Anhand der Informationen, die mir zugänglich sind, würde ich folgende Gründe nennen, weshalb die Krim und die Ostukraine für Russland wichtige Interessengebiete sind:
1. Das Schiefergas in Slowjansk und die Erdöllagerstätten auf dem Krimschelf
Der Abbau war amerikanischen Firmen übertragen worden. Es war geplant, in diesem beziehungsweise nächstem Jahr anzufangen. Der Umfang der Vorräte ist so groß, dass sich die Ukraine in ein paar Jahren ausreichend mit Kohlenwasserstoffen versorgen und zum reinen Exporteur hätte werden können. Als Folge würden wir nicht nur den ukrainischen, sondern auch einen Teil des europäischen Marktes verlieren, weiter würden wir eine garantierte Gas- und Erdölpreissenkung wie auch den Risikozuwachs eines Transports durch die Ukraine erleben. Und dabei würden sogar Nord-Stream und Süd-Stream zusammen uns nicht erlauben, auf das Hauptrohr, das durch die Ukraine geht, zu verzichten. Für Russland bedeutet dieses Szenario zusammen mit dem von Putin erschaffenen ökonomischen und politischen Modell den Zerfall. Dabei einen relativ harten Zerfall, bis hin zu einem Jugoslawien-Szenario.
- „Für Donbas-Schiefergas“: lenta.ru
- „Shell hat mit der Bohrung angefangen“: wordpress.com
- «In Taking Crimea, Putin Gains a Sea of Fuel Reserves»: nytimes.com
2. Die Integration der Ukraine in die EU und ihr Austritt aus der Einflusszone Russlands
(wobei es in der Ukraine ziemlich viele für Russland wichtige Verteidigungsbetriebe gibt: Juschmasch, Motor-Sitsch, Topas (Avionik) usw.).
Eine indirekte Bestätigung für die Wichtigkeit dieser Ursache ist die Ausfuhr mancher Betriebsanlagen durch den ersten „humanitären Konvoi“ nach Russland.
- «Russische Hubschrauber schaffen es ohne die Ukraine nicht»: svoboda.org
- «An der ukrainischen „Raketennadel“. Ohne die Zusammenarbeit mit dem militärisch-industriellen Komplex der Ukraine wird das ganze ambitionierte Neuausrüstungsprogramm der russischen Armee zusammenstürzen“: svoboda.org
- „Juschmasch: Wenn Russland seine Söldner nicht zurücknimmt…“: googleplus.com
3. Das Streben der mit Russlands politischem Regime verbundenen Industrie nach einem Vorteil
D.h. im Rahmen der Privatisierung in der Ukraine eine Reihe von Betrieben in die eigenen Hände zu bekommen. Schon damals hat man Käufer zu Janukowytsch gebracht. Dieses begehrte Business kann man ja auch anderweitig an sich reißen.
- «Russland wird auf die ukrainischen Leckerbissen nicht verzichten»: flot.com
Wie das russische Management die Betriebe der Ukraine in den Bankrott treibt und das wertvolle Personal aus dem Land bringt, ist unter anderem Thema im Interview mit Frank van Kappen, einem Abgeordneten des niederländischen Parlaments und ehemaligen hochrangigen NATO-Mitarbeiter: „Das Jackett reißt an der Naht“.
4. Das Streben der Ukraine, das Gastransportsystem nicht zum Nutzen von Gazprom zu privatisieren,
was an sich schon eine Gefahr für den russischen Export (zusammen mit den Bedrohungen, die unter Punkt 1 aufgeführt wurden) darstellt.
- «“Naftogas“ gibt kein Stück der Ukraine an Russland ab»: vestifinance.ru
5. Die Basis der Schwarzmeerflotte
6. Die Unmöglichkeit einer normalen Versorgung der Krim ohne Landkorridor nach Russland
Das Vorhandensein russischer Interessen in der Ukraine ist an sich eine normale Sache. Die Frage ist, welcher Methoden man sich bedient, um diese durchzusetzen. Für jedes Land, das an seiner Ausbreitung orientiert ist, ist der Export eines verlockenden Lebensstandards die sicherste Methode, seine Interessen durchzusetzen. Ein Land, das für seine Bürger eine hohe Lebensstandardqualität erschaffen hat, kann sein Gesellschaftsmodell auch der Außenwelt anbieten. Wenn dieses Modell attraktiv ist, werden die potentiellen Partner von alleine kommen. Was haben wir in die Ukraine exportiert? Das Janukowytsch-Regime, das dem russischen Modell ähnlich korrupt und unfähig war, eine moderne Gesellschaft und effektive Wirtschaft aufzubauen.
Eine Sondermission des IWF hat im Februar-März dieses Jahres festgestellt, dass von den 35 Milliarden Dollar ausländischer Kreditaufnahmen, welche die Ukraine unter Janukowytsch bekommen hatte, 30 Milliarden in Offshore-Gebieten verschwunden sind. Die Goldreserven im Wert von 20 Milliarden Dollar wurden auf unmittelbare Art und Weise gestohlen. Insgesamt wurden während der Regierungszeit Janukowytschs 70 Milliarden Dollar aus dem ukrainischen Finanzsystem herausgebracht. Dabei betrug die Auslandsverschuldung der Ukraine zum 1. Januar 2014 75 Milliarden Dollar (Die Zahlen habe ich jetzt aus dem Gedächtnis zitiert, unbedeutende Abweichungen sind möglich).
Die Art, wie Russland seine Interessen in der Ukraine weiter durchsetzte, wird in vielem durch die Lagebeurteilung unseres Präsidenten diktiert. Es gibt Gründe anzunehmen, dass die Lagebeurteilung und die Handlungsweise unseres Präsidenten inadäquat sind.
- Belkowskij über das paranoide Bewusstsein Putins: echomsk.ru
Das Hauptproblem hier ist damit verbunden, dass ein Mensch mit einem solchen Bewusstsein keine schwierigen Prozesse in den Ereignissen in seiner Umgebung sieht, die durch eine Kombination an kausalen Wirkungszusammenhängen bedingt sind, sondern komplizierte Verschwörungsszenarien gegen sich selbst aufstellt. Die Verschwörungen gegen sich selbst werden dabei als Verschwörungen gegen das Land und umgekehrt aufgefasst. Wenn man Putins Auftritten genau zuhört, kann man verstehen, dass seine komplette Handlungsmotivation mit der Angst vor einer Verschwörung seitens der USA und NATO durchtränkt ist: Angeblich hatte man vor der Wiedervereinigung Deutschlands Gorbatschow Garantien gegeben, dass die NATO nach Osten nicht vordringen werde. Später sei dieses Versprechen gebrochen worden. Die Politik der USA und NATO sei darauf ausgerichtet, Russland zu vernichten, darum kämen sie allmählich immer näher an unsere Grenzen.
Weder Gorbatschow selbst noch andere Teilnehmer der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands können sich – so oft sie auch gefragt wurden – an ein Versprechen der NATO erinnern, sich nach Osten nicht zu erweitern.
Mehr noch, in den 1990ern hat sich Russland unmittelbar damit einverstanden erklärt, dass einige der ehemaligen Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Länder der NATO beitreten – unter der Bedingung, keine Wehrentwicklung und keine Atomwaffenstationierung auf dem Territorium der jeweiligen Länder durchzuführen. Näheres dazu gibt es im selben Interview mit van Kappen.
Zurück zur Ukraine: Hier kann man sich an das Treffen Putins mit den jungen Aktivisten auf dem Forum „Seliger 2014“ erinnern, wo unser Präsident den Grund für sein Vorgehen in der Ukraine erklärte: „Was auch immer jemand sagt, und wir hier verstehen es ja, es gibt ja hier keine Dummen! Wir haben doch diese symbolischen Kekse, die am Maidan verteilt wurden, gesehen. Die informative Unterstützung, die politische Unterstützung. Was bedeutet das? Eine vollkommene Involvierung der USA und der europäischen Länder in diesen Prozess des Regierungswechsels, eines gewaltsamen, verfassungswidrigen Regierungswechsels“: lenta.ru
Eine äußerst aufschlussreiche Erklärung. Putin kann noch nicht mal annehmen, dass Menschen wegen der eigenen Notlage sowie der Notlage ihres Landes, wegen der absoluten Abwesenheit jeglicher Perspektiven im Entwicklungsmodell, das ihnen von Russland aufgezwungen wurde, auf den Maidan gekommen sind. Und darum sieht er in den „Keksen des US-Außenministeriums“ auf dem Maidan nur die Fortsetzung derselben globalen Verschwörung gegen Russland und gegen sich selbst persönlich, nimmt es als einen durch westliche Geheimdienste bewusst inspirierten Putsch wahr. Und antwortet auf die gleiche Art und Weise. Wenn die USA in den Irak eindringen und Bomben auf Jugoslawien werfen und bunte Revolutionen organisieren durften, so werden wir nun genau so antworten, in dem Einflussbereich, den wir seit jeher als unseren eigenen wahrnehmen.
Dabei ist er sich der realen Lage in Russland nicht bewusst: der schweren Systemkrise, in die er Russland treibt; der Schwäche unserer Streitkräfte; der Abhängigkeit vom Westen in allen wichtigen Wirtschaftsbelangen, von Technologien bis zum wichtigsten Einnahmeposten des Staatsbudgets – dem Kohlenwasserstoffeexport. Und auf die „US-Kekse“ antwortet er zuerst mit den höflichen „grünen Männchen“ auf der Krim, dann mit dem Export von Terroristen in den Donbas, und später – mit den Panzern und mit den Abteilungen der russischen regulären Armee im Donbas.
Dabei kommt er sich selbst so groß und raffiniert vor, dass er sich seines Endsieges sicher ist, überzeugt davon, dass er alle überlisten und übers Ohr hauen wird. Und in derselben Zeit wird er als alternder Diktator wahrgenommen, der zum Machtverlust in den nächsten Jahren verdammt ist, diese Macht aber nicht von alleine abgeben wollen wird.
Quelle: Nikolai Alexejew; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Nikolaj Alexejew: Was machen wir in der Ukraine?”
17/06/2015
Drei verlorene Kriege: Gas, Land und Menschlichkeit... - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Lesen Sie zum Thema „Krieg in der Ukraine wegen Schiefergas?“ auch folgenden Artikel, der bei uns bereits im September 2014 erschienen ist: „Nikolai Aleksejew: Was machen wir in der Ukraine?“; […]