
Das Minsker Abkommen – Ein Weg zu Lösung oder der Versuch, den Konflikt im Osten der Ukraine einzufrieren?
Am 1. September soll der von Deutschland, Frankreich und Russland unterstützte Plan zu einer umfassenden Waffenruhe im Osten der Ukraine in Kraft treten. Die Regierung in Kiew und die pro-russischen Separatisten haben sich ebenfalls bereit erklärt Brüche der Waffenruhe einzustellen.
Darüber wie tragfähig das Abkommen von Minsk ist und wohin die eigene Politik Russland gebracht hat, spricht in einem Interview mit dem russischsprachigen Ableger von „Stimme Amerikas“ die Publizistin Lilija Schewzowa.
Viktor Wasiljew: – Frau Schewzowa, die Zeit vergeht, allerdings befindet sich der ukrainische Konflikt im russischen Fernsehen nach wie vor auf Platz eins. So deutlich, dass alles andere, akute Probleme eingeschlossen, in den Hintergrund tritt. Wie kann man das ihrer Meinung nach erklären und hat das Minsker Abkommen irgendeine Perspektive oder ist es eine Totgeburt?
Lilija Schewzowa: – Das Thema „Ukraine“ ist in Russland alltäglich geworden. Mehr noch, die Ereignisse in der Ukraine haben längst die russische Politik verdrängt, welche sich praktisch in Nichts aufgelöst hat oder zu einer Reaktion darauf geworden ist, was in der Ukraine geschieht. Bald kehren die führenden TV-Propagandisten aus dem Urlaub zurück und die Abende werden wieder zu einer Gehirnwäsche an russischen Bürgern mit Hilfe des Themas Ukraine. Während dessen wird der unendliche Friedensprozess á la Minsk fortgesetzt und ist virtuell geworden, womit sich alle abgefunden haben. Denn es kann keinen „gewöhnlichen“ Ausweg aus einem Krieg geben, in dem die Opponenten – Russland und die Ukraine – unvereinbare Interessen verfolgen.
„Minsk-2“ ist zur Suche nach Wegen zum Einfrieren des Konflikts geworden und bis dato spielt sich ein quälendes Abtasten der möglichen Bedingungen für ein solches Einfrieren ab. Aber selbst wenn die Vertreter dieser hoffnungslosen virtuellen Idee einen Kompromiss finden, wird dieser zwangsläufig vorübergehend sein. Das Bestreben des Kremls die Überlebensfähigkeit eines Staates zu unterminieren, welchen er für einen Teil des „Russischen Systems“ hält sowie die Russen und Ukrainer für ein Volk – es führt zum Zustand „Weder Krieg noch Frieden“. Dieser ist wie eine offene Wunde und es kann jederzeit zu einer Explosion kommen. So wie es in einer anderen Situation des Typs „Weder Krieg noch Frieden“ abläuft, beispielsweise in Bergkarabach.
Wassiljew: – Wie sieht Russland die Ukraine heute?
Schewzowa: – Die Ukraine ist für Russland zum Stein des Anstoßes geworden, was dazu geführt hat, dass eine neue Seite der russischen Geschichte aufgeschlagen wurde. Dieser Tatsache werden wir uns noch bewusst werden müssen. Das ist etwas, was wir, wie mir scheint, nicht wollen und meiden – Liegt das vielleicht am verletzten Ego? Die Ukraine, einst ein Juwel in der Krone der russischen Autokratie, hat dem „Russischen System“ einen tödlichen Schlag versetzt, indem es sich Europa zugewandt hat und einen für Moskau unliebsamen zivilisatorischen Vektor gewählt hat. Das ist eine Sprengung des autokratischen genetisches Codes, welcher auf dem Konzept eines Imperiums beruht: Die Ukraine ist dessen wichtigster Bestandteil. Vergessen sie den Unsinn unserer Experten über Geopolitik! Dies ist nichts weiter als ein Versuch, die Notwendigkeit eines imperialen Anspruchs zu begründen – aber in einer noch gefährlicheren Form. Nicht zufällig ist in Deutschland Geopolitik als Ideologie, die zum Faschismus führen kann, faktisch inakzeptabel.
Die Rolle und Bedeutung der Ukraine wurde im Kreml stets verstanden, wobei jegliche Anspielungen auf ein ukrainisches Nationalbewusstsein mit besonderer Härte vernichtet wurden. Stalin entschloss sich zu einem Genozid am ukrainischen Volk, um das Streben zu einem nationalen Selbstverständnis im Keim zu ersticken. Ohne die Ukraine ist Russland ein „Möchtegern-Imperium“ oder sogar gar keines. Der Kreml unserer Zeit versteht das, auf welcher Ebene spielt keine Rolle – emotional oder logisch. Die Ukraine ist nicht umsonst zu Putins persönlichem Projekt geworden.
Wassiljew: – Nur wegen der Ereignisse in der Ukraine hat der Kreml die aktuelle Propaganda-Ausrichtung gewählt, welche die Russland umgebende Welt als feindselig einstuft?
Schewzowa: – Nein, die Ukraine war nicht der unmittelbare Anlass zur Rückkehr des Kremls zum Modell „Festung Russland“. Diese Rückkehr war eine Reaktion auf die russischen Proteste in den Jahren 2011-2012 und der postwendenden Unfähigkeit des Kremls zumindest halbwegs demokratisch, also mittels eines gemäßigten Autoritarismus zu regieren. Der Sturz von Viktor Janukowitsch war für den Kreml ein Schlag (Moskau hatte ihn schließlich gekauft und er konnte sich nicht behaupten!) und ein Geschenk zugleich – er diente als Anlass dafür die Doktrin „Festung Russland“ (bereits 2013 beschlossen) zu implementieren. Aus dem Stadium einer Maxime bis hin zur praktischen Anwendung mithilfe des „KrimUnser!“
Wassiljew: – Und was hat das unter’m Strich gebracht?
Schewzowa: – Die Annexion der Krim lieferte Putin die Möglichkeit seine Macht neu zu legitimieren. Aber eines müssen sie wissen: Diese Legitimierung geschah unter Zerstörung der Säulen des „Systems“, welches diese über Jahrzehnte aufgebaut hatte. Insbesondere wurde dabei das wichtigste Überlebensprinzip der russischen Elite in Friedenszeiten zerstört – ihre Integration in westliche Eliten. Noch mehr: Die Zerstörung dieser Säulen geschah ohne die Möglichkeit einer traditionellen Versorgung der „Festung“ in der Hinterhand zu haben: Mittels eines realen und nicht imitierten Militarismus, mittels einer realen nuklearen Abschreckung der USA, mittels der Isolierung der Gesellschaft von der übrigen Welt. Das eine darf man nicht tun, das andere ist unmöglich!..
Wassiljew: – Was hat Moskau schlussendlich mit seiner Ukraine-Politik erreicht?
Schewzowa: – Der Widerstand der Ukraine und ihre Beharrlichkeit bei der Wahl ihres Wegs in den Westen (welcher für den Kreml zu einer feindlichen Zivilisation geworden ist) ist der deutlichste und offensichtlichste Beweis dafür, dass Russland nicht zur Rückkehr zum althergebrachten Modell der Autokratie imstande ist. Denn dieses Modell muss unbedingt die Ukraine umfassen. Die Ironie besteht darin, dass die Umwandlung des Themas Ukraine in einen Faktor der russischen Innenpolitik und wichtige Komponente der Legitimation des Kremls eines zeigt: Das „Russische System“ besitzt keine anderen Überlebensprinzipien und ist zu einer Geisel des ukrainischen politischen Vektors geworden. In gewisser Hinsicht haben die Ukrainer einen Sieg über Russland errungen. Wie sie es in kultureller und intellektueller Hinsicht getan haben, während sie imperialistischen Umarmungen Moskaus ausgesetzt waren: Die Ukrainer hatten bereits das Magdeburger Recht, waren gebildeter als die Moskowiten und das erste brauchbare Russisch-Wörterbuch hat ein Ukrainer in Kiew verfasst. Bloß, das anzuerkennen ist für die russischen Eliten völlig unmöglich.
Quelle: Lilija Schewzowa im Interview mit „Golos Ameriki“; übersetzt von Viktor Duke.
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