
Letzte Woche organisierte der russische Führer W.Putin ein öffentliches Treffen mit seinem Aussenminister Lawrow und dem Verteidigungsminister Schoigu. Diesem Treffen sind ganze 9 Minuten in den Nachrichten des ersten russischen TV-Kanals gewidmet worden, in denen Putin seinem Volk erklärte, dass Russland aus Syrien abzieht. Als Argument gab er an, dass russische Streitkräfte im Grossen und Ganzen ihre Aufgabe in Syrien erfüllt hätten.
Dabei sollen die Militärbasis in Tartus (Seestützpunkt) und die in Hmeimim (Luftwaffenbasis) weiterhin funktionsfähig und vom Land, See und Luft aus sicher geschützt sein. Nach Informationen der russischen Medien bleiben in Syrien auch russische Wehrexperten und Berater, die den Assad-Truppen zur Seite stehen, ferner sollen auch russische Stabsmilitärangehörige, Logistik-Strukturen und eine Reihe von anderen Spezialisten, insgesamt um die 1000 russische Militärangehörige in Syrien bleiben. UN-Sicherheitsrat lobte daraufhin Putin für diesen Plan.
Wir möchten Ihnen ein paar Ausschnitte aus einem Interview von Radio Svoboda zur Verfügung stellen, das mit dem russischen Politologen A.Piontkowski, dem russischen Kriegsberichterstatter P.Felgenhauer und dem ehemaligen Abgeordneten der Werchwona Rada der Ukraine Oles Donij geführt wurde. Vollständiges Interview finden Sie unter folgendem Link (auf Russisch). Wir haben uns auf die wichtigsten Passagen des Interviews beschränkt, die aufzeigen, was hinter dem Abzug steckt und wie sich der Abzug der russischen Truppen auf die Einstellung der Weltgemeinschaft zu Russland und auf die Zukunft der Ukraine auswirken kann.
Andrei Piontkowski: Wissen Sie, ich denke, dass diese Entscheidung selbst für die russischen Machthabenden unerwartet war. Alle, die das gestrige 9 Minuten Video gesehen haben, mit unseren Führern Putin, Schoigu und Lawrow, waren von ihrem deprimierten, bedrückten Zustand geschockt, von der krassen Irrsinnigkeit ihrer Rede. Sie war offensichtlich improvisiert, unvorbereitet. Man braucht sich nur an die Argumente von Schoigu über die 17 getöteten Feldkommandeure zu erinnern – da war alles von der Sorte.
Ferner war es im Grunde eine Selbstentlarvung von allen ideologischen Mythen über diesen Krieg, vom zentralen Mythos auch. Uns wurde ja suggeriert, und das wurde mehrmals von unserem Obersten Befehlshaber wiederholt, dass wir ja natürlich, ein wenig dem legitimen Präsident helfen, aber unser Hauptziel in Wirklichkeit ein nationales ist, unsere nationale Interessen, die russischen. Wir treffen unsere erbittertsten Feinde aus dem IS in der weiten Ferne, damit sie nicht zu uns kommen und wir nicht gezwungen werden, sie in Russland bekämpfen zu müssen.
Und nun stellt sich plötzlich heraus, dass derselbe Oberste Befehlshaber sagt, dass die Hauptaufgaben gelöst sind, da Schoigu mitteilte, dass 17 IS-Feldkommandeure tot sind und die Truppen nun erhobenen Hauptes in die Heimat zurückkehren dürfen. Wie werden wir denn, Entschuldigung, in weiter Ferne die restlichen Tausenden von Söldnern treffen? Also haben sie im Grunde all diese falschen, verlogenen Mythen über die angeblichen Ziele dieses Krieges im Laufe von 9 Minuten widerlegt…
Die Truppen werden dabei nicht vollständig herausgeführt – das wurde gestern auch sehr detailliert erklärt. Meines Erachtens hat aber eine ernsthafte Korrektur der Ziele stattgefunden, die sich Moskau stellte, vom Ausmass der Unterstützung für Assad in Syrien. Lasst uns mal an die Atmosphäre der Münchener Sicherheitssitzung erinnern, wofür Lawrow dort so verzweifelt gekämpft hatte: Dafür, dass die Waffenruhe nicht gleich in der nächsten Woche ausgerufen wird, aber irgendwann am 1. März oder ein wenig später sogar. Währenddessen bombardierte die russische Luftwaffe verstärkt Aleppo. Übrigens wiederholte Lawrow jeden Tag im Lauf der letzten zwei Monate, noch vor drei Tagen, dass Waffenruhe hin oder her – die Terroristen betrifft sie nicht, und die Terroristen sind nicht nur der IS, sondern jeder, den Assad so nennt. Also gab es das Ziel die Operation bis zur Einnahme von Aleppo fortzusetzen, bis zur einer ernsthaften Erweiterung jener Enklave, die bei der Endaufteilung von Syrien oder seiner Föderalisierung unvermeidlich beim Assad bleibt oder sagen wir mal so: bei Aleviten mit einem anderen Anführer.
Nun ist die Rhetorik eine ganz andere und das Vorgehen ist ebenfalls anders. Pawel (Felgenhauer) sagte schon, dass wir weniger bombardieren werden und in den letzten Tagen die syrische Opposition nicht mehr angreifen. Erinnern Sie sich, wie die Operation in Syrien begann? Wir erklärten damals, dass es gar keine moderate Opposition gibt, dass das alles Terroristen sind, dass sie alle bombardiert werden müssen. Dann kamen irgendwelche Gespräche auf, nun sind wir Co-Vorsitzende in einem Friedensprozess, an dem offensichtlich keine IS-Opposition teilnimmt. Nun ist die Aufgabe wesentlich bescheidener, zwecks Aufrechterhaltung des Image, und gegen diese Aufgabe wird eigentlich auch niemand was dagegen haben – die Aufgabe ist Assad, der seine Macht in irgendsoeiner Aleviten-Enklave bewahren soll.
Ferner möchte ich darauf aufmerksam machen, dass sich die Beziehungen mit den Verbündeten in dieser Operation offensichtlich verschlechtert haben, mit dem Iran. Man kann eine ganze Liste von Problemen aufzählen, die in den Beziehungen mit dem Iran entstanden sind. Das ist auch der Abzug vom Grossteil der Iranischen Revolutionsgarde, das sind auch Probleme mit dem Erdöl, denn Iran verneint kategorisch, den Gewinn einzuschränken, dann noch die ewige Geschichte mit der Bezahlung für S-300 und so weiter und so fort.
Mit Assad ist auch alles nicht so glatt. Denken Sie nur daran, wie Tschurkin ihn auf der Sicherheitssitzung zurechtgewiesen hat. Man gibt Assad zu verstehen, dass Russland sich nicht dafür einsetzen wird, dass sich sein Einflussbereich erweitert und schon gar nicht dafür, dass Syrien ihm ganz zurückgegeben wird, was er sich womöglich in den ersten euphorischen Momenten der russisch-iranischen Operation gedacht hatte – darauf braucht er nicht mehr zu hoffen. Es geht nur noch um Bewahrung. Die Korrektur der Ziele hat definitiv stattgefunden.
Pawel Felgenhauer: Die Bodentruppen sind genau da geblieben, wo sie waren. Es werden nur 10% der Gruppierung abgezogen, die Hauptkräfte bleiben in Syrien. Das ist keine strategische Entscheidung – das ist ein genialer taktischer Zug, einer von denen, die Putin im Grossen und Ganzen durchaus eigen sind, das muss man ihm lassen.
Nun haben wir uns mit den Amerikanern geeinigt, dass wir die syrische Opposition weniger bombardieren werden, und dann hat es eben einen militärischen Sinn die Flugzeuge für eine Zeit lang dort abzuziehen, was sollen sie da auch auf dieser überfüllten Basis in Latakia, während der jährlichen März-Sandstürme. Besser sie abzuziehen, sie können ja jederzeit innerhalb von 3-4 Stunden zurückkommen, die ganze Infrastruktur bleibt ja, die Flotte bleibt, die Luftabwehr, Panzer, Marineinfanterie, Hubschrauber, ein paar Flugzeuge bleiben auch. Nur wurden die überflüssigen Flugzeuge abgezogen und ein Teil des Bedienungspersonals. Sie können natürlich jederzeit zurückkommen, weniger als an einem Tag kann da alles zurückgekommen sein, wenn es sein muss.
Dort ist zur Bewachung der Basis ein Infanteriebataillon aufgestellt worden, dessen Bestand sich auch mehrmals veränderte. Es waren Panzer, Haubitzen, BTR und andere schwere Panzerfahrzeuge verlegt worden. Das alles bleibt, denn das ist zu schwer, um es hin und her zu schleppen, und dann auch noch durch den Bosporus. Die Flugzeuge sind ja schnell zu verlegen. Das ist eine manövrierende Art der Streitkräfte. Also, im Grunde hat man aus einer stinknormalen taktischen Notwendigkeit, die Luftwaffe für den Zeitraum der Sandstürme temporär zu verlegen, einen „Abzug der Truppen“ gemacht. Das ist wirklich ein genialer taktischer Zug. Wie man sagt: Es hat geregnet und wir erklären aber, dass wir die Stadt gereinigt haben. Das ist wirklich gut gemacht worden, denn man hat alle stutzig gemacht, die Menschen haben beschlossen, dass wir Syrien gänzlich verlassen – das tun wir aber gar nicht, die Basis bleibt. Putin ist der Meinung, dass sie dort viele Jahre stand, aber sie ist dort erst seit September, diese Luftwaffenbasis, und sie bleibt ebenfalls.
Oles Donij: Wir haben diese Siegesrelationen, dass Putin aus Syrien abzieht, Assoziationen mit Afghanistan: Die Truppen wurden aus Afghanistan abgezogen und die UdSSR war auseinander gefallen. Das ist aber eine ziemlich vereinfachte Herangehensweise. In Wirklichkeit braucht Putin Syrien ja gar nicht, Putin ist an der Verstärkung von verschiedenartigem aggressivem Einfluss Russlands interessiert. Und in dieser Hinsicht hat Syrien als Instrument Putin geholfen, zurück am Verhandlungstisch zu sein…
…Nach seinen militärischen Abenteuern im Südosten der Ukraine war er jemand, dem man nicht mehr die Hand gibt, er wurde als ein Element des grossen Einflusses aus der G8 abgedrängt, aus der G20. Und nun, nach den Ereignissen in Syrien, setzt sich Russland wieder an den Verhandlungstisch mit den USA, mit Europa, mehr noch, es setzt sich nicht einfach nur hin – es diktiert seine Bedingungen, dass sobald es diese Luftangriffe einstellt, es als ein Element der Verhandlungen zwischen Assad und der Opposition eingeführt werden soll. Dabei hat Pawel leider absolut Recht, dass die Truppen nicht komplett abgezogen worden sind, dass dort noch immer zwei Militärbasen sind, die jederzeit wieder aktive Kampfhandlungen aufnehmen können, und diese Bedrohung existiert tatsächlich.
Sie wissen, dass die Bedrohung immer grösser ist, als die Bestrafung selbst. Also die ganze Welt sieht nun, dass Putin, wenn er will, an jedem Ort des Planeten, wo er russische Interessen sieht, Kampfhandlungen wiederaufnehmen kann, und niemand kann ihn stoppen, nur mit dem Finger drohen, und dann setzen sie sich mit ihm doch an den Verhandlungstisch. Ich fürchte, dass Putin die temporäre Einstellung des russischen Eingreifens in Syrien als ein Argument dazu nutzen wird, auf Europa und die USA Druck bezüglich der Aufgaben auszuüben, die er sich in der Ukraine gestellt hat.
Ich spreche nicht von der Wiederaufnahme von grossen Kampfhandlungen, sondern von der Wiederaufnahme von grossem Druck auf die Ukraine. Ich möchte daran erinnern, dass sogar jetzt, während der bedingten Waffenruhe die Ukraine circa 30 Menschen im Monat verliert, also wird ungefähr jeden Tag 1 Mensch von den russischen Terroristen getötet. Das ist dazu da, die Ukraine in einem Zustand von permanenter Spannung zu halten. Das Ziel ist nicht irgendein Transnistrien auf dem Territorium von „DVR“ und „LVR“ zu erschaffen, das Ziel ist, dass in der Ukraine permanent Chaos, Armut herrscht, dass die Ukraine nicht zu einem Erfolgssymbol für die bedingte proeuropäische liberale Opposition in Russland selbst werden kann, damit Russland, um Gottes Willen, nicht den Weg der Ukraine geht, also der Europäisierung und Liberalisierung. Dafür war auch teuflisch genial dieser Plan der Minsker Verhandlungen erfunden worden, bei dem in der Ukraine auch Poroschenko Putin in die Hände arbeitet.
Ich betrachte die Ereignisse in Syrien als eine putinsche Nötigung des Westens dazu, die Minsker Verhandlungen zu implementieren. Schauen Sie doch, wie Putin sich gerade verhält: Er hat auf jesuitische Art und Weise den Westen dazu gebracht, der Forderung des Kremls nachzugehen und die Minsker Verhandlungen zu verwirklichen. In Wirklichkeit ist dieses Abkommen aber eine allumfassende Schwächung der Ukraine. Ich erinnere Sie daran, was dort geschrieben steht: Faktisch wurde dort die föderative Struktur der Ukraine eingeschrieben, also Verfassungsänderungen nach der Durchführung von lokalen Wahlen scheinbar entsprechend der ukrainischen Gesetzgebung. Nichtsdestotrotz bedeutet es aber eine Amnestie für die Terroristen, ihre Legalisierung, nach den Verfassungsänderungen haben diese Regionen faktisch ein Vetorecht auf die Demokratisierung, Ukrainisierung, Europäisierung der ganzen Ukraine. Da Putin es der Ukraine nicht selber aufdrängen konnte, hat er es im Grunde mit den Händen von Poroschenko und des Westens gemacht. Nun bitten sie Putin darum, sich an das Minsker Abkommen zu halten. Putin ist noch unschlüssig, wird aber in 1-2 Jahren darauf eingehen, so tun, als ob er ein Zugeständnis macht. In Wirklichkeit waren es aber seine Ersterwartungen, Erstforderungen, Erstwünsche. Das bedeutet die Verwandlung der Ukraine nach dem Szenario von Bosnien und Herzegowina in ein faktisches Konglomerat, das keine Entscheidungen selbstständig treffen kann, ohne einen Verhandlungsprozess einzugehen.
A.Piontkowski: Seine Strategie ist seine Interpretation des Minsker Abkommens anzudrehen. Wobei ich sagen möchte, dass die Einstellung des Westens zwar nicht ideal ist, aber sie stimmt mit dem putinschen Verständnis dieses Abkommens auch nicht vollkommen überein. Ich würde gar sagen, dass diese fünf Prinzipien von Mogherini in erster Linie in Bezug auf Russland ziemlich hart sind. Die Notwendigkeit der Implementierung bezog sich auf solche Bedingungen wie den Abzug der Truppen und die Übergabe der Kontrolle. Es findet ein schwieriges Tauziehen-Spiel statt. Natürlich ist Putins Aufgabe das Lugandonien („LVR/DVR“) wie ein Krebsgeschwür in den politischen Körper der Ukraine hineinzudrücken, um sie zu zersetzen und ihren europäischen Vektor der Entwicklung zu blockieren. Aber die Ukraine ist ein souveräner Staat, sie kann sich diesem effektiv widersetzen. Also, eine militärische Eskalation, zumindest in der nächsten Perspektive, sehe ich nicht. Ich sehe auch keine Möglichkeiten dazu. Der politische Druck wird sich aber fortsetzen und dem muss man sich widersetzen.
Interview von Michail Sokolow, svoboda.org
- Lesen Sie zum Thema auch: „Verfassungsänderungen. Die Ukraine ist ein geduldiges Land…“
Dieses Material wurde von Irina Schlegel für InformNapalm vorbereitet
One Response to “Ein paar Überlegungen zum putinschen Abzug aus Syrien”
23/04/2016
Erkennen der neuen Realität im Umgang von Westeuropa mit der Ukraine und Osteuropa - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Entwicklung der Ukraine blockieren können und Entscheidungen im Sinne Moskaus fördern werden. Piontkowski nennt es „Krebsgeschwür“, das in den Körper der Ukraine hineingedrückt werden soll. Gerade […]