehen wird. Positiv ist, dass über 60% Russen, deren Lage sich zunehmend verschlechtert, nicht bereit sind, für Russlands „Größe“ und Putins Krieg zu zahlen. Darum beginnt die militaristische Droge langsam ihre Wirkung zu verlieren.
– Das Oberhaupt der europäischen Diplomatie, Federica Mogherini, sagte, dass sie im ukrainischen Konflikt positive Anzeichen sieht. Der Außenminister Litauens Linas Linkevicius sieht sie nicht. Was sehen Sie?
– Wahrscheinlich hängt es von den Kriterien ab. Wenn das Hauptkriterium die Tatsache ist, dass Russland seine militärische Invasion in die Ukraine unterbrochen hat, wie es diese im August 2014 gegeben hatte, als Russlands Streitkräfte die Grenzen offen verletzten, dann können wir positive Anzeichen sehen. Tatsache ist aber auch, dass der Kreml den Charakter seiner Tätigkeit in der Ukraine geändert hat. Nun möchte Putin, dass der östliche Teil wieder in die Zusammensetzung der Ukraine eingeschlossen wird, als eine zum Teil unabhängige Einheit. Dieser Teil soll die Rolle eines Messers im Körper der Ukraine spielen, oder es wird wie eine klaffende Wunde, die die Ukraine destabilisiert. Der Kreml wird experimentieren (und tut es jetzt schon), in dem er Kriegsmethoden anderer Art anwendet: Informations-, Handels- oder Zollkrieg. Er wird versuchen, die Krise in diesem Land zu verschärfen. Darum, wenn wir über den Druck Russlands auf die Ukraine sprechen, sehe ich in diesem Konflikt keinen Fortschritt. Ich denke, dass Mogherini und die EU die Bewertungskriterien breiter anwenden müssen, wenn es um die Aggression Russlands in Bezug auf seine Nachbarn geht. Die Schlagfertigkeit und der Machismo des Kremls haben einen Vorteil gegenüber den Experten der EU.
– Ich habe Meinungen hören müssen, dass sich die Situation in der Ukraine im militärischen Aspekt tatsächlich verbessern könnte, aber Russland sich dann mit der Diskreditierung der Reformen in der Ukraine beschäftigen wird. Und in dieser Hinsicht kann die Ernennung von Ausländern in die Regierung der Ukraine wie ein Bumerang zurückkommen, denn in den Augen der Gesellschaft werden sie die Verantwortung dafür tragen. Was denken Sie?
– In Wirklichkeit wird der Kreml nicht zurückweichen und sich weiterhin der Ukraine als eines Truppenübungsplatzes für den Kampf gegen den Westen bedienen. Und was die Beförderung der Ausländer auf wichtige Amtsposten in der ukrainischen Regierung und die Kritik daran durch die Gesellschaft angeht… Welcher Gesellschaft? Der ukrainischen? Ich denke nicht, dass es für sie wichtig ist. Die Mehrheit der Ukraine hat schon den proeuropäischen Vektor gewählt und es während der Wahlen demonstriert. Ich denke nicht, dass für sie die Staatszugehörigkeit ihrer Minister wichtig ist. Ich denke, sie sind mehr darum besorgt, dass die Reformen so langsam ablaufen.
Und noch etwas. Das klingt ironisch und dramatisch, aber der Druck und die Aggression Russlands haben nicht nur geholfen, ein neues ukrainisches Volk und einen neuen Staat zu erschaffen, sondern haben sie auch aus dem postsowjetischen Raum heraus und an Europa herangeschoben. Allerdings zahlt die Ukraine für diese Transformation einen hohen Preis.
– Im August letzten Jahres haben Sie geschrieben, dass Putin die Periode des Zwischenzarentums beendet hat, und eine neue Ära begann. Wie ist sie, Ihrer Meinung nach? Was spiegelt sie wieder?
– Die Periode nach dem Kalten Krieg mit ihrer verschwommenen Ideologie, dem Status Quo und dem Wunsch nach Stabilität, dem Glauben, dass der Westen keine echten Opponenten und Gegner hat, ist beendet. Putin hat das ganze Schachbrett umgeworfen. Ich würde sogar sagen, dass Putin eine gute Sache gemacht hat, sonst würde der Westen noch immer in Stagnation verharren.
Die neue Epoche verlangt Großes Denken: Man muss zur Normativität zurückkehren, das liberale System reformieren, die transatlantische Partnerschaft wiederherstellen, eine neue Führerschaft auf die Bühne bringen – die Anführer der Veränderungen. Putin hat den Westen geweckt, aber der Westen muss sich selbst aufs Neue wecken – als eine Alternative zur unliberalen Welt. Sonst versinken wir wieder im Dornröschenschlaf.
– Was denken Sie, was erwartet die Länder im Osten der NATO in der nächsten Zukunft? In Litauen fühlen wir uns wie ein geopolitisches Wunder. Was denken Sie, würde man Litauen unter jetzigen Umständen in die NATO aufnehmen?
– Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die Entscheidung der baltischen Staaten, NATO-Mitglieder zu werden, richtig war. Man kann sich vorstellen, dass sie, wenn sie nicht rechtzeitig der NATO beigetreten wären, sich jetzt in der gleichen Lage wiedergefunden hätten, wie die Ukraine. Wie wir sehen, ist der Kollaps des alten Imperiums noch nicht zu Ende. Ich bezweifle sehr, dass die baltischen Staaten unter den jetzigen Bedingungen NATO-Mitglieder werden könnten – warum soll sich der Westen einer Gefahr der Konfrontation mit Russland aussetzen?
Die baltischen Staaten befinden sich auch an der Berührungslinie der Zivilisationen (nicht der geopolitischen), darum wird ihre Rolle besonders wichtig. Zunächst müssen sie dem Westen erklären, was tatsächlich im postsowjetischen Raum geschieht. Sie spüren das alle sogar mit ihren Fingerspitzen.
Zweitens müssen sie sich mit der Lobbyierung in der Ukraine befassen, um die Reformen in die Tat umzusetzen. Drittens müssen sie darüber nachdenken, wie man eine attraktive Außenwelt für die Transformation Russlands erschafft. Viertens sind sie das Experimentierfeld des Westens, dessen Wesen und Sicherheitsbedeutung sich verändert haben. Eine ziemlich große Herausforderung!
Quelle: Lilija Schewzowa im Interview mit Egle Samoschkajte für ru.delfi.it; übersetzt von Irina Schlegel
2 Responses to “Lilja Schewzowa: Der russische capo dei capi ist ratlos und desorientiert”
25/05/2015
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10/09/2015
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