
von Irina Schlegel
Wir möchten Ihnen heute ein Interview mit dem Rechtsanwalt Martin Luithle vorstellen. Sein Name wurde weithinbekannt, als er eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen einen Journalisten des russischen Ersten TV-Kanals einreichte. Wir treffen uns in Kiew, wohin Martin Luithle gekommen ist, um sich die Ukraine mit seinen eigenen Augen anzuschauen und die Soldaten an der Front zu besuchen (Titelbild: M.Luithle zu Besuch bei den ukrainischen Soldaten an der Front).
– Hallo, Martin. Willkommen in Kiew! Wir wissen ja alle, dass Sie der erste deutsche Rechtsanwalt sind, der tatsächlich eine Anzeige wegen Volksverhetzung gegen einen russischen Journalisten des Ersten TV-Kanals eingereicht hat. Wie sieht die Situation mit der angeblichen Vergewaltigung von Lisa aus? Ihre Strafanzeige ist ja abgelehnt worden. Wie nehmen Sie das wahr, hatte die Anzeige dennoch einen Sinn?
– Hallo! Ja, das hatte sie. Die Staatsanwaltschaft hat einen Anfangsverdacht gesehen. Das heisst, sie hat ermittelt. Juristisch gesehen bedeutet das, dass die Staatsanwaltschaft nach einem Ermittlungsverfahren, in welchem ich nicht überprüfen kann, welche der von mir beantragten Ermittlungen sie tatsächlich durchgeführt hatte, weil ich keine Aktenansicht bekomme, es abgelehnt hat, Anklage zu erheben. Die Begründung ist: Es liegen nicht genügend konkrete Beweispunkte dafür vor, dass der Journalist auch wirklich von Anfang an gewusst hat, dass das Mädchen nicht vergewaltigt worden war. Die Strafanzeige hatte aber insofern Erfolg gehabt, dass die gesamte Presse darüber berichtet hat und dass alle Menschen darüber geredet haben. Jeder Mensch hat mitbekommen, dass behauptet wurde, dass es eine Vergewaltigung stattgefunden hat, die es nicht gab, was sehr wichtig zu verstehen ist. Aufgrund der Auswertung von Handy-Daten des Mädchens wurde zweifellos nachgewiesen, dass das Mädchen an diesem Tage bei einem Freund war und wegen schulischer Probleme nicht zuhause erschienen, sondern zu einem Freund gegangen ist. Und insofern war diese Strafanzeige durchaus erfolgreich – es war wichtig, die Art und Weise der russischen Propaganda und ihre Lügen zur Sprache zu bringen, sie öffentlich zu machen und diese Kenntnis in der Öffentlichkeit möglichst zu verbreiten.
– Also, es war ein Erfolg insofern, dass die Meinungsfreiheit eine Priorität hat und wir sie nicht abschaffen können und dürfen. Und das ist eben der Unterschied zum russischen Fernsehen, zur russischen Propaganda – dass wir nicht die Meinungs- und Pressefreiheit abschaffen, dass wir aber versuchen, die Lügen der Propaganda zu widerlegen und Sachen klarzustellen, was Sie auch geschafft haben. Das ist eben der Weg, den demokratische Staaten gehen, die sagen: Wir verbieten nichts, wir widerlegen das.
– Richtig. Die Lüge ist widerlegt und jeder weiss, dass der Bericht gelogen war und gleichzeitig sieht jeder, wie sich die russische Seite weiter verhält. Denn bis heute hat sich der Journalist weder entschuldigt dafür, dass er etwas falsches berichtet hat- er hätte sich ja zumindest mal als ein seriöser Journalist entweder entschuldigen oder berichten müssen, dass es leider falsch war, der Bericht, den er „irrtümlich“ veröffentlicht hatte. Das hat er nicht getan, sondern weiterhin den Anschein erweckt, es habe eine Vergewaltigung stattgefunden. Und genau das ist der Punkt. Russische Propaganda gesteht ihre Fehler nicht ein. Also, ich denke, dass nachwievor juristisch geklärt werden muss, wie wir mit russischer Propaganda umgehen. Es gibt einen Unterschied zwischen Pressefreiheit und bewusster Lüge. Wenn es eine Lüge ist, die bewusst dazu gebraucht werden soll, Menschen gegen andere Menschen aufzuhetzen, dann muss es dafür auch ein juristisches Mittel geben. Es kann nicht sein, dass diese Sachen auch von der Pressefreiheit geschützt werden. Zumindest wird man ab sofort juristisch genauer überprüfen, ob jeder Journalist, der Falsches berichtet hat, es gewusst hatte oder nicht.
– Also, haben Sie im Grunde einen Präzedenzfall geschaffen.
– Könnte man sagen. Die Beeinflussung durch die Massenmedien ist natürlich enorm. Darum müssen sich die Juristen mit diesem Thema auch weiterhin befassen. Wir haben auf einer Seite den Begriff Pressefreiheit und auf der anderen Seite aber die Beeinflussung und die Verdummung und bewusste Infiltrierung der Menschen durch die Massenmedien, die hochgefährlich ist. Es muss eine Differenzierung stattfinden, denn seit dem Fall Lisa wissen wir: Es gibt diese hybride Informationskriegsführung, die über Massenmedien funktioniert und die Menschen zu allem möglichem verleiten kann. Vor allem wenn ihr Zugang zu anderen Informationen beschränkt ist. Natürlich kann man aufklären, aber es wird nicht viel bringen. Genauso wie Gegeninformationen. An dem Punkt, wo Informationen klar falsch sind, muss ernsthaft ermittelt werden, ob hier bewusst Propaganda gemacht wird. Wenn zum Beispiel Panzer durchs Brandenburger Tor fahren, wie es im russischen Fernsehen gezeigt wurde, dann haben wir hier keine irrtümliche Berichterstattung mehr – wir haben es dann mit purer Propaganda zu tun. Und das ist gefährlich und damit müssen wir uns noch befassen.
– Denken Sie, dass sich die Einstellung gegenüber der Ukraine in Deutschland geändert hat? Vor zwei Jahren war ja die Situation in den deutschen Medien hinsichtlich der Berichterstattung über die Ukraine einfach grauenhaft. Man hatte den Eindruck, sie würden aus alter Gewohnheit noch immer Nachrichten von TASS und Interfax einkaufen, was dazu führte, dass deutsche Medien des Öfteren die russische Sicht beziehungsweise die russische Propaganda in Deutschland verbreiteten.
– Mit Sicherheit. Die Politik in Deutschland ist noch immer von dem alten Hinterhofdenken geleitet, die Ukraine gehöre irgendwie noch zu Russland. Das ist ein Denken vom letzten Jahrhundert. Die Ukraine war nicht so ein wichtiges Thema, wie es hätte sein müssen. Es tauchten irgendwelche Artikel auf, aber schnell war das Thema wieder vergessen und von anderen Sachen überschattet. Noch immer wird von „Ukraine-Krise“ geredet. Kaum jemand versteht, dass es in der Ukraine 2 000 000 Binnenflüchtlinge gibt. Das kann man zwar in den Medien finden, aber in Schlagzeilen, in Tageszeitungen wird dieses Thema nicht zur Sprache gebracht. Was sich aber geändert hat, dass die Menschen nun verstehen, dass es die russische Propaganda tatsächlich gibt und dass dort gelogen wird. Das ist den Menschen nun sehr gut bewusst. Und das ist sehr wichtig, denn über dieses Wissen fangen die Menschen an zu begreifen, dass auch über die Ukraine gelogen wurde. Die Einstellung hat sich insofern geändert, als dass es zunächst den Medien und dann auch den Menschen in Deutschland speziell durch den Fall Lisa erstmals klar geworden ist, was russische Propaganda ist. Dass offenkundig Tatsachen verdreht werden, offenkundig gelogen wird. Und in diesem Zusammenhang beginnen sie nun auch die Ukraine in einem neuen Licht zu sehen. Und überprüfen die Geschichten, die von Russland über die Ukraine erzählt wurden. Siehe „Faschisten“, „Soldaten auf Panzer auf Urlaub“, „Krim-Referendum“, das ja auch von Soldaten ohne Abzeichen überwacht wurde. Also, die Leute beginnen zu begreifen, dass die Informationen, die sie 2014 bekommen haben eventuell falsch sind. Und jetzt beginnen sie die Ukraine in einem neuen Licht zu sehen.
– Auf den okkupierten Territorien im Donbass werden an den Schulen gerade Lehrbücher verteilt, in denen die Ukrainer als Nazis und Faschisten dargestellt werden, in denen Hass gegen alles Ukrainische vermittelt wird. Wie kann man sich dem widersetzen? Wie kann man diesen Menschen, die seit zwei Jahren einer extremen russischen Propaganda ausgesetzt sind, die ukrainische Realität wieder näher bringen?
– Das Problem ist, dass die Ukraine zurzeit andere Probleme hat, als sich darum zu kümmern. Das ist ja die besondere Schwierigkeit der Ukraine: Eigentlich ist es unglaublich, was das Land alles gleichzeitig macht. Es muss einen Krieg abwehren, gleichzeitig seine Wirtschaft neu aufstellen, Reformen gegen die Korruption durchziehen und soll sich gleichzeitig um die Menschen in den beiden sogenannten „Volksrepubliken“ kümmern. Das ist nicht zu machen. Das kann kein Volk der Erdkugel leisten. Also, die Art und Weise wie die Ukraine es bisher geschafft hat, ist schon bemerkenswert. Und das ist eigentlich nur einer Tatsache zu verdanken, von der auch der Westen lernen könnte: Der Solidarität der Menschen, der gegenseitigen Hilfe, der Freiwilligenbewegung, die nicht nur den Soldaten hilft, sondern im Grunde auch 2 000 000 Binnenflüchtlinge zu verarbeiten hat – das alles intern zu verkraften, und das nicht durch Staatsmittel, sondern privat, durch Mitmenschlichkeit, durch Solidarität. Deutlicher kann ein Volk in seinem Streben nach Freiheit gar nicht sein.
– Es herrscht so eine gewisse Enttäuschung in der Ukraine bezüglich der westlichen Politik, speziell europäischen. Was denken Sie über den Druck auf die Ukraine, die okkupierten Territorien als autonome Republiken im Bestand ihres Staates anzuerkennen, diesen sogenannten „Volksrepubliken“ einen Sonderstatus zu geben, was ja Verfassungsänderungen nach sich zieht, und ihren Vertretern Parlamentsplätze zur Verfügung zu stellen? Im Grunde bedeutet das für die Ukraine, dass es eine prorussische Enklave im Osten geben wird, mit Parlamentsabgeordneten, die jegliche europäische Entwicklung der Ukraine blockieren können und Entscheidungen im Sinne Moskaus fördern werden. Piontkowski nennt es „Krebsgeschwür“, das in den Körper der Ukraine hineingedrückt werden soll. Gerade der Westen übt aber Druck auf die Ukraine aus, dass sie diesem Vorgehen nachgeben soll…
– Die Ukrainer begreifen natürlich, dass die Deutschen die Triebfeder für den europäischen Gedanken sind. Und die Ukrainer sind natürlich von der gegenwärtigen Politik, die Deutschland der Ukraine gegenüber zurzeit macht, was Minsk und immer wieder auch die Äusserungen von deutschen Politikern betrifft, enttäuscht. Auf der anderen Seite steht natürlich, und das darf nicht übersehen werden, dass erhebliche Hilfen auch von deutscher Seite gebracht werden, die aber an der falschen Stelle landen. Man muss tatsächlich feststellen, dass im Moment tagtägliche mannigfaltige Angriffe vonseiten russischer Militärs und Separatisten stattfinden. Das heisst, der Waffenstillstand wird von russischer Seite im Moment ständig gebrochen. Im Gegenteil, die Angriffe werden im Moment sogar verstärkt. Das heisst eindeutig, dass Russland nicht vorhat, sich ans Minsker Abkommen zu halten. Das ist die erste Feststellung, die man treffen muss. Die zweite Feststellung ist, dass wenn es dazu kommen sollte, dass zwei „Volksrepubliken“ ins Parlament integriert werden sollen, die völlig undemokratisch sind, dann wäre das für die Ukraine schlichtweg nicht tragbar. Weil die Demokratisierung und die Befreiung der Ukraine mit zwei „Volksrepubliken“, die völlig unberechenbar sind, die völlig unlegitimiert sind, die die ukrainische Demokratisierung ständig blockieren würden – das wäre für die Ukraine wie ein politischer Selbstmord. Das heisst, es gibt nur eine Lösung: Dass Russland sich langfristig aus der Ukraine zurückzieht. Es gibt keine andere Lösungsmöglichkeit.
– Putin hat aber nicht vor, sich zurückzuziehen. Er behauptet zwar bei jeder weiteren Verhandlung, dass er das tun würde, aber wie wir sehen, hat er das überhaupt nicht vor. Und wir von InformNapalm dürfen dann Untersuchungen veröffentlichen, dass wieder neue Panzer eingetroffen sind, wieder eine Schule als ein Waffendepot benutzt wird, dass ein weiterer russischer Truppenverband im Donbass ist usw. Im Grunde findet gar kein Waffenabzug statt – es findet Waffenverstärkung statt. Es gibt Meinungen, dass es auf dem okkupierten Territorium im Donbass mittlerweile so viele Waffen im Umlauf sind, dass es für ganz Europa reichen würde. Also, die Frage ist: Was können wir ihm entgegensetzen? Weil wir nicht mehr darauf hoffen, dass er sich einfach so zurückzieht. Für Putin ist die Ukraine zu wichtig. Wir sehen natürlich, dass Europa Russland mittels der Sanktionen herunterzuwirtschaften versucht, aber wie lange kann es dauern, bis Putin kein Geld mehr für diesen Krieg hat, wieviele Menschenleben soll es noch kosten?
– Ich denke, den Widerstand muss man fortsetzen. Solange, bis auch die massgeblichen Entscheidungsträger erkennen was zu tun ist. Es ist eine Sünde, die Menschen so allein zu lassen. Zuallererst mal wäre darauf zu drängen, dass Europa oder der Westen überhaupt erstmal anfängt zu verhandeln. Was bisher stattgefunden hat, war kein Verhandeln. Verhandeln heisst mit klaren Vorstellungen deinem Gegenüber entgegenzutreten. Was wir bisher erleben, ist lediglich ein Hinterherlaufen und blosses Reagieren auf Putins Aktionen. Das heisst, der Westen müsste erst einmal mit einem klaren Konzept antreten und Putin auch mit klaren Gesprächsbedingungen konfrontieren. Eine Verhandlung besteht aus zwei verschiedenen Positionen. Es müssen erstmal irgendwelche Positionen von uns überhaupt erhoben werden. Man hat den Eindruck, dass man noch immer jeden Konflikt vermeiden möchte. Und sich von Putin bei den Verhandlungen mehr oder weniger bestimmen lässt. Man muss bei den Verhandlungen mit Kleinigkeiten anfangen. Man setzt ganz klare Gesprächsbedingungen bei Kleinigkeiten. Zum Beispiel, bei Donbass wird es heissen, dass in einem gewissen Zeitraum gewisse längst vereinbarte Bedingungen endlich erfüllt werden. Und dazu setzt man einen klaren Zeitraum. Wenn dieser Zeitraum nicht eingehalten wird, dann wäre darüber nachzudenken, ob man die Sanktionen verschärft. Wir haben im Moment noch keine besonders wirksamen Sanktionen. Wir haben zwar eine Personenliste, die aber dadurch umgangen werden kann, als dass man die Geschäfte mit Strohmännern abwickelt, die hinter diesen Personen sind. Damit ist die Personenliste bereits umgangen. Die Sanktionsliste muss auch so gebaut werden, dass bei Verstössen gegen die Sanktionen es dagegen auch Strafvorschriften gibt. Eine Sanktionsliste, die jederzeit gebrochen werden kann, ohne irgendwelche Konsequenzen, hat Null Wirkung.
– Das ist eben die Frage, die uns beschäftigt: Was kann Europa eigentlich entgegensetzen? Denn in diesen zwei Jahren haben wir gesehen, wie Putin sich an keinerlei Bedingungen und Abkommen hält. Und alles was man dann von den westlichen Politikern hört, ist „Besorgnis“, „große Besorgnis“, „ausserordentliche Besorgnis“ – die deutsche Sprache reicht ja gar nicht mehr für die Steigerung des „Besorgnis“-Ausdrucks aus. Die Sanktionen wirken zwar, das Leben in Russland ist tatsächlich schlimmer geworden, aber hauptsächlich betrifft es die einfachen Menschen, aus deren Rentenfonds Putin sich übrigens gerade Geld „leiht“. Was kann Europa dem Kreml tatsächlich entgegensetzen?
– Konsequenz. Das allerwichtigste ist Konsequenz. Überhaupt erstmal in Verhandlungen mit Bedingungen reingehen. Der Westen darf nicht übersehen, dass er Putin mit seiner Politik bisher stark gemacht hat. Also, die abwartende Politik, die gegenüber Putin betrieben wurde, hat im Grunde wie eine Problemverschiebung gewirkt. Wenn ich die Lösung eines Problems immer wieder verschiebe, wird das Problem immer grösser und stärker. Der Westen hat genügend wirtschaftliche Stärke, wesentlich grössere wirtschaftliche Stärke, um konsequent aufzutreten, ohne dass wir darüber sprechen, dass ein Krieg ausbrechen muss. Es gibt viele unkriegerische Massnahmen, die eine stärkere Seite gegenüber der anderen ergreifen kann. Wie SWIFT zum Beispiel. Es stellt sich in der Tat die Frage, warum noch immer keine SWIFT-Sperre eingeleitet wurde. Auch ist bekannt, dass eine konsequentere Ausführung der Sanktionen schon jetzt zu wesentlich wirksameren Ergebnissen geführt hätte. Wenn man sich die Frage stellt, warum unkriegerische Massnahmen, die man längst hätte ergreifen können, bis heute nicht ergriffen worden sind, dann kann es dafür eigentlich nur einen Grund geben. Nämlich wirtschaftliche Geschäfte. Dieser Schluss liegt nahe. Ich denke, dass die deutsche Politik die Gefahren sieht, die von einem absolut instabilen Russland für Europa ausgehen, das ist das, was der Politik Sorgen macht. Was passiert, wenn in Russland andere, stalinistische Kräfte, die hinter Putin stehen, an die Macht kommen. Davor hat Europa zu Recht eine gewisse Sorge. Wir wissen natürlich, dass zurzeit in Russland ein Rückfall stattfindet, bei dem wir es nicht mit einer Person zu tun haben, sondern mit einer ganzen herrschenden Schicht. Das heisst, man muss immer klar und deutlich Gesprächsangebote an Russland setzen, aber immer unter klaren Bedingungen, Schritt für Schritt. Und wenn die kleinen Schritte nicht eingehalten werden, dann muss es mit einer klaren Reaktion verbunden sein. Also, wirtschaftliche Strafmassnahmen.
– Das ist auch in der Ukraine ein Problem. Das ist absurd, aber im Zustand des Krieges werden weiterhin Geschäfte mit Russland betrieben, wir hatten bei uns auf InformNapalm mehrere Untersuchungen zu diesem Thema. Wenn man sich sowas in der Situation des Zweiten Weltkrieges vorstellt, dass irgendwelche englische Geschäftsmänner sich mit dem hitlerischen Umfeld treffen und mit ihm Geschäfte machen… In unserer Zeit ist aber das Geschäft frei von Moral geworden. Viele wollen einfach nicht auf ihr Geschäft verzichten. Das ist die Auswirkung der globalen Wirtschaft. Wir leben im Grunde in einer Welt, in der das Geschäft getrennt oder auch einfach nur gegen die Politik läuft. Was kann man denn da tun?
– Wir leben tatsächlich in einer kapitalistischen Welt, in welcher das Geschäftemachen inzwischen ein wertfreier Vorgang ist, in einer Welt, in welcher die Moral abgelöst ist vom Geschäft, wo sich sozusagen alles in einzelnen Disziplinen zersplittert hat. Man konnte die Atombombe erfinden ohne darüber nachdenken zu müssen, was man damit alles anrichten kann. In der Gentechnik werden gar keine ethischen Gedanken angestellt, es wird einfach alles gemacht, was möglich ist. Und das ist eine hochgefährliche Entwicklung. Und die äussert sich darin, dass man zum Beispiel bei NordStream-2 sagen kann, das wäre eine Privatsache. Das wird ja ganz offiziell, auch von Seiten der Bundeskanzlerin gesagt. Das ist falsch. Ich kann nicht gleichzeitig eine Sanktionspolitik betreiben und Nordstream-1 und jetzt auch noch Nordstream-2 realisieren. Das ist keine Privatsache, das ist eine Frage, die mit den Sanktionen zu tun hat. Wir durchbrechen damit die gesamte Sanktionspolitik.
– Zur Frage des Umgangs von Westeuropa mit Osteuropa: Es wird in den deutschen Medien gerade verstärkt von „Russlanddeutschen“ gesprochen und ihrer Anfälligkeit für russische Propaganda. Ich bin selbst Russlanddeutsche und mich stört dabei die Tatsache, dass es erstens auf den ganzen Demos gar nicht so viele Russlanddeutsche gibt, sondern allgemein Russischsprachige aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion. Und zweitens, dass es in Deutschland um die 6 000 000 Russischsprachige leben und die Demos aber insgesamt um die 10 000 Menschen versammeln konnten. Wir sind sehr gut integriert in die deutsche Gesellschaft, die zweite Generation der Immigranten, die in Deutschland geboren wurde, ist von den Deutschen kaum zu unterscheiden. Und in dieser Hinsicht wirken die Behauptungen der deutschen Presse und ihre Überschriften über „Russlanddeutsche, die gegen Deutschland sind“ doch sehr absurd. Ich finde es empörend.
– Es ist empörend. Also, eins muss man voranschicken. Wir dürfen nicht übersehen, dass es eine grosse, starke, intelligente Schicht von russischsprachigen Immigranten gibt, die heute zu den leistungsführenden Kräften unserer Gesellschaft gehören. Und dies weil die Menschen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion hervorragend ausgebildet worden sind und in unserer Gesellschaft zu Leistungsträgern gehören. Wir haben im Grunde einen Massenexodus von Intelligenz, der in die westlichen Länder gegangen ist. Insofern ist mir wichtig zu sagen, dass die dekadente Haltung, die der Westen gegenüber Osteuropa hat, völlig fehl am Platz ist. Der Westen hat von Osteuropa und seinen Einwanderern absolut profitiert. Ich denke, dass wenn wir in Zukunft ein starkes, kräftiges und solidarisches Europa haben wollen, dann müssen wir uns unsere Dekadenz gegenüber den osteuropäischen Ländern abgewöhnen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es viele Dinge gibt, in welchen wir als westliche Menschen von den osteuropäischen Menschen lernen können. Es ist eine Bereicherung in beide Richtungen. Es wird hier oft so dargestellt, als ob auf der einen Seite die armen osteuropäischen Länder sind, die ständig kein Geld haben und die man permanent unterstützen müsste. Auf der anderen Seite wird aber mit Niedriglöhnen von weteuropäischen Firmen gearbeitet – Osteuropa wird also arm und kleingehalten.
Mir ist regelmässig im Kontakt mit Osteuropäern aufgefallen, dass eine wesentlich grössere kulturelle Bildung besteht, dass sie regelmässig ins Theater gehen, ganze Familien, dass sie selbst deutsche Literatur besser kennen, als ich, dass sie überhaupt in der Lage sind, längere Texte zu lesen, was bei uns gar nicht mehr der Fall ist… Mir ist aufgefallen, dass sie Gedichte auswendig kennen, dass sie sich nicht mit der Interpretation beschäftigen, wie das bei uns üblich geworden ist, sondern mit der Dichtung als solcher. Das sind alte kulturelle Werte, die bei uns teilweise schon in Vergessenheit geraten sind oder zu sehr theoretisiert werden. Die Osteuropäer haben auch einen starken Draht zur Natur, die sie erleben, selbst die Großstädter. Es gibt gewisse Dinge, in welchen die osteuropäische Seele, das osteuropäische Temperament gegenüber dem westlichen klare Vorteile hat: Im punkto emotionale Intelligenz, im punkto Wahrnehmung der Dinge, die zwischen den Zeilen geschrieben stehen… Es geht um Lebenskraft, die uns im Westen teilweise schon abhanden gekommen ist. Der Westen profitiert von der starken geistigen und kulturellen Ausbildung der Osteuropäer, von ihrer emotionalen Intelligenz. Im Kunstbereich, aber auch im Wissenschaftsbereich. Osteuropäer haben in vielen westlichen Ländern Führungspositionen inne und können aus der westlichen Gesellschaft gar nicht mehr weggedacht werden. Wir, die westlichen Demokratien, müssen hier umdenken.
Martin Luithle im Interview mit InformNapalm
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist en Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
CC BY 4.0
2 Responses to “Erkennen der neuen Realität im Umgang von Westeuropa mit der Ukraine und Osteuropa”
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